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Sprache im Alter – Linguist Prof. Lihe Huang ist als Humboldt-Stipendiat zu Gast bei Prof. Annette Gerstenberg

Prof. Lihe Huang von der chinesischen Tongji Universität erforscht die Sprache im Alter.
Foto : Thomas Roese
Prof. Lihe Huang von der chinesischen Tongji Universität erforscht die Sprache im Alter.

Nachmittags zum Englischkurs, abends den Enkeln eine Gutenachtgeschichte vorlesen und dann mit Freunden noch eine Runde Mahjong – was nach einem gemütlichen Lebensabend klingt, könnte ebenso gut ein Therapieplan für Alzheimerpatienten sein. Das legen zumindest die Forschungen des Linguisten Lihe Huang nahe. Er ist Professor an der chinesischen Tongji-Universität, sein Spezialgebiet die sogenannte Gerontolinguistik – die Erforschung von Sprache und Sprachgebrauch im Alter. Er untersucht nicht nur, wie sich beide verändern, wenn wir älter werden oder gar krankheitsbedingt „abbauen“. Gemeinsam mit seinem Team vom „Research Center for Aging, Language and Care“ entwickelt er auch Instrumente, die dabei helfen können, im Alter nicht sprachlos zu werden. Als besonders vielversprechend gelten Fremdsprachenlernen, Sprachpraxis wie Vorlesen und kognitive Aufgaben wie Logikpuzzles oder Strategiespiele wie Mahjong. Im Februar 2024 war Lihe Huang als Humboldt-Stipendiat zu Gast bei der Potsdamer Romanistin Prof. Dr. Annette Gerstenberg, die schon seit Langem zu Sprache im Alter forscht. Mit „LangAge“ hat sie ein eigenes Textkorpus dazu aufgebaut, das Interviews mit älteren Französisch-Sprechenden enthält und weitgehend frei zugänglich ist.

„Chinas Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten stark altern“, sagt der Forscher. Eine Entwicklung, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Herausforderungen mit sich bringt. Mit mehr alten Menschen kommen auch altersbedingte Erkrankungen und Einschränkungen aller Art, die behandelt oder betreut werden müssen. Neben Diabetes, Schmerz- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen dürften Alzheimer, Demenz und Parkinson als typische Übel des Alterns gelten. Letztere wirken sich nicht zuletzt auf unsere Sprachfähigkeit aus. Da setzt Lihe Huang an. „Wir begleiten diese Entwicklung aus linguistischer Perspektive und wollen durch unsere Forschung die Zukunft eines ‚alternden China‘ verbessern.“ Wenn es möglich wäre, beispielsweise Alzheimer an der Sprache von Betroffenen frühzeitig zu erkennen, könnte ihnen schon in den Anfangsstadien der Erkrankung geholfen werden, in denen ihr Fortschreiten wirksam verlangsamt werden kann.

Dafür erfassen und beschreiben die Forschenden die typischen sprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen im fortgeschrittenen Alter, um sie anschließend mit denen von Menschen mit kognitiven Einschränkungen zu vergleichen. „Wir begreifen und erfassen Sprache mit einem sogenannten multimodalen Ansatz“, erklärt der Linguist. Phonetik, Vokabular, Syntax, Semantik und Pragmatik, aber auch nonverbale sprachliche Ausdrücke werden berücksichtigt. Die Interviews mit Freiwilligen sowie deren wissenschaftliche Analyse bilden zusammen das Multimodal Corpus of Gerontic Discourse (MCGD), ein Korpus von Audio- und Video-Daten, das Sprache im Alter dokumentiert. Für das Korpus führen die Forschenden Interviews mit Freiwilligen im Alter zwischen 60 und 100 Jahren. Im Idealfall mehrfach im Abstand von fünf Jahren. Inzwischen sind Daten mit einer Dauer von gut 200 Stunden zusammengekommen.

