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„Wir sorgen für einen produktiven Bruch mit dem Alltagsverständnis“ – Soziologie zwischen Alltagsanalyse und Befähigung zu kritischem Denken

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Prof. Dr. Jürgen Mackert
Dr. Christian Schmidt-Wellenburg
Hannah Wolf
Foto : AdobeStock/bagotaj
„Wir sorgen für einen produktiven Bruch mit dem Alltagsverständnis“ – Soziologie zwischen Alltagsanalyse und Befähigung zu kritischem Denken
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Jürgen Mackert
Foto : Thomas Roese
Dr. Christian Schmidt-Wellenburg
Foto : Sandra Scholz
Hannah Wolf

Jürgen Mackert ist Professor für Allgemeine Soziologe. Doch ein Blick auf seine Forschungsschwerpunkte zeigt, dass diese alles andere als allgemein sind: Er beschäftigt sich mit Migration, Schließungstheorie und der Soziologie der Staatsbürgerschaft, politischer Soziologie. Matthias Zimmermann sprach mit ihm und seinem Team – Dr. Christian Schmidt-Wellenburg und Hannah Wolf – über ihren Blick auf politische Strukturen, das Wesen politischer Soziologie und was sie als Forschende umtreibt.

Herr Mackert, Sie und Ihr Team forschen an verschiedenen Facetten der Demokratie. Was interessiert Sie daran?

Mackert: Wir leben in etwas, das sich Demokratie nennt – und ich will wissen, warum diese liberale Demokratie glaubt, so toll zu sein. Dieses Interesse geht einher mit einem Forschungsthema, das mich schon seit meiner Studienzeit begleitet: den Bedingungen der Bürgerrechte, die eng mit der Entstehung der westlichen Gesellschaften verbunden sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie sich zu Wohlfahrtsstaaten entwickelt, die den Rechten von Bürgerinnen und Bürgern ein Fundament gegeben haben. Heute zeigt sich aber eine gegensätzliche Entwicklung durch zahlreiche Prozesse von Entdemokratisierung: Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit werden vielerorts beschnitten. Meine Kritik an liberalen Demokratien ist, dass sie sich in die falsche Richtung entwickeln.

Schmidt-Wellenburg: Ich widme mich in meiner Forschung vor allem sogenanntem Expertenwissen, etwa in der Ökonomie. Freilich gibt es da Überschneidungen, denn jegliche Form der Herrschaft wird gebildet durch geschlossene Bereiche von Expertinnen und Experten. Die spannende Frage ist, wie diese sich (re-) produzieren, welche Macht ihnen zukommt. Außerdem schaue ich darauf, wie staatliche Expertise – und daran anknüpfend europäische Staatlichkeit – entstehen.

Wolf: Meine Forschungsthemen wirken auf den ersten Blick vermutlich nicht so, als hätten sie viel mit Demokratie zu tun. Im Rahmen meiner Promotion forsche ich zu Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit, und darüber hinaus arbeite ich – eher theoretisch – an einem soziologisch fruchtbaren Konzept von Tabu und Tabuisierung. Bei Letzterem interessiert mich insbesondere, wie in demokratischen Gesellschaften ausgehandelt wird, was sogenannte Grenzen des Sagbaren sind, oder meinetwegen: wie „political correctness“ entsteht.

Ist die Demokratie als Gesellschaftsform zukunftsfähig?

Schmidt-Wellenburg: Das ist doch kein Wunschkonzert! Soziale Systeme überleben oder gehen unter …

Mackert: Ich bin sehr skeptisch, was die demokratische Verfasstheit von westlichen Gesellschaften angeht, egal ob national oder supranational. Wir sehen seit Jahren, dass die Bürgerrechte unter Druck stehen. Ein Beispiel: Was mit Julien Assange geschieht, ist kein persönliches Problem, sondern eines der Pressefreiheit. Im Mai 2022 wurde in Berlin verboten, gegen die gezielte Erschießung einer palästinensischen Journalistin durch das israelische Militär zu demonstrieren. Da geht es ums Prinzip: Denn hier wurde die Versammlungs- und Redefreiheit mit fadenscheinigen Argumenten ausgehebelt. Wir erleben eine massive Beschneidung des Wohlfahrtsstaats und eine knallharte Umverteilung von Ressourcen, was die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert. Die gern propagierte Wahlverwandtschaft von liberaler Demokratie und Kapitalismus erweist sich hier als Trugschluss. Sie vertragen sich nicht. Die extreme Ungleichverteilung von Wohlstand im Kapitalismus hat politische Konsequenzen – das kriegt man nicht auseinander.

