Zum Hauptinhalt springen

Ein Leben lang erforscht – Die LifE-Langzeitstudie wird zur Familienstudie

Eine glückliche Familie von drei Generationen steht in einem Park.
Foto : AdobeStock Mediteraneo
Die LifE-Langzeitstudie nimmt als Life3G Studie drei Generationen in den Blick.

Wissen Sie noch, wie es Ihnen als Kind ging? Waren Sie schüchtern, glücklich, neugierig, ehrgeizig? Welche Träume hatten Sie? Welche davon haben Sie wahrgemacht? Forschende der Potsdamer Bildungsforschung wollen es genau wissen. Mit der „LifE“-Studie verfolgen sie die Lebensläufe von rund 1.400 Menschen mithilfe von Befragungen. Die Studie geht mittlerweile ins fünfte Jahrzehnt – und fördert erstaunliche Erkenntnisse zutage. Matthias Zimmermann sprach mit dem Leiter der Studie, Prof. Dr. Wolfgang Lauterbach über außergewöhnliche Projekte, ihren Transfer ins digitale Zeitalter und Lieblingskinder.

Was ist die LifE-Studie?

Die LifE3G Studie ist eine Langzeitstudie, bei der die Lebensverläufe einer Geburtskohorte über 33 Jahre verfolgt werden. Bei der ersten Befragung im Jahr 1979 waren die TeilnehmerInnen 12 Jahre alt. Sie wurden bis heute insgesamt 7 Mal befragt: vier weitere in der Jugend, die sechste und siebente Befragung im Alter von 35 und 45 Jahren. Dies geschah in den Jahren 2002 und 2012. Im kommenden Jahr 2024 soll die 8. Erhebung, wenn die Befragten 57 Jahre alt sind.

Die Studie läuft seit 1979. Ist das nicht einzigartig?

Es gibt international gesehen natürlich Langzeitstudien, aber nur sehr wenige. Einzigartig an der Life3G Studie ist, dass sie Lebensverläufe vom Kindesalter an untersucht. Die meisten anderen Studien beginnen erst im Alter von 18 bis 20 oder decken gar nur das Jugendalter und das junge Erwachsenenalter bis 35 ab. Einzigartig ist auch, dass wir die unterschiedlichsten Lebensbereiche erfragen: bspw. Bildungs- und Berufsverläufe, Persönlichkeitseigenschaften, Partnerschaftsverläufe, Ängste und psychisches Wohlbefinden, Gesundheitsverhalten, die schulische Leistung in der Kindheit. Daher ist es sicher richtig zu sagen, dass es die Breite der Themenbereiche so in einer Studie in Deutschland nicht noch einmal gibt.

Wie funktioniert die wiederholte Befragung der Beteiligten?

Das ist durchaus herausfordernd: 1979 wurden die Kinder und Jugendlichen persönlich befragt und in der Schule beobachtet; außerdem erhielten sie Fragebögen mit nach Hause. Die Erhebungen 2002 und 2012 erfolgten klassisch, wie in den Sozialwissenschaften üblich, als „paper and pencil“-Befragungen. Die Fragebögen wurden gedruckt und an die Respondenten geschickt. Für den neuen Durchlauf wird es eine Onlinebefragung geben. Bei Panelbefragungen kann man durch den Klebeeffekt sehr gut diesen Zugang wählen. Ein riesiger Vorteil ist die schnelle Verfügbarkeit der Daten. Außerdem haben wir die Studie erweitert: Wir befragen nicht mehr nur unsere mittlerweile 57jährigen TeilnemerInnen, sondern auch deren Kinder. Damit erweitern wir die Kohortenlängsschnittstudie zu einer Familienstudie bzw. einer Generationen- und Geschwisterstudie. Deshalb auch das „3G“ im Namen der Studie – drei Generationen. Wir wollen 1400 Erwachsene der ersten Kohorte befragen – und im besten Fall ca. 1400 Kinder dazu. Wir schätzen, dass wir insgesamt ca. 400 Familien mit allen Kindern „zusammenbekommen“. Das ist absolut selten, wenn nicht einmalig. Nicht zuletzt ist der Wechsel zur Online-Befragung unserer Zielgruppe geschuldet: Das Gros der Kinder, die wir jetzt befragen wollen, sind zwischen 12 und 30 alt – und sehr internetaffin. Daher haben wir uns entschieden, die Befragung komplett online durchzuführen, auch für die Eltern. Damit alle zurechtkommen, haben wir sie für verschiedene Endgeräte programmiert. Wir selbst, aber auch unsere Kollegen und Kolleginnen aus Bern, Vancouver und London mit denen wir zusammenarbeiten, haben bereits Erfahrungen damit gesammelt.

