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Europa wachsen helfen – Warum Jürgen Lewerenz ein Forschungsstipendium an der Universität Potsdam stiftet

Jürgen Lewerenz
Foto : Thomas Roese
Jürgen Lewerenz unterstützt mit einem Stipendium Studierende dabei, die osteuropäische Genossenschaftsgeschichte zu erforschen.

Das Leben schreibt die besten Geschichten. Lust, eine zu lesen? Die Fakten: Die Universität Potsdam hat ein neues Stipendium. Das ab sofort ausgeschriebene Forschungsstipendium ist mit monatlich 1.000 Euro dotiert und läuft ein Jahr. Es richtet sich an Studierende, die sich wissenschaftlich mit dem Thema Genossenschaftswesen in Osteuropa befassen (wollen). Finanziert wird es von der Stiftung „Livländische Gemeinnützige“. Diese hat sich der Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie der Volks- und Berufsbildung und der Entwicklungszusammenarbeit zwischen und mit den EU-Ländern an der östlichen Ostsee verschrieben – und ihr Wirkungsgebiet seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgedehnt.

Na gut, die Geschichte. Die Kurzfassung in Orten: Von Königsberg über Düsseldorf und Berlin nach Kolumbien. Anschließend von Bonn nach Brüssel, ins Baltikum und nach Potsdam, dort schließlich an die Universität. Noch zu trocken? Dann eben nochmal von vorn. Die Universität Potsdam hat ein neues Stipendium. Gestiftet wird es von Jürgen Lewerenz. Der Wahl-Potsdamer hat es eingerichtet, weil er persönliche Beziehungen hat – zu Genossenschaften, den baltischen Staaten und Europa. Und weil er sich sicher ist: Der Weg in eine europäische Zukunft führt, gerade für die baltischen Staaten und die Ukraine, auch in die Vergangenheit. Denn dort hat er Gemeinsamkeiten gefunden, die beim Zusammenwachsen helfen könnten. Gemeint ist das Genossenschaftswesen. Banken, große Wohnungsbau-, Landwirtschafts- und sogar Industrieunternehmen: Genossenschaften gibt es in fast allen Lebensbereichen. Und eben auch in vielen europäischen Ländern. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts breiteten sie sich überall in Europa – West und Ost – aus. In Deutschland trat 1889 ein Genossenschaftsgesetz in Kraft, das, – mehrfach überarbeitet, – bis heute gilt. Die Idee, den sozialen Problemen des Kapitalismus durch genossenschaftlich organisierte Selbsthilfe zu begegnen, machte in vielen Ländern Schule. „Selbst im zaristischen Russland gab es ein sehr entwickeltes Genossenschaftssystem. Im Frühjahr 1917 wurde noch ein Genossenschaftsgesetz für das Reich auf den Weg gebracht“, erklärt Jürgen Lewerenz. „Das Genossenschaftswesen ist eine Form des demokratischen Wirtschaftszusammenlebens – und zwar eine, die Europa geprägt hat!“ Wenn es nach Lewerenz geht, könne sie das auch künftig tun und dabei gerade den osteuropäischen Staaten die Integration in das politische und gesellschaftliche Projekt der Europäischen Union erleichtern. „Genossenschaften sind ein sehr gutes Instrument, mit dessen Hilfe man demokratische Praktiken üben kann.“ Mit ihrer Hilfe könne auch die Ukraine – nach dem Ende des Krieges – enger an Europa heranwachsen.