Schmidt-Wellenburg: Was wir sehen, sind strukturelle Konflikte zwischen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und der demokratischen Ordnung. Diese kritisch zu beleuchten, heißt nicht, dass man sich im wissenschaftlichen Wolkenkuckucksheim eine ideale Ordnung zusammenstellt. Was sind das für Entwicklungen, die da zu Ungunsten demokratischer Ideale ablaufen? Wie wird mit Konflikten zwischen Ideal und Wirklichkeit umgegangen? Die Beantwortung dieser Fragen kann im Hier und Jetzt helfen. Man muss den Rahmen kennen und ihn kritisch hinterfragen, um politisch handeln zu können.

Wolf: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was Demokratie ist und welche Ideale darin verwirklicht werden sollen. Zwischen einer Minimaldefinition und einer möglichst inklusiven Vorstellung von Demokratie liegen Welten.

Mackert: Meines Erachtens gehen politischer Liberalismus und Demokratie schlicht nicht zusammen. Liest man die klassische politische liberale Theorie kritisch, dann sieht man, dass es überhaupt nie darum ging, dass „alle“ an der Demokratie partizipieren sollten. Politisch entscheiden sollten die besitzenden Eliten, nicht alle Bürger, also nicht die Arbeiterklasse. Diese sollte mit allen Mitteln ferngehalten werden und wurde es ja auch. Dieser Konflikt wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg befriedet – und zwar durch Klassenkämpfe. Und auch das nur, weil es die Katastrophe von Faschismus und Nazismus gab: Der Staat war diskreditiert, weil er autoritär und rassistisch war, und die Ökonomie, weil sie sich am Faschismus bereichert hat. Das Ergebnis der Klassenkämpfe war nicht Revolution, sondern Reform. Dazu kam die Systemkonkurrenz der westlichen Gesellschaften zu den sozialistischen. Man musste den Bürgern hier etwas anbieten, das besser war als der Sozialismus. So katastrophal der Sozialismus in Sachen Freiheits- und Bürgerrechte auch war, bot er doch ein Maß an sozialer Absicherung, das die westlichen Gesellschaften erst einmal auf die Beine stellen mussten. Das war der Wohlfahrtsstaat. Mit der neoliberalen Wende nach den 1970er Jahren und noch einmal stärker nach dem Ende der Systemkonkurrenz 1989 brach das weg. Es gab schlicht keinen Grund mehr, den Menschen etwas zu bieten außer Markt und Selbstverantwortung. Wenn man so eine Gesellschaft bildet, die radikal auf Egoismus, Konkurrenz und Wettbewerb setzt, hat man keine Demokratie mehr. Jedenfalls keine, die über den Sinn hinausgeht, dass man nicht erschossen wird, wenn man demonstrieren geht. Dann hat man aber der Ökonomie vollständig das Feld überlassen. Wenn jemand das Demokratie nennt, weil wir alle vier Jahre ein Kreuzchen machen, gut. Ich habe da ein anderes Verständnis. Wohin dieses Primat der Ökonomie führt, sehen wir in den USA, wo Milliardäre die Gesetzgebung beeinflussen, wo Menschen, die keinen Wohlstand haben, von Mitbestimmung ausgeschlossen sind, wo es quasi kein öffentliches Bildungswesen und Gesundheitssystem gibt. Es darf nicht wundern, dass in den USA libertäre und faschistische Strömungen zusammengehen. Solche Entwicklungen zu untersuchen, das ist politische Soziologie.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung immer wieder mit Bürgerrechten. Was reizt Sie daran?

Mackert: Dieses Thema begleitet mich in der Tat schon lange. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wer Rechte hat bzw. nicht hat, begann für mich eigentlich vor meinem Soziologiestudium. Ich war in den 1980er Jahren in sozialen Bewegungen engagiert, die sich um Geflüchtete gekümmert haben. Damals habe ich erfahren, wie nationalistisch und nicht universalistisch nationale Rechtssysteme funktionieren, die Menschen in Asylverfahren drängen, in denen sie über Jahre ohnmächtig sind. Ich habe das in meiner Dissertation aufgearbeitet und gefragt, wie Bürgerrechte als Instrumente nicht von Inklusion, sondern von Exklusion funktionieren. Also: Wie schaffen es liberale Gesellschaften, Menschen draußen zu halten, die nicht willkommen sind? Moderne Gesellschaften funktionieren über Rechte: Wir sind nicht hier, weil wir uns alle gernhaben, sondern weil wir Rechte haben. Migration ist demnach ein Kampf um Partizipation. Wer darf mitmachen, wer nicht?

