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33 Fragen an die Historikerin Prof. Miriam Rürup

Prof. Miriam Rürup
Foto : Thomas Roese
Prof. Miriam Rürup

Seit Dezember 2020 leitet die Forscherin das Moses Mendelsohn Zentrum (MMZ) für europäisch- jüdische Studien in Potsdam. Sie folgte dem Gründungsdirektor Prof. Dr. Julius H. Schoeps nach. Neben neuen Akzenten des MMZ ist für Miriam Rürup auch der digitale Raum von zentraler Bedeutung, um Zugänge zu Quellen der jüdischen Geschichte zu schaffen. Auf dem Feld bringt die Historikerin, die sich immer auch mit Arbeit in Gedenkstätten beschäftig hat, eine breite Expertise mit nach Potsdam.

Festliches Buffet mit koscheren Tieren oder vegan?

Wenn es für eine öffentliche Veranstaltung ist, zu der man Gäste einlädt – eine Konferenz oder ein Vortrag –, dann immer mit veganer Auswahl, weil dann für alle etwas dabei ist.

Wie wichtig ist Ihnen gutes Essen?

Ich koche sehr gern und esse auch sehr gern, bin aber kulinarisch nicht besonders neugierig.

Als Sie Direktorin des MMZ geworden sind, war das Glas bei Ihnen halbvoll oder halbleer?

Für mich ist das Glas eigentlich immer halbvoll, solange man gesund ist und Wünsche und Vorstellungen hat, in welche Richtung es gehen kann, und sich auf den nächsten Tag freut.

Was hat Sie überrascht?

Ich bin mitten im Lockdown nach Potsdam gekommen, insofern hat mich überrascht, wie sehr jeder und jede vor sich hingearbeitet hat – in der gesamten Stadt und im gesamten Umland. Da musste man erst einen Weg finden, zueinander zu kommen. Vor allem aber hat mich überrascht, wie aufgeschlossen man sich beim Spazierengehen begegnen und kennenlernen kann.

Sind wir jetzt wieder im Normalzustand?

Pandemie-mäßig? Hoffentlich sind wir wenigstens auf dem Weg dorthin. Gerade jetzt, wo die Temperaturen wieder so werden, dass man bei offenem Fenster im Büro sitzt. Alle kommen zurück, wir haben wieder diesen „Zufallsaustausch“, wenn man sich begegnet – zufällig auf der Treppe oder im Hof und dann mit drei Projekten weitergeht. Monatelang haben wir uns ja z.B. mit festem Zeitslot auf Zoom verabredet, da wurden Projekte zielorientiert besprochen und dann war die Verabredung schon wieder vorbei. Das ist zwar vielleicht effizient, aber so richtig inspirierend ist es auf Dauer ja nicht und es geht alles Vergnügliche drumherum so verloren.

Ist Ihr Schreibtisch im MMZ einer der schönsten Arbeitsplätze?

Es ist auf jeden Fall ein sehr schöner Arbeitsplatz. Die Aussicht ist klasse, das Licht ist fantastisch. Man bekommt auch die Touristen am Neuen Markt mit und wie interessant die Stadt von Auswärtigen empfunden wird. Vor allem aber ist es der schönste Weg zur Arbeit, würde ich sagen.

Fahrrad oder Auto?

Meistens mit dem Fahrrad, wenn es irgendwie möglich ist, und dann an den Seen entlang, durch Wälder und an zig historischen Orten und teilweise rekonstruierten historischen Gebäuden vorbei, die auch eine Geschichte erzählen. Als Historikerin überquere ich ja doch sehr bewusst täglich die ehemalige Grenze z.B. an der Glienicker Brücke.

Hat sich Ihr Leben als MMZ-Direktorin verändert?

Ganz unbedingt. Es ist ja ein großes Zentrum mit zahlreichen Perspektiven, Angeboten und engagierten KollegInnen, die viele Projektideen einbringen. Da sind 24 Stunden eines Tages immer wieder zu kurz, um allen und allem gerecht zu werden. Meine Zeiterfahrung hat sich also definitiv verändert und meine Begeisterung über die Kooperationsmöglichkeiten in der Region vergrößert.

Hat das MMZ auch Einfluss auf Ihre Forschung?

Das MMZ sind ja viele. Und die stehen mit ihren verschiedenen Zugängen aus der Literaturwissenschaft, Soziologie, den Israelstudien, der Bibliothekswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Museumskunde und sogar der Mathematik für eine grandiose Bandbreite an Forschung. Das führt zu zahlreichen Forschungsfragen und meine Forschungsprojekte sind unsere Projekte.

