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„Die Menschen sind grundlegend verunsichert“ – Der Soziologe Jürgen Mackert über eine Welt im Pandemie-Modus

Prof. Dr. Jürgen Mackert | Foto: Karla Fritze
Foto: Wikipedia/ CC BY 2.0 (21587635011)
Foto : Karla Fritze
Prof. Dr. Jürgen Mackert
Foto : Wikipedia/ CC BY 2.0 (21587635011)
Ein Virus hat die Welt im Griff. Alle üben sich im Abstandnehmen, Händewaschen und Zuhause bleiben. Doch die Ausnahmesituation treibt vielerorts auch Menschen auf die Straße und offenbart deutliche Risse in den sozialen Gefügen. Covid-19 ist nicht nur eine gesundheitliche Krise. Das Virus legt den Finger auch tief in die Wunde einer verunsicherten Weltgemeinschaft, der die Werte abhandengekommen sind. Heike Kampe sprach mit dem Bürgerrechtsexperten Prof. Dr. Jürgen Mackert über die soziologischen und politischen Aspekte der Pandemie.

Herr Professor Mackert, weltweit gibt es derzeit trotz der Corona-Pandemie viele Demonstrationen und Proteste. Warum gehen zum Beispiel in den USA gerade jetzt so viele Menschen auf die Straße, um gegen Polizeigewalt und Rassismus zu demonstrieren?

Wir haben in den USA ein zutiefst rassistisches politisches und gesellschaftliches System. Die Ursachen dafür liegen in der Geschichte des Landes. Die USA waren eine Siedler- und Sklavenhaltergesellschaft und die Nachfahren der einstigen Indigenen und Sklaven werden heute noch als zweit- und drittklassig behandelt. Es ist ein struktureller Rassismus, der die Menschen in prekäre Lebenssituationen und in die Armut drängt. Wir haben zudem eine martialisch aufgerüstete Polizei, die einen strafenden Staat verkörpert und massiv gegen dunkelhäutige Menschen vorgeht. Dagegen wehren sich die Menschen.

Aber warum gehen die Menschen gerade jetzt auf die Straße? Polizeigewalt aus rassistischen Motiven ist doch nichts Neues?

Es ploppt seit 1992 immer mal wieder auf. Damals gab es die ersten Massenunruhen in den USA, nachdem weiße Polizisten, die den Schwarzen Rodney King misshandelt hatten, freigesprochen worden waren. Aber in den letzten vier Jahren hat sich die Situation verschärft. Es gibt Momente, in denen sich die Menschen nicht mehr von einem Virus abhalten lassen, für ihre Rechte und ihr Überleben zu demonstrieren. Das können wir beispielsweise auch in Beirut im Libanon beobachten. Die Menschen leben vor allem in den Flüchtlingslagern auf engstem Raum und haben keinerlei Möglichkeit, Abstand zu halten. Diese Menschen sagen in die Kamera: „Ich habe keine Angst vor dem Virus, ich habe Angst zu verhungern.“ Und das ist vergleichbar mit der Situation in den USA: Wenn ich Angst davor habe, erschossen zu werden, weil ich mit dem Fahrrad falsch abbiege, dann ist mir ein Virus ziemlich egal. Erst recht, wenn es ein Gesundheitssystem gibt, das marode ist und mich im Zweifelsfall auch nicht retten wird.

Die Gefahr, sich anzustecken, wird also als zweitrangig wahrgenommen?

Wir können uns hier kaum vorstellen, dass es Umstände gibt, in denen das eigene Leben permanent bedroht ist. Wenn ich beispielsweise jeden Tag Geld verdienen muss, um etwas zu essen zu haben, kann ich nicht zuhause sitzen bleiben.