Die Ergebnisse werden regelmäßig veröffentlicht. Können Sie uns ein paar besonders wichtige und überraschende Ergebnisse aus den – inzwischen schon jahrzehntelagen – Auswertungen nennen?

Wir haben natürlich immer wieder Ergebnisse veröffentlicht. (https://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2014-07-08-im-lauf-des-lebens) Daher hier vielleicht nur drei möglicherweise überraschende Beispiele. Wir leben in einer Zeit, in der sich das Motto des lebenslangen Lernens scheinbar durchgesetzt hat. Wenn man Menschen mittleren Alters fragt, ob sie an Weiterbildungen teilnehmen würden, dürfte eine große Mehrheit mit ja antworten. Wenn man aber überprüft, wer es dann auch tut, trennt sich diese Mehrheit in zwei Gruppen: Die einen möchten gern teilnehmen, machen es aber nicht, die anderen tun es auch. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass bei denjenigen, die es „nicht tun“, sich auch Erfahrungen aus der Schulzeit bis weit in spätere Lebensphasen auswirken. Jene, die schon in der Schule Prüfungsangst hatten, sich nicht zu melden trauten usw., werden später im Leben auch Weiterbildungen meiden. Sie haben Angst vor schulischen Situationen. Da kann man Weiterbildungen noch so stark bewerben, sie werden daran nicht teilnehmen.

Ein anderes Ergebnis betrifft den Zusammenhang von Selbstvertrauen, Intelligenz, Bildung und Berufsweg. Konkret geht es darum: Was wird aus klugen, leistungsstarken Kindern und was aus selbstbewussten, durchsetzungsfähigen? Wie wirkt sich das später aus? Wer wird gut angesehen, wer verdient gut? Und es zeigt sich, dass Kinder, die intelligent und gut in der Schule sind, in eher schwierigen, angesehenen Berufen erfolgreich sind. Anders sieht das mit Blick auf den Verdienst aus: Wer ein hohes Einkommen erreicht, muss nicht unbedingt intelligent (gemessen mit einer Skala zur verbalen Intelligenz) gewesen sein. Vielmehr muss diese Person selbstbewusst sein, der Glaube an Durchsetzungsfähigkeit und Leistung muss vorhanden sein – und die Offenheit Neuem gegenüber.

Ein spannender dritter Befund betrifft das Wohlbefinden (Depression, Selbstwertgefühl und allgemeine Lebenszufriedenheit), in Abhängigkeit vom Partnerschaftsverlauf. Wir arbeiten hier mit Sequenzanalysen und Turbulenzindikatoren, die über den Lebensverlauf gebildet werden. Die allgemeine Lebenszufriedenheit und die Selbstwirksamkeit der Männer nimmt vor allem dann ab, wenn sie alleinstehend sind, also über die gesamte Beobachtungszeit hinweg ohne oder sehr lange ohne Partnerin leben. Frauen leiden vor allem an Instabilität – etwa durch häufig wechselnde Partnerschaften, in denen sie nicht mit dem Partner zusammenwohnen. Wenn Frauen aber in einer festen Partnerschaft mit einer gemeinsamen Wohnung leben, steigt die Lebenszufriedenheit wieder stark an, selbst wenn sie in früheren Lebensphasen häufige Partnerwechsel hatten.