Wo setzen Sie neue Akzente?

Natürlich wollen wir am MMZ an vieles, was bereits an festen Forschungstraditionen besteht, anknüpfen. Doch gibt es auch viel Neues zu entdecken und zu erforschen. Dazu gehört etwa die weit verzweigte Geschichte der deutschjüdischen Diaspora, die bereits lange vor der erzwungenen Emigration in den Jahren 1933–1945 begann, aber infolge von Flucht und Vertreibung eine ganz neue Dimension annahm. Hier geraten viele ganz unterschiedliche Länder in den Blick, aber auch die Fragen nach Verbindungen zwischen den verschiedenen neuen Ankunftsorten, wo deutsche Jüdinnen und Juden auch an manches ihrer Traditionen anzuschließen suchten. Dazu gehört aber auch die Geschichte der Remigration von Jüdinnen und Juden in die Bundesrepublik wie in die DDR. Andere Projekte wiederum richten den Blick auf Brandenburg als einen Ballungsraum (um Berlin herum) verschiedener Hachscharastätten, in denen junge Jüdinnen und Juden sich auf ihre Emigration aus Deutschland vorbereitet haben. Verbunden mit diesen verschiedenen Themen vollziehen wir zudem eine Digitalisierung von Forschung und Wissenspräsentation, d.h., wir wollen unsere Ergebnisse in einem Internetportal (https://juedische-geschichte-online.net/projekt/portal/) einer viel breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.

Sind Sie eher der analoge oder der digitale Typ?

Spontan würde ich sagen, analog. Aber ich bin beides, das hängt davon ab, worüber wir sprechen. Beim Lesen bin ich absolut der analoge Typ. Ich brauche die Haptik, das Blättern. Wenn wir aber über Forschungsmethoden und Gedanken reden, wie man Geschichte in die breite Öffentlichkeit vermitteln kann, dann werde ich ganz schnell zur digitalen Person und denke, da ist unsere große Chance.

Warum?

Die digitale Sammlung und Präsentation von Wissen ist für uns am MMZ in der Tat sehr wichtig. Wir wollen einem möglichst breiten und vielfältigen Publikum einen Zugang zur jüdischen Geschichte eröffnen, und dies möglichst auch zweisprachig. Denn Nachkommen von Juden und Jüdinnen hier aus der Region sprechen ja häufig kein Deutsch mehr. Damit verbunden ist zugleich ein pädagogischer Anspruch, insofern wir die Möglichkeiten schaffen oder Hilfestellung anbieten wollen, dass auch schon Schulklassen mit jüdischer Geschichte in Berührung kommen. Welche Bedeutung wir dem Digitalen beimessen, können Sie aber auch schon an unserer Internetseite sehen. Gerade sind wir mit einem völlig neuen und überarbeiteten Internetauftritt online gegangen.

Was motiviert Sie?

Es ist immer dort am spannendsten, wo man nicht erwartet, etwas zu finden. Wenn man nicht jüdische Geschichte schreibt, indem man über eine jüdische Gemeinde forscht, sondern indem man über einen Ort forscht und plötzlich feststellt, da gibt es ja auch jüdische Spuren, etwa neben armenischen oder hugenottischen. In den Glauer Bergen zum Beispiel, unmittelbar bei Trebbin und Ahrensdorf, wo es eine Hachscharastätte gab, direkt daneben, wahrscheinlich auf einem Nachbarhügel – ich habe es mir noch nicht angeschaut –, gab es in den 1920er Jahren eine Dorfgemeinschaft von Freigeistern. Das ist parallel entstanden – und obwohl sehr unterschiedlich, zeigt es uns, wie wichtig immer der größere historische Kontext ist. Sowieso ist jüdische Geschichte dann am spannendsten, wenn wir über die Grenzen des Faches schauen.

Früher Vogel oder Nachteule?

Definitiv nicht der frühe Vogel. Das war vermutlich eine der größeren Umgewöhnungen für meine Kolleginnen hier am MMZ. Ich komme sehr gerne sehr spät zur Arbeit, bleibe dann lange und schreibe auch mal noch nachts von Zuhause um 23 Uhr E-Mails – erschrecke aber umso mehr, wenn ich dann womöglich noch eine Antwort bekomme!

Bringt Sie Antisemitismus noch auf die Palme?