Es brodelt aber auch an anderen Orten – in Belarus, Bulgarien oder Honkong. Das Tocqueville-Paradox, das in der Soziologie und Politikwissenschaft rauf und runter gelehrt wird, besagt, dass Menschen sehr lange unterdrückt werden können, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen. Wenn es aber zu einem kleinen Entgegenkommen, zu minimalen Reformen kommt und der Deckel gelüftet wird, kann man es nicht mehr aufhalten – die Massen gehen auf die Straße! Was wir momentan beobachten, ist meiner Meinung nach die Widerlegung dieser Theorie. Weder in Hongkong noch in Palästina oder den USA – wo die Leute natürlich aus ganz unterschiedlichen Gründen protestieren  –  gibt es so etwas wie ein leichtes Entgegenkommen. In allen diesen Ländern erfahren die Menschen härteste Repressionen. Und trotzdem passiert es, dass sie massenweise auf die Straße gehen.

Was bedeutet das?

Es gibt mittlerweile derartig extreme Herrschaftsverhältnisse, die auf Unterdrückung und Entdemokratisierung setzen, dass die Menschen sich einfach wehren. Es  geht dabei oft nicht nur um politische Fragen, sondern auch um minimale Lebenschancen und wachsende Ungleichheit. Die Corona-Pandemie trifft auf eine Situation, in der Menschen grundlegend verunsichert sind. Und das ist spätestens seit der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise und der folgenden Austeritätspolitik der Fall. Das, was einmal Normalität war, funktioniert nicht mehr. Sicherheit im Job, in der Rente oder Krankenversorgung – das gibt es so nicht mehr. In einem privatisierten Gesundheitswesen geht es darum, Profite zu erwirtschaften. Um eine funktionierende demokratische Gesellschaft zu wahren, benötigt man aber öffentliche Güter. Wenn wir alles zu Waren machen  –  Wohnen, Gesundheit, Bildung  –  hat das eine enorm zersetzende Wirkung auf die sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft. Darüber sollten wir mehr nachdenken. Hinzu kommt natürlich noch die viel bedrohlichere Umwelt- und Klimakrise, die zusätzlich verunsichert. Ohne diese große Unsicherheit würde die Situation jetzt nicht so eskalieren.

Also wirkt die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger?

Ja.  Was  wir  beobachten, sind Gegenbewegungen zum Verlust von sozialer Gemeinschaft. Die Black Lives Matter-Bewegung in den USA ist eine progressive Bewegung, die Gleichheit einfordert. Was wir auf den sogenannten Hygiene- und Querdenker-Demos hierzulande sehen, ist aber etwas völlig anderes. Was hier passiert, halte ich für komplett regressiv. Nicht nur, weil es eine lediglich halbherzige Abgrenzung zu den Rechtsextremen gibt, sondern vor allem verstehen diese Leute nicht, was Demokratie ist und was ihre Rechte sind. Rechte zu haben, bedeutet nicht, dass ich alles machen kann.

Um was geht es den sogenannten Querdenkern?

Aus einem Interview mit dem Organisator Michael Ballweg im Deutschlandfunk habe ich vor allem eines herausgehört: Es gibt persönliche Freiheit und die darf niemand begrenzen. Das ist eine zutiefst neoliberale Vorstellung – radikal gedacht. Selbst der Liberalismus versteht, dass die Freiheit des einen dort aufhört, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt. Ich darf andere anstecken – das ist zugespitzt das, wofür die Demonstrierenden auf die Straße gehen. Es gibt kein politisches Ziel und kein Verständnis mehr davon, was Allgemeinheit und Öffentlichkeit bedeuten. Es geht eigentlich um reinen Hedonismus: Ich darf ohne Maske herumlaufen, weil mir niemand zu sagen hat, dass ich auf etwas anderes außer mich selbst zu achten habe. Einige der Demonstranten sind vielleicht auch überfordert. Wenn es starke demokratische Institutionen, genug Sicherheit im Alltag und genug Mitteilungsmöglichkeiten gäbe, könnten diese  Menschen Wege finden und ihre Ängste auch anders bearbeiten. Auf eine Pandemie, mit all ihren Folgen, ist unsere Gesellschaft nicht gut vorbereitet.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2020 „Digitalisierung“ (PDF).