Ein Vergleich der Daten lässt Rückschlüsse darauf zu, auf welche Weise Alzheimer & Co. mit unserem Denken auch unsere Sprache beeinträchtigen. Viele Betroffene wiederholen sich häufig, Gesagtes und Realität, aber auch die verschiedenen Ebenen des Sprechens passen nicht mehr zusammen. „Gesichtsausdruck und Gesagtes gehen regelrecht auseinander“, so Lihe Huang. „Diese Befunde stimmen mit klinischen Alzheimer-Symptomen überein, z.B. Beeinträchtigungen des Denkens, Störungen der visuell-räumlichen Orientierung und der emotionalen Regulation.“

In einem nächsten Schritt wollen die Forschenden mit den sprachlichen Markern, die sie bestimmten Erkrankungen und Einschränkungen zuordnen können, eine Künstliche Intelligenz trainieren. Diese könnte dann, etwa in Form einer App auf einem Smartphone, im Gespräch mit älteren Menschen regelmäßig testen, ob sie ein erhöhtes Risiko für Alzheimer oder eine andere Erkrankung haben – und einen Spezialisten aufsuchen sollten, um sich genauer untersuchen zu lassen. „Damit könnten wir die Erkrankungen nicht nur frühzeitiger erkennen, als das bisher meist der Fall ist“, so der Wissenschaftler. „Tests anhand der sprachlichen Fähigkeiten sind auch viel einfacher und flächendeckender umzusetzen als bislang übliche Untersuchungen.“ Dies wäre ein wichtiges Instrument für die Versorgung älterer Menschen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung bis 2050 in China, aber auch den meisten Ländern Europas auf mehr als 30 Prozent anwachsen wird. Aus diesem Grund arbeiten Lihe Huang und sein Team auch schon an Instrumenten zur Prävention und Behandlung von Alzheimer & Co. Dabei geht es explizit um nicht-pharmakologische Interventionen, sprich Dinge, die man unabhängig von Medikamenten tun kann. Als besonders vielversprechend gelten verschiedene Wege, das Gehirn und hier vor allem die für Sprachproduktion verantwortlichen Regionen zu trainieren. „Menschen, die viel von ihrer Vergangenheit erzählen und dafür das Gedächtnis aktivieren oder ihren Enkeln Geschichten vorlesen, unterstützen auch ihre sprachlichen Fertigkeiten“, erklärt der Forscher. Die kognitiven Funktionen lassen sich aber ebenso „pflegen“, indem man etwa eine neue Sprache lernt. Das Team vom Research Center for Ageing, Language and Care hat deshalb eigene Schulungsmaterialien für Englisch erarbeitet. Diese vermitteln weniger sprachliche Strukturen und Regeln als vielmehr einfache Mittel, um sich in der neuen Sprache ausdrücken zu können. „Wir wollen den Menschen vor allem die Möglichkeit geben, auf Englisch von ihrem Leben zu erzählen“, so der Linguist.

Die Erforschung der Sprache im Alter ist in China noch vergleichsweise jung. In anderen Ländern wie den USA oder auch Deutschland steht das Thema schon länger auf der Agenda. Deshalb ist der Austausch mit Forschenden weltweit für Lihe Huang auch so wichtig, wie er sagt. „Bereits vorhandene Datensammlungen wie ‚LangAge corpora‘, erstellt von Annette Gerstenberg, haben uns inspiriert.“ Auch den Austausch mit der weltweiten Forschungscommunity zur Gerontolinguistik findet er wichtig. So nimmt seine Arbeitsgruppe im April 2024 an der 6. internationalen „Conference for Language and Aging Research“ (CLARe6) teil, die von Potsdam aus mitorganisiert wird. Bereits dreimal war der Wissenschaftler in Deutschland, in Potsdam war er mit einem Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung im Winter 2024 zum ersten Mal. Er hofft, eine Zusammenarbeit etablieren zu können, von der beide Seiten profitieren.

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Die Tongji-Universität ist eine der ältesten und renommiertesten Universitäten Chinas. Bekannt ist sie insbesondere für Ingenieurwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Architektur. Die Universität wurde 1907 von der deutschen Regierung zusammen mit deutschen Ärzten in Shanghai gegründet.

Das Research Center for Aging, Language and Care an der Tongji-Universität wurde gegründet, um den Fragen der Sprache im Alter und der Erhaltung der kognitiven Fähigkeiten im Kontext des globalen Alterns zu befassen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der alternden Bevölkerung Chinas und den Grenzen der Alternsforschung liegt. Dabei kommen Instrumente und Methode aus Linguistik, Medizin, Gerontologie, Psychologie, Soziologie und Management zu einem multimodalen Ansatz zusammen.
https://de.tongji.edu.cn/

Weitere Informationen:
Journal of Language & Aging Research: https://journals.sub.uni-hamburg.de/hup2/jlar
Conference on Language & Aging Research (CLARe6): https://quantling.org/CLARe6/