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An der Uni zum Abitur – Potsdamer Leibniz-Gymnasium unterrichtet im Botanischen Garten

Biologie-Institut mit Botanischem Garten
Kartoffel im Reagenzglas. Schüler des Leibnizgymnasiums untersuchen im Biologieunterricht an der Uni die Enzymwirkung der Katalase
Foto : Karla Fritze
Biologie-Institut mit Botanischem Garten
Foto : Tobias Hopfgarten
Kartoffel im Reagenzglas. Schüler des Leibnizgymnasiums untersuchen im Biologieunterricht an der Uni die Enzymwirkung der Katalase

Es ist kein Abenteuer, auch kein Experiment, sondern Unterricht! Nur eben nicht in der Schule, sondern inmitten von Sanssouci. Dort eingebettet liegt der Botanische Garten der Universität Potsdam, der seine Gewächshäuser, Freiflächen und Labore zweimal die Woche für das Potsdamer Leibniz-Gymnasiums öffnet. Jeden Montag und jeden Freitag fahren 15 Schülerinnen und Schüler der 11. Klassen quer durch die Stadt, von der Plattenbausiedlung am Stern bis zum Biologie-Institut im Welterbe- Park, um unter ganz besonderen Bedingungen zu lernen.

„Nature of Science“ heißt das Projekt, mit dem das Leibniz-Gymnasium und die Universität Potsdam talentierte Schülerinnen und Schüler fördert und frühzeitig an wissenschaftliches Arbeiten heranführt. Ohne die Inhalte zu ändern, werden andere Wege eingeschlagen, um zum Ziel einer erfolgreichen Abiturprüfung zu kommen. Und dies nicht nur in Biologie und Chemie, was an einem botanischen Ort zu vermuten wäre, sondern auch in Mathematik und Physik, in Englisch und Kunst. „Wir können hier auf unkomplizierte Weise über Fächergrenzen hinweggehen und einzelne Themen von Anfang an interdisziplinär denken“, berichtet Biologielehrer Johannes Goedings und erklärt das am Beispiel einer Pflanze, konkret der Mimosa pudica: „An ihr lassen sich nicht nur Transportvorgänge wie Osmose und Diffusion, sondern auch neurobiologische und enzymatische Reaktionen untersuchen. Im Chemieunterricht spielen Kohlenhydrate und Proteine eine Rolle, in Physik die Energieumwandlung bei der Fotosynthese oder die Wellenlänge des Lichts, das auf die Pflanze trifft.“ Die Mathematik ist gefragt, wenn erhobene Messdaten statistisch ausgewertet und Wachstumsprozesse modelliert werden sollen. Der Englischunterricht, so Goedings, vermittelt das entsprechende Vokabular, um Fachartikel zu lesen. Und die Kunst? „Eine Mimose zu zeichnen oder auch in Nahaufnahme zu fotografieren, schärft die Beobachtungsgabe und ermöglicht zugleich, sich dem Gegenstand mit allen Sinnen zu nähern. Man kann aber auch das Baukonzept, das Design der Pflanze studieren“, ist sich Goedings sicher und träumt bereits von einer Ausstellung in den teils historischen Gewächshäusern des Botanischen Gartens.

Der Lehrer ist glücklich, die Universität als Partnerin für sein Projekt gefunden zu haben. Auf einer Konferenz in Bremerhaven hatte er vor Jahren von der Kooperation einer Schule mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung gehört. Und fing sofort Feuer. Forschendes Lernen! Warum sollte das nicht auch in Potsdam funktionieren, wo so viele wissenschaftliche Institute von Weltrang beheimatet sind wie in kaum einer anderen Stadt? Dazu die Universität!

Michael Burkart, Kustos des Botanischen Gartens, war es, der sich von der Idee anstecken ließ. „Ich fand das von Anfang an prima – ein weiterer Weg, um Jugendliche an die Natur heranzuführen. Es passt sehr gut zu unseren sonstigen Bildungsaktivitäten“, sagt der Biologe und erzählt vom Projekt „Die politische Pflanze“, in dem eine Klasse des Leibniz-Gymnasiums mit Verantwortlichen aus Behörden und Parteien über den Erhalt der Artenvielfalt im städtischen Raum diskutierte. Auch erwartet Michael Burkart positive Effekte auf das „Grüne Klassenzimmer“, ein naturkundlicher Lern- und Erfahrungsraum für alle Altersstufen. „Neue Programme können jetzt vor Ort mit der Schülergruppe vom Leibniz-Gymnasium erprobt werden. Auch eigene Forschungsarbeiten sind denkbar, die unseren wissenschaftlichen Interessen entgegenkommen. Möglicherweise sind ja unter den Jugendlichen künftige Studierende, die dann, wenn sie an der Uni sind, den Botanischen Garten und seine großen Potenziale bereits gut kennen“, sagt der Kustos.

