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Naturkatastrophen aus dem Rechner – Mit digitalen Modellen trainieren Retter den Einsatz bei Überschwemmungen oder Erdrutschen

Foto: oKat-SIM
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Foto : oKat-SIM
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Stundenlang hat es gegossen wie aus Kübeln. Innerhalb kürzester Zeit ist der kleine Bach zu einem reißenden Strom angeschwollen. Wohnhäuser und Fabriken werden überschwemmt, Menschen sind in Gefahr. Es sind Szenarien wie diese, die Einsatzkräfte im Katastrophenfall herausfordern. Trotz der Ausnahmesituation gilt es, schnelle Entscheidungen zu treffen und einen kühlen Kopf zu bewahren.

Feuerwehren, Rettungsdienste, Polizei und Ordnungskräfte sind hierzulande für solche Fälle gut trainiert. Doch ein Katastrophenfall ist immer eine besondere Herausforderung, die in einer Schulung oder Weiterbildung nur schwer realistisch nachgebildet werden kann. Der Potsdamer Geologe Dr. Gerold Zeilinger entwickelt mit einem Team aus Geo- und Kognitionswissenschaftlern im Forschungsprojekt oKat-SIM ein Schulungsprogramm, das die Rettungskräfte zukünftig noch besser auf die Einsatzfälle vorbereiten soll. Dafür nutzen die Forschenden neueste digitale Methoden und eine spezielle Spielesoftware.

„Es geht darum, geologisches Know-how in Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen und für mehr Sicherheit bei den Krisenstäben zu sorgen“, beschreibt Zeilinger die Ziele des Vorhabens, das auch von drei Doktorandinnen und Doktoranden aus den Kognitions- und Geowissenschaften der Universität Potsdam und den Wirtschaftswissenschaften der Universität Lübeck untersucht wird. Das Bundesforschungsministerium fördert das Projekt, an dem außerdem die Filmuniversität Babelsberg beteiligt ist. „Je mehr Hintergrundwissen die Einsatzkräfte haben, desto besser können sie Entscheidungen treffen“, sagt der Projektleiter.

Dieses zusätzliche Wissen machen die Forschenden mithilfe von Augmente Reality (AR) –  einer computergestützten Erweiterung der Realität  –  verfügbar. Die Grundlage dafür liefern geografische und geologische Felddaten und digitale Modelle der Landschaft. Wenn die Schulungsteilnehmer eine AR-Brille aufsetzen, soll vor ihren Augen ein gewissermaßen in der Luft schwebendes 3D-Landschaftsmodell ihres jeweiligen Einsatzgebietes in Miniaturformat erscheinen. In diesem können dann Naturkatastrophen simuliert werden. Überschwemmungen, Hangrutsche, Sturzfluten, aber auch Erdbeben und Vulkanausbrüche lassen sich in den Modellen darstellen.

Erste Erfahrungen mit Simulationen dieser Art haben die Geowissenschaftler bereits im 3D-Labor des Instituts gesammelt, das ebenfalls geologische Daten – etwa Ablagerungsschichten im Meeresboden – sichtbar macht. Hier dienen die Modelle unter anderem dazu, Lagerstätten aufzuspüren. Die Wissenschaftler kamen schnell auf die Idee, dass solche Modelle auch im Katastrophenfall nützlich sein und dabei helfen können, Krisenlagen besser einzuschätzen. „Die Einsatzkräfte entwickeln beispielweise ein Gefühl dafür, wie schnell sich Flutwellen aufbauen und welche Gebiete besonders gefährdet sind“, erklärt Gerold Zeilinger die Vorteile der Methode.

Neben den 3D-Geländemodellen ermöglicht das AR-Instrument weitere realistische Effekte: Über Einspieler kommen Betroffene zu Wort  –  eine aufgelöste Mutter mit Kindern, deren Haus in Gefahr ist, oder ein Unternehmer, dessen familiengeführter Betrieb zerstört werden könnte. Das erhöht das Stresslevel bei den Einsatzkräften. Die Einsatzleitung muss sich entscheiden: Öffnet sie den einen Damm, der das Industriegelände fluten würde, oder den anderen, der das Wohngebiet unter Wasser setzt? Die Folgen der Entscheidungen sind ebenfalls sofort über das Modell sichtbar. Schritt für Schritt führt das Programm die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Gefahrensimulation  –  auf verschiedenen möglichen Pfaden. „Manchmal gibt es keinen idealen Weg“, betont Gerold Zeilinger. Aber die Konfrontation mit möglichen Szenarien trainiere die Kommunikation zwischen den Verantwortlichen und gebe den Einsatzkräften mehr Sicherheit für den Ernstfall. Ihre Reaktionen während der Simulationen werden in den ersten Testläufen, die für das kommende Jahr geplant sind, genau beobachtet: Kognitionsforscher werden Lernerfolg und Stresslevel aller Teilnehmenden im Blick behalten.

Bisher arbeiten die Forschenden mit Geländemodellen der drei Partnerstädte und -landkreise Görlitz, Leverkusen und Garmisch-Partenkirchen und bedienen damit ganz unterschiedliche Gefahrenlagen: Im Bergland von Garmisch-Partenkirchen ist das Risiko für Bergrutsche besonders hoch, in Görlitz dagegen können große Überschwemmungen den Katastrophenfall auslösen. Digitale Geländemodelle seien in Deutschland flächendeckend verfügbar, betont Gerold Zeilinger. „Momentan bis zu einer Auflösung von einem Meter.“ Das Trainingsprogramm könne also bundesweit und in jedem Terrain eingesetzt werden.

„Das Potenzial digitaler Methoden im Katastrophenschutz ist mit oKat-SIM noch lange nicht ausgeschöpft“, betont Gerold Zeilinger. Er hat bereits Pläne für ein Nachfolgeprojekt, in dem es um die Echtzeitunterstützung in Katastrophenfällen geht. Pegelstände oder Niederschlagsdaten könnten dann während des Einsatzes abgerufen und für eine genaue Simulation des tatsächlichen Katastrophenverlaufs genutzt werden. Eine enorme Hilfestellung für die Einsatzkräfte, die ihre Entscheidungen an die genauen Prognosen anpassen können. „Die Krisenstäbe unserer drei Anwendungspartner erwarten einerseits mehr Sicherheit durch die Schulungen mit realistischen Szenarien, hoffen aber ganz besonders auf die Unterstützung durch Echtzeitdaten“, sagt Zeilinger. „Da wollen wir hin.“

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2020 „Digitalisierung“ (PDF).