Jürgen Lewerenz weiß, wovon er spricht. Denn mit Genossenschaften kennt er sich aus, sie haben ihn sein Leben lang begleitet. Und er sie. Schon die Eltern des 1936 in Königsberg Geborenen waren in einer genossenschafts-ähnlichen Gegenseitigkeitsbank tätig gewesen. Während des Zweiten Weltkrieges siedelte die Familie nach Düsseldorf um. Hier trat Lewerenz 1953, nach dem frühen Tod seines Vaters, als Lehrling in die Bank für Gemeinwirtschaft ein. Wenig später zog die Familie nach Berlin, der Bankkaufmann holte an der Abendschule das Abitur nach, schloss ein Studium ab und ging dann zur Bundesbank. „Das war anstrengend und spannend. Aber das Bankwesen war mir, ehrlich gesagt, auf Dauer zu langweilig“, sagt er und lacht. Als sich die Gelegenheit bot, im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung nach Kolumbien zu gehen, zögerte er nicht lange und ließ sich für den „Außendienst“ beurlauben. Als „langer Arm der deutschen Außenpolitik“ reiste er durchs Land, beriet Genossenschaften aller Art. Dass es letztlich 25 Jahre werden würden, wusste er da noch nicht. Denn nach seiner Rückkehr schloss sich Lewerenz dem Entwicklungsministerium an – und ging postwendend zurück nach Lateinamerika. „Ich habe geholfen, Genossenschaften aufzubauen, zu führen und vor dem Untergang zu bewahren.“ Nach dem Fall der Mauer wechselte er als „National Expert“ nach Brüssel und wurde, in Geldfragen kundig, als EU-Langzeitberater für den Wiederaufbau der estnischen Zentralbank eingesetzt. „Erfahrungen gab es vor Ort keine, der neue Zentralbankchef war zuvor Komsomolleiter gewesen“, sagt Jürgen Lewerenz. „Aber wir haben innerhalb kürzester Zeit ein Währungssystem aus dem Boden gestampft – nach dem Vorbild der deutschen Währungsreform 1948. Die war ja bekanntermaßen auch erfolgreich.“ Während seiner Zeit im Estland hat Lewerenz auch seine Leidenschaft für die Geschichte des Genossenschaftswesens in Osteuropa entdeckt und gepflegt. Er durchforstete Archive und Bibliotheken, verfasste ein Buch zur Geschichte der „Banken im Baltikum“. Und war sich sicher: Das ist erst der Anfang. „In den baltischen Archiven lagern zahlreiche Dokumente, Bücher und Unterlagen zur Geschichte der Genossenschaften in den baltischen Ländern. Doch viele davon sind auf Deutsch verfasst, das hier kaum jemand mehr spricht, sodass sie nicht ausgewertet werden.“ Der mittlerweile pensionierte, aber passionierte Europäer wollte das ändern: 2011 gründete er die Stiftung „Livländische Gemeinnützige“. Deren Name erinnert an das Wirken der 1792 in Riga gegründeten, 1806 in die livländische Universitätsstadt Dorpat (estnisch Tartu) verlegte und 1940 untergegangene „Livländische Gemeinnützige und Ökonomischen Sozietät“. Mit dieser arbeitet er seitdem darauf hin, die verstecken Archiv-Schätze zu heben und Licht ins weitgehende Dunkel der osteuropäischen Genossenschaftsgeschichte zu bringen.

Das neue Forschungsstipendium an der Universität Potsdam soll dabei helfen. Junge Forschende können mit seiner Hilfe „die Analyse von Dokumentationen (nutzbares Kulturerbe) über die bis zum Ende des Russischen Reiches präsenten Genossenschaften und ihre (bis 1940 andauernde) Fortsetzung in den unabhängig gewordenen baltischen Ländern und in der Ukraine“ voranbringen, so die Ausschreibung. Und im besten Fall „aus deren Geschichte Leitideen für die Zukunftsgestaltung der genannten Länder“ ableiten.

Jürgen Lewerenz’ eigene Geschichte ging übrigens noch weiter: Zwei Jahrzehnte lang wohnte er im Sommer in Estland, im Winter in Deutschland. Doch nach dem Tod seiner Frau ging er zog er zurück nach Deutschland, in die Hauptstadtregion, wohin er seit 1939 Verbindungen hat. Seitdem lebt er in Potsdam, widmet sich Forschung und Stiftungsarbeit. Bei einem gemeinsamen Spaziergang machte ihn eines Tages sein ältester Freund, den er seit der Zeit in Lateinamerika kennt, auf einen Zeitungsartikel aufmerksam. In diesem ging es um die von dem Potsdamer Slavisten Prof. Alexander Wöll initiierte Denkfabrik „Translating EVROPA“, in der engagierte Studierende ungewöhnliche Projekte bearbeiten, die dabei helfen sollen, die Dynamik aus Stabilität und Krise in Osteuropa zu verstehen. Das brachte ihn auf eine Idee …

 

Weitere Informationen:

Zum Stipendium: https://www.uni-potsdam.de/de/universitaetsstipendium/sonderforschungstipendium

Zur Stiftung Livländische Gemeinnützige: https://www.livlaendische-gemeinnuetzige.org/