2016 haben Sie gemeinsam mit Bryan S. Turner das „Centre for Citizenship, Social Pluralism and Religious Diversity“ gegründet. Was ist der Fokus des Zentrums?

Mackert: Das Center entstand aus der langjährigen Zusammenarbeit mit Bryan S. Turner. Der Max- Planck-Forschungspreis machte es 2015 möglich, diese zu intensivieren. Das Center war unser Prisma, um aus vielen Perspektiven auf verschiedene Themen zu schauen: Populismus, Gewalt, Krisen der Demokratie oder auch die Stadt als Raum gesellschaftlichen Zusammenlebens …

Wolf: Ich denke, das Leben und Wohnen in Städten ist eines der zentralen Themen und gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Steigende Mieten und Immobilienpreise, die Rolle von börsennotierten Unternehmen, die ihre Gewinne dadurch erzielen, dass sie mit Wohnen als Ware am Finanzmarkt spekulieren und handeln, der Rückgang von sozialem Wohnungsbau und die ganz unterschiedlichen Formen von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit interessieren mich. Ebenso die Frage von öffentlichem Raum, der mehr und mehr privatisiert wird. Unterschiedliche Akteure haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie diese Probleme angegangen werden können, und davon, wie zukünftig eigentlich gewohnt werden soll und wie die Städte der Zukunft aussehen werden. Das sind alles hochgradig politische Fragen, die ich mit einem soziologischen Blick untersuche. Wenn Wohnraum immer knapper wird, wohnen wir dann noch zusammen in der Stadt oder konkurrieren wir nicht vielmehr ständig miteinander? Welche Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung gibt es, und wer profitiert davon? Und was macht es mit der Erfahrung und der Lebenswirklichkeit von Menschen, wenn das Zuhause als unsicherer und bedrohter Raum wahrgenommen wird?

Neoliberalismus, Demokratie, Rechte: Ihre Forschung ist ausgesprochen „politisch“. Warum?

Mackert: Wir teilen alle ein spezifisches Verständnis von Soziologie. Neben einer ausgeprägten theoretischen Perspektive legen wir einen starken Fokus auf aktuelle politische Entwicklungen und beziehen diese ein – in Forschung und Lehre.

Schmidt-Wellenburg: Man muss dazu sagen: Was wir machen, ist keine Parteien- oder Wahlforschung. Politische Soziologie, so, wie ich sie verstehe, ist jegliche Auseinandersetzung mit Klassifikationen, die gesellschaftsweit durchgesetzt werden. Das kann eine Menge sein. Beispielsweise führen Frau Wolf und ich derzeit ein auf zwei Semester angelegtes studentisches Projekt durch, bei dem wir gemeinsam die Direktkandidatinnen und -kandidaten aller Parteien für die Bundestagswahl 2021 in Berlin-Brandenburg genauer untersuchen. Dabei sammeln wir ihre Äußerungen auf Facebook, Twitter & Co. und gleichen diese mit ihren Lebensläufen ab. Wir wollen schauen: Wer wird wo Politiker? Was für Menschen gehen in der Uckermark in die Politik – und in Kreuzberg? Das ist politische Soziologie.

Wolf: Dabei geht es außerdem darum zu untersuchen, auf welche Weise dann Themen auf die politische Agenda gesetzt werden. Was wird als gesellschaftliches Risiko, was als gesellschaftliche Chance geframed? Und was kommt vielleicht gar nicht zur Sprache?

Mackert: In den vergangenen Jahren habe ich mich vor allem mit der Entwicklung der Demokratie, des Neoliberalismus und der Bürgerrechte beschäftigt. Ein Thema, das aber – auch in der Lehre – immer wichtiger wird, ist die fortbestehende koloniale Tradition und das koloniale Erbe unserer westlichen liberalen Gesellschaften. Der Westen, oder der globale Norden, verhält sich dem globalen Süden gegenüber nach wie vor wie ein Kolonialherr und unterläuft überall seine eigenen lautstark propagierten Ideale. Ich gebe aktuell ein Seminar über Kolonialismus. Wenn ich dort nach „Eurafrika“ frage, kennt das niemand. Und das ist nicht überraschend, denn es soll auch niemand wissen, dass die selbsterklärte Friedensunion und Union der Werte Afrika bei der Gründung der Europäischen Union nach dem Zweiten Weltkrieg ganz offiziell als geografische Erweiterung und Rohstofflager begriffen hat – und das bis heute tut. Vier der sechs Gründungsstaaten waren damals noch Kolonialmächte und ihre afrikanischen Kolonien wichtige Rohstofflieferanten – die sollten nicht so einfach aufgegeben werden. Davon erfahren junge Menschen in der Schule nichts. Sollen sie auch nicht. Sie sollen diese Selbstbeweihräucherung Europas glauben. Dieses ganze Tamtam mit den Menschenrechten und der Freiheit und was weiß ich, was noch alles.

