Zum Hauptinhalt springen

„Mehrsprachigkeit als Potenzial entdecken“ – Wie wir davon profitieren können, wenn wir von vielen Sprachen umgeben sind

Kinder stehen in einem Kreis zusammen und strecken ihre Hände nach oben.
Foto : AdobeStock/insta_photos
Der Wert von Mehrsprachigkeit sollte noch stärker bewusst gemacht und genutzt werden.

Mehrsprachigkeit hat einen durchwachsenen Ruf: Die babylonische Sprachverwirrung aus dem Alten Testament ist sinnbildlich geworden für den Vorwurf, viele Sprachen würden das Verstehen eher verhindern. Doch Mehrsprachigkeit ist auch in Brandenburg gesellschaftliche Wirklichkeit. Sollte das Mit- und Nebeneinander vieler Sprachen vielleicht doch Vorteile haben? Und wie geht Fremdsprachenunterricht an Schulen und Hochschulen damit um? Matthias Zimmermann sprach mit Christoph Schroeder, Professor für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, und Dr. David Prickett, Leiter des Zentrums für Sprachen und Schlüsselkompetenzen (Zessko), über neue Erkenntnisse zu Mehrsprachigkeit, ihren langen Weg in die Köpfe der Menschen und einen Workshop zum Thema, der am 19. Februar alle Interessierten an der Uni Potsdam zusammenbringt.

Ist Mehrsprachigkeit in Zeiten der Globalisierung nicht etwas ganz Alltägliches?

Schroeder: Sie ist Fakt, aber nicht wirklich akzeptierter als früher. Brandenburg zum Beispiel ist ein mehrsprachiges Bundesland, durch seine Grenze zu Polen, die Sorben im Süden und dank vieler Sprachen im Fremdsprachenunterricht. Aber in den Köpfen der Menschen ist das – vor allem als Wert – noch nicht angekommen. Deshalb hat die Landesregierung vor einiger Zeit die Erstellung eines Mehrsprachigkeitskonzepts in Auftrag gegeben, an dem auch Kolleg*nnen der Universität Potsdam mitgewirkt haben.

Was steht in dem Konzept?

Schroeder: Das Konzept wurde im Bildungsministerium erarbeitet worden und ist zunächst eine Bestandsaufnahme der Sprachlichkeit und der Sprachbildung im Land – von der frühkindlichen bis zur universitären Bildung sowie den Möglichkeiten lebenslangen Lernens. Es bietet aber auch Empfehlungen für Verbesserungen. So sollte die sprachliche Bildung im Land diversifiziert werden, indem etwa kleine Fremdsprachen zugelassen werden. Die Digitalisierung bietet hierfür zahlreiche Hilfsmittel. Außerdem könnte man die Herkunftssprachen von Kindern und Jugendlichen besser in den schulischen Unterricht integrieren und sprachliche (Vor-)Kenntnisse intensiver anerkennen. Zugewanderte Schülerinnen und Schüler könnten etwa Fertigkeiten in ihrer Familiensprache testen und zertifizieren lassen. Es gibt viele Mittel, die dabei helfen, Mehrsprachigkeit als Wert sichtbar und den Menschen bewusst zu machen. Um das auf den Weg zu bringen, wurde vor einiger Zeit ein Rat für Mehrsprachigkeit gegründet, der die Umsetzung dieses Prozesses moderieren soll.

Sie haben einen Workshop „Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit und sprachlicher Variation im universitären Fremdsprachenunterricht“ auf den Weg gebracht, der im Februar an der Uni Potsdam stattfindet. Was soll er bringen?

Prickett: Ausgangspunkt war das 50-jährige Jubiläum des Sprachenzentrums der Freien Universität Berlin im Juni 2023. Am Rande der Veranstaltung sprach ich mit Professor Matthias Hüning von der Freien Universität Berlin, der den Festvortrag „Polyglott und superdivers – aktuelle Perspektiven auf Mehrsprachigkeit“ hielt. Im Vortrag ging es darum, wie Sprachenlehrer*innen – sowohl in den Schulen als auch an den Hochschulen – Mehrsprachigkeit in den Fremdsprachenunterricht besser einbringen könnten. Und dass viele Sprachenlehrer*innen dies auch wollen, wissen aber nicht, wie sie das effektiv umsetzen können. Wir waren uns einig: Das sollten Wissenschaftler*innen in der Linguistik und in der Sprachpraxis im Austausch untersuchen – miteinander, aber auch mit den Studierenden, die es ja wesentlich betrifft.