Im Projekttitel ist von einer „Erweiterung“ die Rede. Was ist jetzt anders oder neu hinzugekommen?

Die Fragebögen der ursprünglichen Kohorte bleiben zu gut zwei Dritteln gleich. Schon, um eine Vergleichbarkeit der erhobenen Daten zu gewährleisten. Gleichzeitig haben sich ihre Lebensumstände im Laufe der Zeit verändert: Die Meisten sind jetzt Mitte der 50er Jahre, befinden sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, haben Familie, fangen vielleicht schon an, sich um ihre Eltern zu kümmern. Dafür braucht es die passenden Fragen. Nicht zuletzt deshalb ist jetzt auch die Medizinsoziologin Prof. Dr. Pia-Maria Wippert von unserer Universität im Team, die dabei hilft, diese Teile neu zu entwickeln. Ein anderes Beispiel was hinsichtlich der Erweiterung im Mittelpunkt steht betrifft die „3G“, als die Geschwister, die wir in den Mittelpunkt stellen wollen. Eltern sagen ja bspw. gern, sie würden all ihre Kinder gleich lieben. Erste Befunde aus qualitativen Studien legen aber nahe: Es gibt durchaus so etwas wie Lieblingskinder. Auf jeden Fall lassen sich Unterschiede in Bezug auf das Investment der Eltern in die Kinder vermuten und auf die Abgrenzung der Kinder untereinander. Erstgeborene gelangen etwa beruflich eher in einkommensstarke, hohe Positionen, während Drittgeborene deutlich häufiger in weniger verantwortungsvollen Positionen tätig sind, stattdessen zu unsicheren Berufen „greifen“, bspw. Künstler werden. Verkürzt könnte man sagen, Erstgeborene grenzen sich gegen die Zweiten ab, die wiederum versuchen, die Ersten einzuholen – und die Dritten gehen in ganz andere Richtungen. Wir hoffen, durch unsere Befragung Daten zu rund 400 vollständigen Familien zu haben. Wenn das klappt, sind solche Analysen möglich und auch belastbar.

Die aktuelle Förderung läuft bis 2026. Hat das Projekt irgendwann ein Ende oder soll es immer weiterlaufen?

Was die Befragten der Kohorte angeht: Wir begleiten sie, bis sie sterben. Im 20 Jahrhundert gab es die berühmte Terman-Studie, die den Lebensweg von hochbegabten Kindern in den USA, Kalifornien untersuchte. Diese wurde fortgesetzt, bis der letzte Proband gestorben war. Ob wir das auch schaffen, weiß ich nicht. Jetzt haben wir „LifE3G“. Ich denke, es wäre toll, wenn wir das weiterverfolgen können. Aber das muss dann jemand Jüngeres aus einer anderen Generation machen. Ich kann dann ja als „Senior Advisor“ mitmachen. Das Projekt ist so angelegt, dass es die Lebensdauer eines Forschenden überschreitet. Der Forscher, der die Befragung begonnen hat, lebt noch, ist inzwischen über 82 Jahre alt. Irgendwann scheide ich aus und jemand anders übernimmt. Dann haben drei Generationen von Forschenden dran gearbeitet. Let’s hope …

Das Projekt

Titel: „LifE3G – Lebensverläufe von der Kindheit ins späte Erwachsenenalter im Kontext von drei Generationen. Fortsetzung und Erweiterung der Drei-Generationen-Längsschnittstudie“

Beteiligt: Prof. Dr. Wolfgang Lauterbach, Prof. Dr. Fred Berger, Universität Innsbruck (Leitung); Jana Jung, M.A., Johanna Turgetto, M.A., Dr. Steve R. Entrich, Dr. Urs Grob, Alica Bremer, Sören Freisem, Lena Marquardt

Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Laufzeit: 1979–2026

https://www.uni-potsdam.de/de/life-studie/