Sind Sie selbst politisch?

Mackert: Ich kam zur Soziologie aus politischem Engagement heraus. Insofern bin ich schon immer politisch aktiv gewesen, allerdings nie in oder für Parteien. Aber ich trenne klar zwischen dem, was ich persönlich politisch denke, und dem, was ich als Forscher mache. Als Wissenschaftler muss man einen notwendigen Bruch mit dem vollziehen, was im öffentlichen medialen Diskurs verhandelt wird und damit als normal und gegeben erscheint. Aus meiner Sicht muss man das, was dort für westliche liberale Gesellschaften präsentiert wird, kritisch hinterfragen. Wenn man das hinbekommt, wird auch Hochschullehre politisch – und zwar nicht manipulatorisch, sondern in dem Sinne, dass man junge Menschen zu kritischem und eigenständigem Denken motiviert.

Schmidt-Wellenburg: Ich bin ein politischer Mensch. Aber ich bin nicht als Wissenschaftler politisch aktiv, sondern politisch durch das, was ich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Reflexion zur Verfügung stelle. Das ist meine Form des Eingreifens. Wir sorgen für einen produktiven Bruch mit dem Alltagsverständnis. Was die Studierenden damit machen, ist ihre eigene Entscheidung.

Wolf: Klar. Es klingt vielleicht mittlerweile wie ein alter Hut, aber das Private ist politisch. Insofern gehört für mich das Reflektieren und kritische Hinterfragen des eigenen Handelns zu politischer Praxis – sei es am Küchentisch, im Seminarraum oder in einer sozialen Bewegung oder politischen Partei.

Centre for Citizenship, Social Pluralism and Religious Diversity

Das „Centre for Citizenship, Social Pluralism and Religious Diversity“ ist ein Ort der internationalen kritischen und lebendigen soziologischen und interdisziplinären Debatte über die wichtigsten wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Probleme und Herausforderungen der heutigen Welt. Gegründet wurde das Zentrum 2016 von Jürgen Mackert gemeinsam mit Professor Bryan S. Turner, einem der weltweit führenden Soziologen und Träger des Internationalen Max-Planck-Forschungspreises 2015 – dem renommiertesten Einzelwissenschaftspreis in Deutschland, der von der Max-Planck-Gesellschaft und der Alexander von Humboldt-Stiftung vergeben wird. Den Hauptinteressen des Preisträgers folgend, konzentriert sich die Forschung des Zentrums seit seiner Eröffnung auf eine Reihe der weitreichendsten und schwerwiegendsten Transformationen, die moderne Gesellschaften, ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Grundlagen sowie Vorstellungen von Pluralismus und Vielfalt vor dem Hintergrund demokratischer Infrastrukturen, Regeln und Institutionen herausfordern. So nehmen die Forschenden den Wandel des Konzepts der Staatsbürgerschaft in den Blick, die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Demokratie, die Finanzkrisen und die Europäisierung der westlichen Demokratien, den Aufstieg von Rechtspopulismus, Neofaschismus und Autoritarismus in ganz Europa und im Westen, die Entdemokratisierung der Städte von Räumen der öffentlichen Debatte und der politischen Organisation zu Räumen der Investition und der Einnahmen, und nicht zuletzt wichtige Rechtsfragen wie die Rechte der Geschlechter und der sexuellen Minderheiten im Kontext alternder Gesellschaften, religiöser Konflikte und der Migration.
www.uni-potsdam.de/en/centre-citizenship