Es ist unbedingt noch zum weiter aus der Haut fahren. Aber auch da ist mir der breite Blick wichtig: Antisemitismus steht nicht gesondert da. In unserer Gesellschaft nimmt die Abwehr gegen Diversität und das als „anders“ Markierte ganz allgemein zu. Beim Umgang mit Rassismus stehen wir ja als Gesellschaft noch fast am Anfang. Was stereotype Judenbilder betrifft – und ohne diese gäbe es ja den Antisemitismus nicht –, irritiert mich persönlich aber auch ein Philosemitismus. Diese Zwangsumarmungen finde ich schwieriger zu handhaben. Denn das betrifft ja gelegentlich Menschen, die sich zwar durchaus positiv auf jüdische Lebenswelten oder Forschungen zu jüdischer Geschichte und Kultur beziehen, die aber teilweise allzu rasch ein nicht weniger, wenngleich positiv konnotiertes, aber eben immer noch stereotypes Bild von Juden und Jüdinnen damit fortführen. Deshalb komme ich auch bei einem Satz wie „Die jüdische Kultur hat uns so viel geschenkt“ ins Grübeln, weil er zwar positiv gemeint ist, aber doch so viel Trennendes enthält. Zumal eine solche Vorstellung zu suggerieren scheint, dass Minderheiten nur dann etwas wert sind, wenn sie Menschen wie unseren Namensgeber Moses Mendelssohn hervorbringen. Ich freue mich, dass wir mit der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle zu Rechtsextremismus und Antisemitismus auch eine eigene Expertise in diesem Bereich mitbringen.

Was ändert sich, wenn Holocaust-Überlebende nicht mehr berichten und vermitteln können?

Ich beschäftige mich ja schon lange mit Gedenkstättenarbeit: in Hamburg, wo ich vorher war, in der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten – an allen Standorten sind die Gedenkstätten Teil meines Blicks auf die Geschichte. Da wird bereits längere Zeit diskutiert, wie Berichte von Zeitzeugen in die Zukunft geführt werden. Brauchen wir beispielsweise Hologramme von Zeitzeugen? Ich denke, da sollten wir einen Schritt zurücktreten. Warum sind uns diese auratisch aufgeladenen Zeitzeugenberichte eigentlich so wichtig? Dokumentarisch brauchen wir sie natürlich und das direkte Gespräch mit den Überlebenden ist für diese selbst wie für die ZuhörerInnen zweifellos überaus bedeutend. Doch wenn wir fürchten, dass Vermittlung nicht ohne Zeitzeugen stattfinden könne, sind wir doch eigentlich gefordert, unsere Vermittlungsformen und -inhalte zu überdenken. Statt uns damit zu befassen, wie wir das Auratische in die Zukunft retten können, sollten wir uns vielleicht eher fragen, wie wir die Inhalte der Zeitzeugenaussagen und die damit verbundenen Bedeutungen für die Zukunft bewahren können und welche Vermittlungsformen dafür relevant sind. Es geht ja um das inhaltliche Vermächtnis, die Aussagen der Zeitzeugen, die wir in die Zukunft führen möchten.

Wie verändert sich unsere Gesellschaft durch Krieg und Krisen?

Die Probleme, die bereits da waren, das Krisenhafte, treten jetzt deutlicher zutage und brechen sich sichtbarer Bahn. Zudem sehen wir eine Art Sammlungsbewegung, wo Gruppen sich Gehör verschaffen und eine Verschiebung des Diskurses nach rechts bewirken. Wir als Gesellschaft sollten mehr klare Kante zeigen und unsere Empathie auf die Marginalisierten richten und nicht auf die „Wutbürger“.

Wie begeistern Sie andere?

Das klingt so, als hätte ich ein Konzept dafür. Ich hoffe, dass andere Lust haben mitzumachen, wenn ich von etwas begeistert bin.

Was bedeutet Erfolg?

Wenn es gelungen ist, andere zu begeistern, und man merkt, eine vermeintlich spinnerte Idee wird aufgegriffen, übernommen und weiterentwickelt. Dann trägt sie auch irgendwann Früchte.

Gibt es ein liegen gebliebenes Projekt, das Sie zu Ende bringen wollen?

Unbedingt. Es gibt ein Buch, das in meinem Kopf schon mal fertig geschrieben war. Da hatte es etwa 270 Seiten. Real hat es bisher ungefähr 130 krude Seiten, die ich aber seit 1,5 Jahren nicht angerührt habe. Als klar war, der Wechsel von Hamburg nach Potsdam könnte kommen, war keine Zeit mehr für den Schreibflow. In dem Buch geht es unter anderem um Staatenlosigkeit, um Menschen ohne Pässe – wieder so ein Thema, das im Kern kein jüdisches, sondern ein universales Thema ist. Gleichwohl hat es auch viel mit Juden zu tun. Damit habe ich mich lange beschäftigt, nur das Buch noch nicht fertig geschrieben, sondern immer nur Aufsätze dazu publiziert.

