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„Wir erkennen an, dass Tiere Individuen sind“ – An der Universität Potsdam untersuchen Forschende die Persönlichkeiten wildlebender Tiere

Verhaltensexperiment mit freilebenden Wühlmausen.
Foto : Dr. Valeria Mazza
Verhaltensexperiment mit freilebenden Wühlmausen.

Jana Anja Eccard kennt ihre Mäuse gut. Seit 27 Jahren erforscht sie das Verhalten der kleinen Nagetiere in zahlreichen Experimenten, sowohl im Labor als auch in ihrem natürlichen Lebensraum. Besonders interessieren sich die Professorin und ihr Team der AG Tierökologie für die Unterschiede zwischen den Individuen einer Art, für Tierpersönlichkeiten. Ein Ansatz, der in der Ökologie immer noch neu ist. „Die Ökologie hat lange Zeit mit den durchschnittlichen Merkmalen von Arten gearbeitet“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Individualität war eher ein störendes Hintergrundrauschen. Wir erkennen an, dass Tiere Individuen sind, und richten unsere Forschungsfragen bewusst danach aus.“

In den letzten Jahren sind die Forschenden noch einen Schritt weitergegangen. Eccard und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Valeria Mazza nehmen nun individuelle Unterschiede bei wildlebenden Populationen ins Visier – auch das ist Pionierarbeit. Die jedoch dringend nötig ist, hatten Tests im Labor bisher doch die ökologische Bedeutung der Verhaltensvariation kaum einbezogen. „Wir versuchen zunehmend, mit wilden Tieren zu arbeiten“, sagt Eccard. „Es ist wichtig zu verstehen, wie sie mit den Veränderungen in der Welt umgehen. Wie etwa Verstädterung, Eingriffe in Landschaften, Klimaveränderungen, neue Arten, die einwandern – für all das ist die individuelle Merkmalskombination wichtig. Manche Teile von Populationen werden sich daran besser anpassen können als andere und wir würden gerne verstehen, warum.“

Doch was sind überhaupt Persönlichkeiten in der Welt der Mäuse? Die Forscherinnen arbeiten mit Verhaltensmerkmalen, die an das Konzept von fünf Persönlichkeitseigenschaften in der Psychologie angelehnt und für jede Art spezifisch sind. Sie unterscheiden aktive und zurückhaltende Mäuse, ängstliche und mutige, aggressive und friedliche, explorative und weniger neugierige sowie Individuen, die die Nähe ihrer Artgenossen suchen, und solche, die sie eher meiden. „Nur, weil Tiere zu einer bestimmten Art gehören, heißt das nicht, dass sie alle gleich auf Reize reagieren“, sagt Valeria Mazza. „Wir denken, dass die Variation in ihren Verhaltensantworten Individuen beschreibt.“

Invasion auf Irland

Jana Anja Eccard und Valeria Mazza schauen sich dafür in ihren Forschungsprojekten das Verhalten wildlebender Wühlmäuse an, und zwar sowohl von gebietsansässigen als auch von expandierenden Populationen. Im Sommer 2019 hatten die Forscherinnen die einmalige Gelegenheit, eine laufende biologische Invasion einer Nagetierart zu beobachten: „Wir haben eine unserer Lieblingsarten in Mitteleuropa, die Rötelmaus, bei ihrer Expansion auf einer Insel, nämlich Irland, untersucht. So eine Chance bietet sich uns Tierökologinnen nur selten“, sagt Eccard. Denn die meisten Invasionen von Säugetieren, wie den Ratten oder Hausmäusen, seien bereits abgeschlossen. Die Erkenntnisse der Forscherinnen über das Verhalten der sich in Irland ausbreitenden Rötelmäuse sind für die Invasionsbiologie daher von großer Bedeutung. Die Art ist vor 100 Jahren eingeschleppt worden und blieb bis in die 1950er Jahre unbemerkt. Sie breitet sich mit ein bis zwei Kilometer pro Jahr aus und hat jetzt schätzungsweise knapp die Hälfte Irlands besiedelt. Eccard und Mazza verglichen für ihre Forschung die Population am Rande der Ausbreitungszone in der Mitte der Insel mit der Population im Ursprung der Ausbreitung in Westirland – also dem Gebiet, in dem sie vor 100 Jahren angekommen waren.