Dr. Christian Schmidt-Wellenburg

Im wissenschaftlichen Netzwerk „Politische Soziologie transnationaler Felder“, das er mit gegründet hat, untersucht Dr. Christian Schmidt-Wellenburg gemeinsam mit anderen transnationale Vergesellschaftungsprozesse und damit einhergehende neue Formen des Regierens. Es sind stille Politiken, die oft nicht als solche ausgezeichnet werden. Umso wichtiger ist es, sie zu identifizieren und zu beschreiben. In seinem eigenen Projekt nimmt er Experten und Expertenkommissionen in den Blick, die im Zuge der Finanzkrise ins Leben gerufen wurden – auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Angefangen hat es für ihn mit einem offenen Brief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Jahr 2012. Nachdem sich Angela Merkel für eine stärkere Bankenregulierung ausgesprochen hatte, meldeten sich 274 „Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder“ zu Wort und kritisierten die deutsche Bundeskanzlerin scharf. Nur zwei Tage später widersprachen 221 andere Volkswirtinnen und Volkswirte diesem Urteil in einem eigenen offenen Brief – und lobten die Initiative der Kanzlerin. Schmidt-Wellenburg erhob Daten zu sozialen Eigenschaften der Unterzeichner beider Briefe: Welches wissenschaftliche Prestige haben sich die Untersuchten erarbeitet – und auf welchem Weg? Welche Verbindungen haben sie zu Politik und Wissenschaft? Und welche Positionen nehmen sie in der deutschsprachigen Volkswirtschaft ein? Ergänzend sammelte er von möglichst vielen Beteiligten Aussagen und Veröffentlichungen zur Finanzkrise. „Codiert und statistisch ausgewertet ergibt sich ein vieldimensionales Bild“, so der Soziologe. „Ich kann aus den Daten strukturelle Zusammenhänge rekonstruieren, die zeigen, warum Leute so handeln, wie sie handeln. Vorhersagen sind das aber nicht. Ich muss trotzdem zu den Menschen hingehen, mit ihnen sprechen – und sie verstehen.“
www.uni-potsdam.de/de/allg-soziologie/dfg-wissenschaftlichesnetzwerk.html

Prof. Dr. Jürgen Mackert

Aktuell arbeitet Prof. Dr. Jürgen Mackert „an einem Buch zur Sozialen Schließungstheorie, in dem es darum geht, einen neuen Zugang zu Formen von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung zu entwickeln, die sich beide durch Machtprozesse und das Wirken grundlegender sozialer Mechanismen vollziehen. Und dann ist ein Buch in Vorbereitung, das grundlegende und aktuelle Texte des in der deutschen Sozialwissenschaft bisher vernachlässigten, wenn nicht völlig unbeachtet gebliebenen Paradigmas des Siedlerkolonialismus versammelt, das ich gemeinsam mit meinem Kollegen Ilan Pappe von der University of Exeter beim Nomos Verlag herausgeben werde.“
www.uni-potsdam.de/de/allg-soziologie/team/mackert

Hannah Wolf

In ihrer Forschung widmet sich Hannah Wolf u.a. der Soziologie des Alltags: „Durch die Erforschung des Alltags kann man viel über große soziale Strukturen erfahren. Vor allem darüber, wie sie das Leben von Menschen beeinflussen und regulieren, aber gleichzeitig auch darüber, welche Handlungsmöglichkeiten Menschen sich auf kreative Weise in ihrem Alltag schaffen und wie sie dadurch gewissermaßen Widerstand gegen Einschränkungen ausüben oder auch Veränderungen bewirken. Ich untersuche das, indem ich entweder dabei bin – also durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung – oder auch dadurch, dass ich Menschen dazu befrage, warum sie die Dinge in ihrem Alltag so oder so machen. Durch so ein Nachfragen kommen dann Erklärungen zustande, die gleichzeitig ganz subjektiv und ganz gesellschaftlich sind: Nach welchen Regeln und Normen wird der Alltag gestaltet, welche Machtbeziehungen spiegeln sich darin? Ich verwende diese Perspektive auch ganz bewusst in vielen meiner Lehrveranstaltungen, indem ich mit den Studierenden übe, das eigene alltägliche Handeln mit einem soziologischen Blick zu hinterfragen. Das ist für mich eine der wichtigsten Kompetenzen: sich über das vermeintlich ‚Normale‘ wundern zu können und daraus dann relevante Forschungsfragen abzuleiten.“
www.uni-potsdam.de/de/allg-soziologie/team/wolf

Die Forschenden

Prof. Dr. Jürgen Mackert studierte Soziologie an den Universitäten Heidelberg, Berlin (FU) und Frankfurt/ Main. Seit 2009 ist er Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: juergen.mackertuni-potsdamde

Dr. Christian Schmidt-Wellenburg studierte Soziologie, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Philipps-Universität Marburg, der TU Dresden, der University of Manchester und der Humboldt Universität zu Berlin. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Allgemeine Soziologie.
E-Mail: christian.schmidt-wellenburguni-potsdamde

Hannah Wolf studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie und Philosophie in Wien und Frankfurt/Main sowie Soziologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Potsdam. Seit 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Allgemeine Soziologie.
E-Mail: hannah.wolf.iiuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).