Michael Burkart war es auch, der wichtige Kontakte zur Didaktik der Biologie herstellte. Denn wenn schon Schülerinnen und Schüler regelmäßig zur Uni kämen, um nah an der Wissenschaft zu lernen, sollte auch die Lehramtsausbildung davon profitieren. Inzwischen haben bereits einige Studierende mit der Gruppe gearbeitet: eine Bachelorstudentin referierte zum Thema Nachhaltigkeit, ein Masterstudent zu tropischen Pflanzen. „Da entsteht eine besondere Energie, das ist für alle ein Gewinn“, sagt Johannes Goedings, den die ungezwungene, offene Atmosphäre des Lernorts inspiriert. „Es gibt keine Schulglocke, der Lernprozess ist dann zu Ende, wenn er zu Ende ist. Und in der Pause geht es in einen blühenden Garten.“ Auch seine Kollegen, die sich auf das nicht immer einfache Pendeln zwischen Schule und Uni eingelassen haben, erleben das Projekt als Bereicherung, nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für sich selbst und die ganze Schule. „Wir wissen, was hier möglich ist, und tragen diese Energie und die gewonnene Inspiration zurück ans Leibniz-Gymnasium, wenn wir dort andere Klassen unterrichten“, sagt Goedings.

„Die experimentellen Möglichkeiten sind hier so, dass wir viel tiefer in die Themen einsteigen können“, meint Lena-Isabell Guth, während sie im Labor eine Kartoffel für die Katalasereaktion im Reagenzglas vorbereitet. Die 17-Jährige will später vielleicht einmal Landärztin werden und ist froh darüber, hier im Programm Biologie und Chemie so eng verzahnt lernen zu können. Ihr Mitschüler Ashot Rushanyan erzählt, dass er neugierig auf die Universität ist und sich freut, andere Erfahrungen zu sammeln. Außerdem interessiert ihn alles, was mit Biodiversität zu tun hat. Mitunter motivieren die Jugendlichen sehr konkrete Berufswünsche: Rasmus Fabian will eventuell Meeresbiologie studieren oder Biologie und Englisch auf Lehramt, eine Fächerkombination, auf die das Programm mit den beiden Leistungskursen nicht besser vorbereiten könnte.

„Vor Kurzem gab es eine kleine Fachkonferenz im Institut, da stellte eine Forschungsgruppe aus Tansania ihre Arbeiten vor. Unsere Gruppe durfte spontan mit in den Hörsaal. Die Vorträge waren natürlich auf Englisch. Das motiviert wiederum, die Sprache gut zu lernen“, betont Goedings. „Immerhin bereiten wir ja aufs Abitur und damit aufs Studium vor.“ Solche „authentischen Lernanlässe“ seien durch nichts zu ersetzen.

Inzwischen zieht das Projekt an der Uni Kreise. Neue Kontakte zur Anglistik und Physikdidaktik sind entstanden. Auch die Kunstpädagogik hat Interesse angemeldet, gemeinsam mit den Jugendlichen zu arbeiten. Zusätzlich zu den Elftklässlern kommen alle zwei Wochen auch Kurse aus der neunten und zehnten Jahrgangsstufe vorbei, um einen Nachmittag lang Pflanzen zu bestimmen, zu mikroskopieren, Wasserproben zu untersuchen oder in der Natur zu zeichnen. Einige von ihnen werden sich dann möglicherweise für das Förderprogramm in der gymnasialen Oberstufe bewerben. „Das Auswahlverfahren ist nicht ohne“, sagt Johannes Goedings. Wer einen der 15 Plätze ergattern will, muss nicht nur an Naturwissenschaften interessiert, sondern auch leistungsbereit sein. „Zu einem Drittel schauen wir auf die Noten. Aber das ist nicht alles. Manchmal versteckt sich hinter nicht ganz so guten Zensuren ein kluger Kopf, der interessante Fragen stellt. Deshalb testen wir die Jugendlichen, wie flexibel, problemorientiert und kreativ sie denken. Und dann wollen wir natürlich in einem Gespräch herausfinden, was sie antreibt, warum sie an dem Programm teilnehmen wollen.“ Nicht zuletzt ist Teamfähigkeit gefragt, denn wie im realen Forschungsleben werden hier Probleme nur in der Gruppe gelöst.

Messbare Ergebnisse sind wie in jedem anderen Schulunterricht gefordert, schließlich stehen am Ende die ganz normalen Abiturprüfungen. Das Bildungsministerium hat das Programm genehmigt und ist – wie alle Beteiligten – an Resultaten interessiert. Ob und wie sich „Nature of Science“ auf andere Schulen übertragen lässt, wird die Evaluierung zeigen, in die die Jugendlichen und ihre Eltern genauso einbezogen werden wie die Lehrkräfte und die Universität. Noch stehen alle am Anfang. Aber Johannes Goedings ist voller Zuversicht. „Das Programm in Bremerhaven läuft schon 20 Jahre. Viele, die daran teilnahmen, gingen anschließend zur Uni. Und die Zahl derjenigen, die ihr Studium abbrachen, tendiert gegen Null.“

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Transfer - 2022/2023 (PDF).