Schroeder: Die Idee dahinter ist simpel: Fremdsprachenunterricht, egal ob Englisch, Französisch oder eine andere Sprache, ist heute nicht mehr nur die Vermittlung einer Sprache oder Standardvarietät. In jeder Sprache schwingen viele Sprachen oder Variationen mit, ob im Englischen die weltweit entstandenen Ausprägungen oder im Französischen die anderen romanischen Sprachen – und natürlich jeweils regionale Eigenheiten. Das sollte sich natürlich auf das Selbstverständnis der Sprachenlehrer*innen auswirken: Mache ich nur Standardsprache oder muss ich auch andere kommunikative Aktivitäten abbilden? Wie gehe ich mit Akzent um? Ist er ein Problem oder Teil einer sprachlichen Realität? Letzteres verunsichert viele, gerade wenn es um den eigenen Akzent geht. Das erlebe ich häufiger bei unseren Studierenden für Deutsch als Zweitsprache, die selbst aus anderen Ländern kommen und als Kursleiter*innen in Deutschkursen arbeiten. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, den eigenen Akzent zu akzeptieren. Ähnliches beobachten wir bei den Teilnehmenden im Refugee Teachers Program hier an der Uni. Aber warum? Ist das was Persönliches oder schwingt da vielleicht doch was Gesellschaftliches mit?

Prickett: Das Thema ist auch für unsere Lehramtsstudierenden wichtig: Der Rahmenlehrplan spricht nur von britischem und amerikanischem Englisch, alles andere fällt weitgehend raus. Entsprechend wurden auch an der Uni nur die beiden gelehrt. Aber was ist mit anderen Varietäten? Sind australisches, nigerianisches und südkoreanisches Englisch deshalb falsch? Diese Einteilung ist doch realitätsfern und sorgt für Verunsicherung. Das ist mit ein Grund dafür, warum wir den Workshop organisiert haben.

Was wird beim Workshop passieren?

Prickett: Wir wollen vor allem ins Gespräch kommen, deshalb wird er sehr interaktiv sein. Es gibt zwar einen Impulsvortrag von Prof. Dr. Matthias Hüning. Aber anschließend möchten wir vor allem Erfahrungen „einsammeln“. Wir kommen nicht mit Antworten, sondern mit vielen Fragen im Gepäck: Worauf sollten wir uns bei der Arbeit zu Mehrsprachigkeit konzentrieren? Welche Zielgruppen sind besonders wichtig? Welche sprachlichen Kontexte? Was können und wollen wir an der Uni Potsdam, der FU oder anders leisten?

Schroeder: Es gibt sehr viele Themen, über die wir sprechen möchten. Ein Beispiel: In unseren Russischkursen sitzen vermehrt Studierende, die zwar Russisch als Herkunftssprache mitbringen, aber damit schriftsprachig wenig vertraut sind.

Prickett: Fürs Polnische gilt dasselbe …

Schroeder: … und an der FU auch für Türkisch. Das verlangt den Lehrenden neue Perspektiven ab und braucht neue Ansätze in der Fremdsprachendidaktik.

Prickett: Im Zessko haben Kolleg*innen deshalb eine Umfrage unter den UP-Studierenden auf den Weg gebracht. Sie wollen wissen, welche Herkunftssprachen Studierende mitbringen, wo bzw. wie sie diese einsetzen und welche Rolle Herkunftssprachen für ihr Studium spielen. Aktuell werden die Ergebnisse ausgewertet. Diese werden dann eingesetzt, um die Sprachpraxis des Zessko weiterzuentwickeln.

Schroeder: Wir haben den Stein ins Wasser geworfen und wollen – zum Auftakt mit dem Workshop – schauen, was passiert.

Wo steht die Uni Potsdam in Sachen Mehrsprachigkeit?

Schroeder: Ich würde sagen, wir haben schon viel erreicht: Immerhin ist das Thema in Form einer Lehrveranstaltung für alle Lehramtsstudierenden verpflichtend. Das durchzusetzen hat einige Jahre gedauert. Natürlich ist immer mehr möglich. In anderen Bundesländern gibt es ein ganzes Modul dazu. Auf jeden Fall ist es ein Querschnittsthema, das an vielen Stellen mitgedacht werden sollte.

Prickett: Auch in der breiten Sprachenausbildung am Zessko sind wir auf einem guten Weg: Die UNIcert®-Prüfungen sind schon handlungsorientiert und fragen nicht nur Sprachwissen ab. Um die Kommunikation in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen, bringen wir uns beispielsweise auch in der europäischen Hochschulallianz EDUC ein: Die Sprachenzentren der Partnerhochschulen prüfen, wie wir uns gegenseitig unterstützen können, damit die Studierenden die Sprachen so lernen können, wie sie es brauchen.