Die Experimente auf der Insel waren aufwendig doch die Forscherinnen konnten auf ihre langjährige Erfahrung mit Verhaltensversuchen zurückgreifen. Bis dahin waren die Wühlmäuse nur von Parasitologinnen und Parasitologen untersucht worden, für ihr Verhalten hatte sich niemand interessiert. „Wir haben ganz viel Material in den Wald geschleppt, was nur möglich war, weil wir mit dem Trinity College in Dublin zusammengearbeitet haben“, erzählt Eccard. Rund um ein Zelt stellten die Forscherinnen Fallen auf. Alle darin gefangenen Tiere absolvierten im Zeltinneren eine Reihe von Tests. Drei Tage lang und dann noch einmal drei Wochen später durchliefen die insgesamt 200 Rötelmäuse die Experimente, die meisten von ihnen mehrmals. Denn den Persönlichkeitsindex eines Tieres können die Ökologinnen nur durch Testserien berechnen. „Persönlichkeit ist durch Konstanz in verschiedenen Zusammenhängen sowie Konstanz durch die Zeit definiert, sodass Verhaltenseigenschaften sich also in unterschiedlichen Kontexten und über kurze Zeit nicht verändern“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Jedes Mal, wenn wir die Mäuse fangen, fragen wir sie erneut: Gehörst du noch zu den Mutigsten? Zählst du immer noch zu den wenig aktiven Tieren?“

Zuerst machten die Wühlmäuse bei einem Hell- Dunkel-Test mit, der ihre Risikofreude erfassen sollte: Wie viel Zeit nimmt sich das Tier, um aus der sicheren, dunklen Falle in eine helle, offene Arena zu gehen? Im zweiten Test beobachteten die Wissenschaftlerinnen, wie sich die Maus in der Arena, die einen Durchmesser von 1,20 Meter hat, verhält. Geht sie vorsichtig an der Wand entlang oder läuft sie mutig durch die Mitte und exponiert sich damit gegenüber Fressfeinden? Bewegt sie sich in den fünf Minuten, die der Test dauert, neugierig durch die Arena oder verharrt sie in einer Ecke? Beim dritten Test wurden die Tiere über ein einfaches Labyrinth freigelassen: Es gab mehrere mögliche Ausgänge – einer führte in die Freiheit, die anderen waren verschlossen. Hier untersuchten die Forscherinnen eine Kombination aus Orientierung, Sicherheitsbedürfnis und Flexibilität.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Tiere am Rande der Ausbreitungszone sehr viel vorsichtiger und auch sehr viel flexibler sind als im Zentrum, wo die Tiere eher mutig und unflexibel in ihrer Verhaltensantwort waren. „Wenn es darum ging, unbekanntes Terrain zu erkunden, waren die Wühlmäuse am Rande der Ausbreitung langsamer und vorsichtiger“, sagt Valeria Mazza. „Sie sind sogar beim Sprung aus dem Labyrinth ins eigene Habitat vorsichtig gewesen“, ergänzt Eccard. Dies sei auch in den Experimenten ähnlich gewesen, an denen die Mäuse vor der Freilassung teilgenommen hatten. „Unsere vorsichtigen Kandidaten an der Kante der Ausbreitung besuchten immer wieder denselben Ort. Anfangs dachten wir, sie machten ‚Fehler‘, weil sie schon in den Behältern gewesen waren und wussten, dass es keinen Ausweg gab. Doch dann kamen wir darauf, dass sie alles gründlicher prüfen, bevor sie eine Entscheidung treffen.“ Schließlich haben sie es im Vergleich zu den ansässigen Populationen mit viel mehr unbekannten Gefahren zu tun.

Vorsicht als Lebensversicherung

Eccard erklärt das Verhalten durch die unterschiedlichen „Selektionsdrücke“ während der Expansion: Während es in einem etablierten Gebiet um Konkurrenz mit Artgenossen gehe, komme es an der Ausbreitungsgrenze darauf an, in der Umwelt und gegenüber anderen Arten erfolgreich zu sein und vielleicht ein neues Territorium zu besetzen. „Die Fähigkeit, sich an die natürlichen Gegebenheiten anzupassen, ist für das Erkunden neuer Räume ganz wesentlich. Wir waren davon ausgegangen, dass Expansion etwas mit Mut zu tun hat – das war wohl eine ziemlich anthropozentrische Perspektive. Wahrscheinlich geht es vielmehr darum, nicht gefressen zu werden.“ Denn die Forscherinnen vermuten, dass es gerade die Vorsicht der Nagetiere ist, die ihnen in unbekannten Habitaten zugutekommt: „Nager sind unglaublich erfolgreiche Kolonisierer“, so die Professorin. „Gleichzeitig haben sie viele Fressfeinde und Vorsicht ist da eine Lebensversicherung.“ Valeria Mazza zufolge ist diese Strategie bei Arten, die neue Gebiete erobern, selten. „Wir wissen von anderen expandierenden Arten, dass sie an der Ausbreitungsgrenze schneller und mutiger sind“, sagt Mazza. „Unsere Wühlmäuse, die so viele Fressfeinde haben, verfolgen die gegenteilige Strategie: Sie sind vorsichtig und prüfen Informationen genau.“

