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Konservativ mit Zukunft – Das Zacharias Frankel College bildet konservative Rabbinerinnen und Rabbiner mit Hochschulabschluss aus

Studierende des Frankel College im Morgengottesdienst mit Gastdozent Rabbiner Aaron Flanzraich (rechts) aus Toronto, Kanada.
Ordination von Ann Gaëlle Attias (l.), Andrés Bruckner und Irene Muzas Calpe im Auditorium maximum der Universität Potsdam.
Foto : Stephan Pramme
Morgengottesdienst mit dem Gastdozenten Rabbiner Aaron Flanzraich (r.) aus Toronto. Mit dabei: Student Andrés Bruckner.
Foto : Stephan Pramme
Ordination von Ann Gaëlle Attias (l.), Andrés Bruckner und Irene Muzas Calpe im Auditorium maximum der Universität Potsdam.

Andrés Bruckner hat es geschafft. Er hat seinen Masterabschluss in Jüdischer Theologie in der Tasche. Aber nicht nur den: Seit kurzem ist er auch Rabbiner. Am 23. Oktober 2022 wurde der 33-jährige Kolumbianer gemeinsam mit seinen Kommilitoninnen Ann Gaëlle Attias und Irene Muzas Calpe im Audimax der Uni Potsdam ordiniert. Möglich wird dies durch die besondere Art, wie die Jüdische Theologie in Potsdam angebunden ist. Der in Bogota geborene Bruckner war einer der ersten Studenten des Zacharias Frankel Colleges, das Rabbinerinnen und Rabbiner für das Konservative Judentum ausbildet. Die einzigartige Verbindung akademischer und religionspraktischer Ausbildung war für ihn ein Glücksgriff.

An der School of Jewish Theology, die zur Philosophischen Fakultät gehört, können alle, die sich dafür interessieren, einen Bachelor und Master in Jüdischer Theologie machen. Jüdische Religions- und Geistesgeschichte, Talmud und Rabbinische Literatur, jüdische Musik, Philosophie und Religion, natürlich die hebräische Sprache und vieles mehr stehen hierbei auf dem Stundenplan. Jude oder Jüdin muss man für das Studium nicht sein. Anders ist dies – aus naheliegenden Gründen – bei jenen, die zusätzlich als Rabbinerin oder Kantor ausgebildet werden möchten. Für das liberale Judentum ist das am Abraham Geiger Kolleg (AGK) möglich und zwar schon seit 2000. 2013, als die School of Jewish Theology und die dazugehörigen Studiengänge an der Uni Potsdam etabliert wurden, kam das Zacharias Frankel College (ZFC) – und damit eine Ausbildung für das konservative Rabbinat – hinzu. „Die Gründung des Frankel Colleges war ein deutliches Zeichen für die Belebung eines pluralistischen Judentums in Deutschland“, sagt die Leiterin des Colleges, Dr. Sandra Anusiewicz-Baer. Das konservative Judentum steht zwischen dem liberalen und dem orthodoxen Judentum und wird in Deutschland vom Masorti e.V. vertreten. Das ZFC fühlt sich dem Masorti-Judentum verbunden. Zum Wintersemester 2015/16 nahmen hier die ersten Studierenden ihre Ausbildung auf. Unter ihnen war auch Andrés Bruckner.

Das akademische Studium an der School of Jewish Theology wird durch die praktische Ausbildung am College flankiert, sagt Anusiewicz-Baer. „Das umfasst Seelsorge und Pädagogik ebenso wie Homiletik, also wie eine Drascha – eine jüdische Predigt – gehalten wird, und die liturgische Praxis eines Gottesdienstes.“ Auch wie eine Gemeinde grundsätzlich aufgebaut ist und geführt wird, müssten die künftigen Rabbiner lernen, erklärt sie. „Das ist aber von Land zu Land unterschiedlich. Deshalb haben wir einen sehr praktischen Hands-on-Teil integriert: Alle Studierenden absolvieren nach dem ersten Studienjahr ein Praktikum in einer Gemeinde. Dort sammeln sie unverzichtbare Praxiserfahrung und werden von erfahrenen Geistlichen betreut.“ Irene Muzas Calpe etwa ging zum Praktikum in ihre Heimatstadt Barcelona, wo sie einem Seniorrabbi „über die Schulter schauen konnte“, wie Sandra Anusiewicz-Baer sagt. Andrés Bruckner zog es nach Bochum und Ann Gaëlle Attias nach Toulouse. Für alle drei waren diese Stationen prägend, wie sich zeigen sollte.