Gab es einen besonderen Moment auf Ihrem akademischen Karriereweg?

Ich kann es nicht an einem Moment festmachen. Zwei Dinge waren entscheidend: Ich habe meine Dissertation zum Ende hin fast überstürzt abgeschlossen, weil ich die Chance hatte, in Göttingen eine Elternzeitvertretung bei einem Graduiertenkolleg zur Generationengeschichte zu machen. Und anschließend konnte ich als Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Bernd Weisbrod arbeiten. Das hat mich sehr vorangebracht. Und das Zweite waren meine Auslandsaufenthalte, zunächst mehrmals in Israel und dann die Jahre in Washington – am Deutschen Historischen Institut, in einer Metropolenregion mit Archiven und Museen, wo man das Gefühl hat, da kommen früher oder später alle, die etwas mit Geschichte zu tun haben, vorbei. Man kann unglaublich viele Menschen und ihre Themen kennenlernen, seinen Horizont erweitern.

Stilles Kämmerlein und staubige Archive oder eher Großraumbüro?

Das staubige Archiv ist ein gutes Stichwort, weil es auch wieder so ein Klischee ist. Es steht vielleicht dafür, dass man da eine Idee entwickelt. Akten bestellen und ansehen ist ja ein bisschen wie Geschenke öffnen. Du weißt nie, welcher Schatz dich erwartet! Doch um diese Idee weiterzuentwickeln, braucht es den Austausch. Alleine komme ich damit ja nicht weiter. Deswegen gibt es diesen ständigen Wechsel von zurückgezogenem Arbeiten (z. B. im „BalkonOffice“ zuhause oder auf einem Spaziergang in den Glauer Bergen) und dann wieder mitten drin im Institut im Austausch mit anderen.

Gab es mal eine Sackgasse, die Sie bis heute ärgert?

Hmmm. Nur, weil mir keine einfällt, würde ich nicht sagen, dass es keine gab. Liegt wohl eher daran, dass für mich das Glas halbvoll ist … also, da wird dann die Sackgasse schnell in eine angenehm ruhige Straße mit Wendemöglichkeit umgedeutet und schon lässt sich die Frage mit Nein beantworten.

Beraterin oder Geschichtenerzählerin?

Beides. Ich gehe nicht mit einer bestimmten Meinung oder Position in ein Gremium und suche nach Verbündeten. Sondern die Gremien bieten Foren für den Austausch, um gemeinsam weiterzukommen. Wie geht man etwa mit schwierigem oder umstrittenem Kulturerbe um? Solche Debatten führe ich sehr gerne, weil wir als Forschende hier unseren Elfenbeinturm verlassen und Wissenschaft relevant wird für die breite Öffentlichkeit. Da kommen wir zum zweiten Punkt: Geschichten sind auch Texte ohne Fußnoten, Ausstellungskataloge, in denen Inhalte kondensiert werden. Das ist immer wieder eine Herausforderung und fast schon eine der wichtigsten Aufgaben, die Vereinfachung gut hinzukriegen. Das darf ja nicht platt werden, sondern soll in klaren Worten komplizierte Zusammenhänge nachvollziehbar machen. Jüdische Geschichte ist ja nun mal komplex. Trotzdem lässt sie sich verständlich vermitteln.

Gibt es auch Debatten, aus denen Sie sich besser herausgehalten hätten?

Das würde ich so nicht sagen wollen, zumal ich mich gern auf Austausch einlasse und Debatten nicht scheue. Ich halte sie sogar für überaus wichtig für jede Gesellschaft – also, sich mit anderen Meinungen als der eigenen auseinanderzusetzen. Aber die Form, in die öffentliche Debatten in den letzten Jahren immer wieder abgeglitten sind, in denen nicht der Austausch und die Kraft des Arguments im Zentrum standen, beunruhigen mich. Statt umstrittene Themen wirklich zu diskutieren, zumindest den Versuch zu machen, auch gegenteilige Positionen und Haltungen nachzuvollziehen, tritt nicht selten das politische Urteil und die politische (Vor)Verurteilung in den Vordergrund.

Berge oder Meer?

Beides. Und die Ebene dazwischen – naja. Es heißt ja nicht umsonst „die Mühen der Ebene“. Ich finde die Ebene eintönig und dann kommt auch noch der Wind immer aus der falschen Richtung, das empört mich natürlich als Radfahrerin.