Sobald die ganze Insel von den Wühlmäusen besiedelt sein wird, werden die Unterschiede zwischen dem Zentrum und der Ausbreitungskante langsam verschwinden. Ihre besondere Vorsicht und Flexibilität werden die Tiere am Rand nicht länger erfolgreich machen. „In weiteren 50 Jahren werden wir dieses Verhalten nicht mehr sehen“, sagt Eccard. Die Veränderung der Artengemeinschaft bedeutet für tagaktive Fressfeinde übrigens einen Zugewinn. Denn die eingewanderten Rötelmäuse sind tagaktiv, während die ansässigen Waldmäuse nachts aktiv werden. „Mit Videokamerafallen untersuchen wir derzeit, ob die Art, die schon vorher da war und sich nun den Raum mit der Rötelmaus teilen muss, ihre Aktivitätsspitze ein bisschen verschiebt. Dazu führen wir gerade im Rahmen einer spannenden Masterarbeit eine Studie durch.“ Das Team der AG Tierökologie arbeitet gerne mit nicht-invasiven Methoden wie Kamerafallen – und setzt auf die freiwillige Teilnahme der tierischen Probandinnen und Probanden. „Wir wollen, dass die Tiere selbstständig die Besuchsarenen betreten und Probleme lösen.“ Denn bei Problemlösungsstrategien, einem Spezialgebiet von Valeria Mazza, finden sich starke Persönlichkeitsunterschiede.

„Problemlösungstests sollen uns etwas über die Fähigkeit von Tieren verraten, neue Verhaltensweisen zu zeigen“, erklärt Mazza. Die Wissenschaftlerin spricht von „tierischer Innovationsfähigkeit“. Kognition, Persönlichkeit und Flexibilität sind wiederum entscheidend dafür, ob ein Tier die Fähigkeit hat, auf veränderte Bedingungen mit Verhaltensweisen zu reagieren, die die Forschung von einer Art bisher nicht kannte. „Diese Fähigkeit ist sehr hilfreich, wenn eine Art ihr angestammtes Gebiet verlässt“, so die Biologin. „Kognitive Flexibilität erlaubt es den Tieren, vor Ort zu entscheiden, was die beste Strategie ist, um den Herausforderungen der Umwelt zu begegnen.“ Besonders wichtig sei dies bei den plötzlichen Veränderungen, die Menschen verursachen. Weil Verhaltensinnovationen von Tieren in der Natur empirisch aber gar nicht so leicht zu untersuchen sind, setzen die Forscherinnen eine „Puzzle-Problemlösungsbox“ ein. Entwickelt wurde sie von Dr. Anja Guenther vom Max-Planck- Institut für Evolutionsbiologie, und zwar ursprünglich für Hausmäuse im Labor. Mazza und Eccard nutzen die Testbatterie inzwischen aber auch für Wildtiere. „Wenn wir uns kognitive Flexibilität ansehen wollen, reicht es nicht, nur zu schauen, was unter Laborbedingungen geschieht“, erklärt Valeria Mazza.

Die Forscherinnen arbeiteten mit Tieren in Berlin, Potsdam, Gülpe und in der Uckermark – hatten also sehr unterschiedliche Verstädterungsgrade in der Region im Blick. Außerdem waren mit der Brandmaus, der Gelbhalsmaus und der Feldmaus verschiedene Arten darunter. Zunächst trainierten sie die Mäuse, die bereit waren am Versuch teilzunehmen, an einem Ort eine Belohnung in Form eines Mehlwurms abzuholen. Dann wurde diese Belohnung in der Puzzle-Box versteckt, zum Beispiel in einer Petrischale. An den Wurm heranzukommen, wurde jedoch zunehmend schwierig. Manche Behältnisse waren auf drei, manche auf zwei, andere nur noch auf eine einzige Art zu öffnen – zum Beispiel konnte der Deckel einer Petrischale nur mit den Zähnen oder Pfoten hochgehoben werden. „Wenn man die Zeit stoppt und guckt, wie viele Wege probiert werden, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Populationen“, sagt Eccard. „Wir konnten zeigen, dass Kleinsäuger in der Stadt ein Problem sehr viel häufiger lösen können als ihre Artgenossen auf dem Land. Doch wenn sie es nicht schaffen, geben sie schneller auf.“ Die Ergebnisse sind bei den unterschiedlichen Arten übrigens ähnlich.