Um die Studierenden bestmöglich auf ihre Aufgaben als Rabbinerinnen und Rabbinern vorzubereiten, hat das ZFC das Curriculum entsprechend zugeschnitten: „Hebräischkenntnisse sind sehr wichtig, außerdem gehen unsere Studierenden für ein Jahr an eine konservative Bildungseinrichtung in Israel“, so Sandra Anusiewicz-Baer. Zudem besitze das Studium der religiösen Texte einen besonderen Stellenwert. „Tatsächlich sind die Anforderungen an Rabbiner in den Gemeinden immer größer geworden: Sie sollen Gottesdienste leiten – was früher eher kundige Laien übernahmen –, alle liturgischen Aufgaben übernehmen, von der Wiege bis zur Bahre, ein offenes Ohr für jedermann haben und auch noch nachmittags mit den Kids Fußball spielen.“ Gleichzeitig setze man – gerade bei Masorti – aber weiterhin voraus, dass sie textsicher sind, wenn es um religiöse Schriften geht. Aus diesem Grund wurde ein Bet Midrasch eingerichtet, ein „Lehrhaus“, das dem Textstudium gewidmet ist. „Das ZFC ist ein kleines College und wir haben alle zusammen das Programm konzipiert“, hebt auch Andrés Bruckner hervor. „Wir haben viel gemeinsam gelernt und viel erreicht.“ Wie weit diese Anpassung der Ausbildungsformate an die Bedürfnisse der Studierenden geht, erläutert Sandra Anusiewicz-Baer am Beispiel der Kurse zur Liturgie: „Ann Gaëlle Attias, deren Familie aus Marokko kommt, entstammt dem sefardischen Judentum, das ganz andere gottesdienstliche Melodien kennt. Da sie aber in eine Gemeinde gehen wird, deren Ritus anders als die hier verbreiteten aschkenasischen Melodien funktioniert, haben wir extra ein sefardischen Coach engagiert, der mit ihr gearbeitet hat.“

Genau genommen werden sämtliche Studierenden am ZFC individuell betreut: Allen werden Mentoren zur Seite gestellt, die sie persönlich begleiten. Dies sei wichtig, betont Sandra Anusiewicz-Baer, nicht zuletzt, weil die Studierenden sehr unterschiedliche Ausgangspunkte hätten: „Die erste Generation waren fast durchweg Menschen, die weniger familiär religiös vorgeprägt waren, sondern sich selbst aufgemacht und engagiert haben. Außerdem hatten sie eigentlich alle zuvor schon etwas Anderes gemacht, ein Studium, eine Ausbildung.“ Auch Andrés Bruckner. Er sagt: „Ich hatte schon als 16-Jähriger das Gefühl, dass ich Rabbiner werden will.“ Dennoch arbeitete er zunächst als Börsenmakler, ehe er nach Potsdam kam.

Das ZFC versucht, die künftigen Rabbinerinnen und Rabbiner dort abzuholen, wo sie stehen, - und auf eine ganz besondere Aufgabe vorzubereiten, wie Anusiewicz-Baer deutlich macht: „Wir wollen ihnen bewusstmachen, dass sie von einer privaten zu einer sehr öffentlichen Person werden. Als Rabbinerin oder Rabbiner sind sie Vorbilder. Menschen werden viele Ansprüche an sie stellen, sie werden in die Verantwortung genommen. Letztlich wird erwartet, dass sie übermenschlicher sind als andere.“ Viele der Kurse dienten dem Austausch und der Reflexion über Fragen wie diese. Sandra Anusiewicz-Baer selbst unterrichtet Religionspädagogik. Und lässt die Studierenden schon mal eine Lobrede auf sich selbst schreiben. „Quasi als Rückblick aus einer fernen Zukunft auf ihr Rabbinat: So sollen sie ein Bild von sich entwerfen, wer sie sein und wie sie gesehen werden wollen. Und darüber sprechen wir dann.“

Ein Stück Zukunft begann für das ZFC 2021, als die Jüdische Theologie – mit der School, dem AGK und dem ZFC – ihr neues Zuhause an der Uni Potsdam beziehen konnte. Ein Neubeginn mit Potenzial, wie die Leiterin des Colleges sagt: „Es ist eine bezaubernde Lernatmosphäre in diesem Ensemble aus dem 18. Jahrhundert! Außerdem ist es toll, dass wir jetzt auch Teil eines richtigen Campus sind – und damit nicht zuletzt viel näher dran an den vielen Institutionen, die sich auch der Erforschung jüdischen Lebens widmen, wie das Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft und das Moses Mendelssohn Zentrum. Ich hoffe sehr auf einen intensiven Austausch.“

Ohnehin hat sich das ZFC viel vorgenommen. Aktuell nimmt das College pro Jahr bis zu fünf neue Studierende auf. Auch die neuen Bewerberinnen und Bewerbern kämen aus aller Welt – doch anders als die erste Kohorte Studierender sind sie mehrheitlich in Masorti-Familien aufgewachsen, erzählt Sandra Anusiewicz-Baer. Wünschen würde sie sich noch mehr Studierende aus Osteuropa, denn dort sei der Bedarf an Rabbinerinnen und Rabbinern besonders groß. „Doch die sprachliche Hürde macht es vielen schwer. Immerhin müssen sie Deutsch, Englisch und Hebräisch lernen.“ Vor allem aber hofft sie, die Ausbildung am College stärker öffnen zu können: „Ich würde gern die ‚Jewish education‘ stärken. Das Judentum ist nicht nur eine Religion – und wir brauchen ‚Jewish professionals‘ nicht nur im Rabbinat, sondern weit darüber hinaus. Der Bedarf an ‚Jewish educators‘ ist riesig: im Projektmanagement in Gemeinden, im Lehramt an jüdischen, aber auch deutschen Schulen, in der Kultur. Für diesen Markt könnten wir ausbilden.“

Andrés Bruckner und die beiden anderen frisch ordinierten Rabbinerinnen haben ihre Zukunft indes schon gefunden: Sie alle gehen in die Gemeinden, in denen sie auch ihr Praktikum absolviert haben: Ann Gaëlle Attias nach Toulouse, Irene Muzas Calpe nach Barcelona und Bruckner nach Bochum.

Weitere Informationen: https://zacharias-frankel-college.de/

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Transfer - 2022/2023.