Worauf zu verzichten, würde Ihnen schwerfallen?

Auf Sonne, guten Wein sowie Freundinnen und Freunde. Und beruflich die persönlichen Begegnungen bei Vorträgen und Veranstaltungen aller Art. Wenn Menschen, die gerade das Gleiche gesehen und gehört haben, sich austauschen und verschiedene Blickwinkel zusammenbringen. Darauf könnte ich nicht verzichten. Und aufs Lachen.

Welche Entscheidung möchten Sie niemals treffen wollen?

Ob man schwere Waffen in die Ukraine oder sonstige Kriegsgebiete schicken muss. Das ist das Privileg einer geisteswissenschaftlichen Einrichtung. Ich kann viel darüber sprechen, wie wichtig unsere Arbeit ist. Aber letztlich ist sie nicht so wichtig, wie wenn ein Patient irgendwo auf dem Tisch liegt oder man irgendwohin Waffen schicken oder nicht schicken soll.

Haben Sie ein Vorbild?

Wenn überhaupt, dann mehrere. Ich hatte schon als Jugendliche nicht das eine Starposter an den Wänden und auch jetzt in meinem Büro hängen keine Menschen, sondern Landschaften. Vorbilder wechseln, würde ich sagen. Letztlich ist es ja einfach das ganze Dorf, das man in seinem Leben um sich herum versammelt, das bietet mir Vorbilder für die unterschiedlichsten Arbeits- und Lebenssituationen.

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Gerne immer noch am MMZ, was dann mindestens so trubelig ist wie jetzt. Was aber nicht unbedingt der jetzige Standort am Neuen Markt sein muss, auch wenn es ein sehr schöner Arbeitsort ist. Die Räume widersprechen aber der Natur des MMZ, sie sind beengt. Doch wir sind ein Institut, das sich nach außen öffnet und in den Diskurs mit der Stadtgesellschaft treten möchte – unsere Bibliothek allein lädt schon dazu ein! Ich träume uns also in einen offenen Bau, der auch räumlich für Austausch und Kooperationen steht.

Welcher Diskurs muss noch geführt werden?

Das weiß man jetzt noch nicht. Da stolpert eine Gesellschaft hinein, wie aktuell: Warum zeigen wir als Zivilgesellschaft gerade unglaublich beeindruckend, wie wir Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen? Doch warum war und ist das bei anderen Flüchtlingsgruppen wie in Moria auf Lesbos so beschämend anders? Da würde ich sagen, die Diskussion müssen wir noch führen, warum die Übernahme von Verantwortung hier ausfällt und was das mit rassistischen Abwehrreflexen in unserer Gesellschaft zu tun hat. Es liegt also noch einiges vor uns und ich muss mich korrigieren: Eigentlich sind wir schon mittendrin in der Debatte.

Welches Projekt wollen Sie unbedingt noch angehen?

Vielleicht verstärkt durch den Wechsel nach Potsdam, aber auch durch die Begegnung mit unterschiedlichen historischen Sammlungen bzw. Beständen ist es die Geschichte der Jüdinnen und Juden in der DDR, die mich verstärkt interessiert. Oder vielleicht besser: eine jüdische Perspektive auf die deutschdeutsche Zeitgeschichte. Das ist einer der Schwerpunkte, den wir am MMZ setzen werden. Aber wer weiß, was sich noch alles an neuen Forschungsperspektiven ergibt.

Was ist das Besondere am MMZ in Potsdam?

Das MMZ ist in Potsdam die einzige eigenständige Wissenschaftseinrichtung, die sich mit jüdischer Geschichte und Kultur in europäischer Perspektive auseinandersetzt. Zugleich eröffnet das MMZ aber auch unter den bundesweit existierenden Institutionen zur Erforschung der jüdischen Geschichte eine eigenständige Perspektive, indem es auch die jüdische Regionalgeschichte in Brandenburg in den Blick nimmt. Die HachscharaEinrichtungen sind ja nur ein Beispiel. Wir wollen aber die Vielfalt des lokalen jüdischen Kulturerbes – von Friedhöfen über Gebäude bis hin zu besonderen intellektuellen Traditionen – betrachten. Das Besondere am MMZ in Potsdam ist auch, dass Studierende hier in Verbindung mit der Universität Potsdam den Studiengang Jüdische Studien belegen können und zudem gleich nebenan Einrichtungen haben, in denen Jüdische Theologie gelehrt wird und die Ausbildung von RabbinerInnen stattfindet. Das ist in kaum einer anderen Stadt in Deutschland möglich und wird hoffentlich auch weiter möglich sein.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).