Die vorsichtigen Flexiblen und die mutigen Routiniers

Die Tierökologinnen interessieren sich auch für die verschiedenen Lernstile der Mäuse. So hat Valeria Mazza in einem früheren Versuch Rötelmäuse in ein Labyrinth mit zwei Ausgängen gesetzt – einer führte zur Belohnung, einer nicht. Die Tiere lernten dabei die beiden Ausgänge mit je einem Duft zu assoziieren. Anschließend tauschten die Forscherinnen die beiden Düfte. Mit dem Ergebnis, dass mutigere Rötelmäuse dieselbe Lösung immer wieder anwenden, wenn sie einmal funktioniert hat. Die Vorsichtigeren dagegen überprüfen eine gefundene Lösung stets aufs Neue. „Wir dachten erst, sie seien nicht so gut im Lernen, doch das stimmte nicht“, sagt die Professorin. „Sie waren flexibel, haben sich den Rückweg offengehalten und waren schnell in der Lage umzulernen, wenn wir die Lösung verdrehten.“ Valeria Mazzas Versuche zeigen, dass vorsichtige Tiere sich Wissen langsamer aneignen und mutigere Tiere schneller Routinen formen. Die Wissenschaftlerinnen glauben, dass die „mutigen Routiniers“ zwar den traditionellen Maßstäben der Lernforschung eher entsprechen. „In einem normalen Lerntest wären das diejenigen, die, sobald sie eine Regel gefunden haben, das machen, was wir das ‚richtige Verhalten‘ nennen“, sagt Eccard. „Wir kommen hier mit unserem Lernparadigma nicht weiter. Denn, wenn sich zum Beispiel die Umweltbedingungen ändern, ist es ein großer Vorteil, nicht stur auf etwas zu beharren, sondern es infrage zu stellen.“ Forschungsergebnisse wie diese finden stets große Resonanz. Schließlich interessieren sich für Lerntypen etwa auch Hundeschulen in der Ausbildung von Rettungshunden. „Wenn man weiß, dass es unterschiedliche Lerntypen gibt, muss man sich vielleicht auch andere Lehrstile ausdenken.“

Doch auch die Forschung profitiert von den Erkenntnissen, die die Wissenschaftlerinnen in Experimenten gewinnen. Sie finden nämlich Eingang in Computermodelle, mit denen Biologinnen und Biologen an der Universität Potsdam und weit darüber hinaus mehr über den Umgang von Arten mit ökologischen Veränderungen erfahren wollen. „Die Kolleginnen und Kollegen nutzen unsere empirischen Daten, um mit Computersimulationen zum Beispiel die Zusammensetzungen von Populationen vorhersagen können.“

Obwohl die Leidenschaft der Forscherinnen den Nagetieren gilt, könnte sich Valeria Mazza vorstellen, auch die Persönlichkeiten anderer Säugetiere zu untersuchen. So hat sie ein Auge auf Waschbären geworfen – eine Art, die sich seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Europa ausbreitet und über deren Persönlichkeitsmerkmale es mit Sicherheit einiges zu entdecken gibt.

Die Forscherinnen

Prof. Dr. Jana Anja Eccard studierte Biologie und Soziologie. Seit 2008 ist sie Professorin für Tierökologie und Humanbiologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: jana.eccarduni-potsdamde

Dr. Valeria Mazza studierte Biologie in Turin und Florenz (Italien). Seit 2020 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Tierökologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: valeria.mazza.iiuni-potsdamde

Die Projekte

Urban Cognition
Beteiligt: Dr. Valeria Mazza, Dr. Annika Schirmer, Prof. Dr. Jana Eccard
Laufzeit: seit 2021

Verhaltensanpassungen an biologische Invasionen
Beteiligt: Prof. Dr. Jana Eccard, Dr. Valeria Mazza und Celia Holland (Trinity College, Dublin, Ireland), Peter Stuart (Institute of Technology, Tralee, Ireland)
Laufzeit: 2019–2023
Forderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Innovation und soziales Lernen bei kleinen Säugetieren
Beteiligt: Dr. Valeria Mazza, Dr. Anja Guenther
Laufzeit: seit 2019

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).