Was könnte noch besser werden?

Schroeder: Ich wünsche mir, dass Mehrsprachigkeit als Potenzial anerkannt und noch stärker genutzt wird. An der Uni Bielefeld wurden beispielsweise Kurse für Studierende mit türkischem Hintergrund angeboten, in denen sie ihre akademischen und fachsprachlichen Schreibkompetenzen in ihrer Herkunftssprache verbessern konnten. Sie haben mündliche Kompetenzen und wollen sich schriftsprachlich verbessern, um transnational zu arbeiten. Der Bedarf dafür ist groß. Ähnliches kann ich mir für andere Sprachen auch an der Uni Potsdam vorstellen.
Andere Idee: Wie gesagt, scheint der Fremdsprachenunterricht immer noch sehr stark auf die Standardsprache konzentriert. Ich würde es begrüßen, wenn sich das etwas egalisieren und der kommunikative Erfolg gegenüber der grammatikalischen Korrektheit stärker gewichtet würde. Keine Frage: Beim Sprachenlernen steht an zentraler Stelle eine Zertifizierung, die sprachliche Korrektheit bescheinigt. Aber die Wege dahin könnten verschiedener sein, als wir denken. Der Diskurs dazu ist schon länger im Gange, aber ich denke, er braucht immer mal wieder etwas Schwung.

Prickett: Für uns als Sprachenlehrende könnte zudem eine stärkere Differenzierung der Zielgruppen helfen: Wer Englisch, Französisch oder Italienisch als Fach studiert, muss mit Blick auf seinen Abschluss die Sprache beherrschen, also auch die Grammatik. Aber wir wollen auch breite Masse erreichen, die Sprachkurse mit unterschiedlichen Zielen belegen. Das müssen wir bei der Gestaltung der Kurse berücksichtigen. Das dürfte viele Studierenden motivieren, noch mehr Sprachkurse zusätzlich zu ihrem Curriculum zu belegen.
Auch wenn KI in vielen Situationen und Ebenen inzwischen die sprachliche Vermittlung übernimmt, zeigt doch vor allem der direkte Austausch mit anderen Menschen, dass es einen großen Unterschied macht, wenn man sich in einer anderen Sprache selbst verständlich machen kann. In einer anderen Sprache ins Gespräch zu kommen, ist nicht zu ersetzen. Wenn wir das mit unseren Sprachkursen ermöglichen können, leisten wir einen wichtigen Beitrag zum Wesen einer Universität.

Schroeder: Eine Idee, die immer mal wieder auftaucht, ist eine Art Kompetenzzentrum für Mehrsprachigkeit. So etwas kann ich mir als gemeinsame Einrichtung vom Zentrum für Lehrerbildung (ZeLB), Zessko und einigen Professuren sehr gut vorstellen. Das würde auf jeden Fall breiter für Mehrsprachigkeit und das Potenzial, das sie mitbringt, sensibilisieren.

 

Weitere Informationen über den Workshop „Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit und sprachlicher Variation im universitären Fremdsprachenunterricht“: https://www.uni-potsdam.de/de/veranstaltungen/detail/2024-02-19-workshop-zum-umgang-mit-mehrsprachigkeit-und-sprachlicher-variation-im-fremdsprachenunterricht

Der „Rat für Mehrsprachigkeit im Land Brandenburg“ wurde im Mai 2023 ins Leben gerufen. Er sieht seine zentrale Rolle darin, die Umsetzung des „Mehrsprachigkeitskonzepts – Bestandsaufnahme und strategische Weiterentwicklung der Sprachenvielfalt im Bildungssystem im Land Brandenburg“ zu unterstützen, zu evaluieren und wenn nötig nachzusteuern. Dazu kooperieren Vertreterinnen und Vertreter aus Theorie und Praxis. Jede Ratssitzung ist mit einem besonderen Thema befasst. Im Mittelpunkt der jüngsten Sitzung standen die weiteren Bemühungen der Landesregierung in enger Kooperation mit dem Verein für Niederdeutsch im Land Brandenburg e. V. zum Erhalt und zur Pflege des Niederdeutschen. Prof. Dr. Christoph Schroeder wurde im November 2023 für die kommenden zwei Jahre zum Vorsitzenden des Rates gewählt. Er ist seit dem Wintersemester 2007/08 Professor für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und engagiert sich für eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen der Mehrsprachigkeit in allen Aspekten in Lehre, Forschung und Forschungstransfer, ist Mitbegründer des „Zentrums für Sprache, Variation und Mehrsprachigkeit“ an der Universität Potsdam und war intensiv an der Entwicklung des Mehrsprachigkeitskonzepts beteiligt.