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„Es muss nicht alles 100 Prozent autonom sein“

Der Wirtschaftsinformatiker Norbert Gronau findet: Auf das Miteinander von Mensch und Maschine kommt es an

Prof. Dr. Norbert Gronau. Foto: Ernst Kaczynski.
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Prof. Dr. Norbert Gronau. Foto: Ernst Kaczynski.

Allein fahrende Autos, vollautomatisierte Fabriken, selbstlernende Computerprogramme: Verdrängen technische Innovationen den Menschen? Zeigt sich daran, dass Maschinen, spätestens mit dem Vormarsch der Künstlichen Intelligenz, einfach alles besser können als wir? Nein und nein, sagt der Wirtschaftsinformatiker Norbert Gronau. Er beschäftigt sich in seiner Forschung mit automatisierten Systemen – und seit einiger Zeit verstärkt mit der Frage, wie die Kommunikation zwischen Mensch und Cybersystemen so verbessert werden kann, dass alle davon profitieren.

Eine riesige Halle irgendwo im Allgäu, durchzogen von einer durchgehenden Linie, auf der unaufhörlich produziert wird. Am Anfang steht ein einzelner Motorblock, doch mit jedem Meter werden von links und rechts Teile zugeführt und von Roboterarmen zusammengesteckt, verschraubt oder verschweißt. Am Ende fahren fertige Traktoren vom Band. Automatische Systeme wie diese Fabrik sind nicht neu. Roboter tun schon seit Jahrzehnten Dienst in der Industrie, die Verkehrssteuerung von Großstädten wäre ohne komplizierte Computersysteme kaum mehr zu bewältigen. Und die Modellierung von Wetterdaten erfolgt bereits seit langer Zeit nicht mehr mit dem Rechenschieber, sondern mithilfe komplexer mathematischer Algorithmen.

Siegeszug der KI dank großer Datenmengen

„Das Problem von vielen automatisierten Systemen ist, dass man die Regelbasis ständig pflegen und überarbeiten muss, wenn sich die Umstände ändern“, erklärt Norbert Gronau, der an der Universität Potsdam die Professur für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Prozesse und Systeme innehat. Veränderungen identifizieren, sie berücksichtigen und das eigene Handeln daran anzupassen – zu lernen eben –, das war lange dem Menschen vorbehalten. Doch inzwischen würden fortgeschrittene Algorithmen eingesetzt, die selbstständig Muster in Daten erkennen können, so der Wissenschaftler. Künstliche Intelligenz ermögliche selbstlernende Systeme. Sehr beliebt und auch schon weit verbreitet seien spracherkennende Verfahren, die beispielsweise hinter virtuellen Assistenten wie Apples „Siri“ oder Amazons „Alexa“ stecken. Versteht Alexa etwas nicht, fragt es nach und kann sich gleich korrigieren. Daran erkenne man aber auch, dass KI-Systeme vor allem eines brauchen: viele Daten. „Siri profitiert von rund einer Milliarde Nutzern, die täglich mehrere Gigabyte Daten produzieren.“ Insofern passe der Innovationsschub in die Zeit: Erst seitdem an vielen Stellen massenweise Daten erhoben und gesammelt würden, könnten KI-Systeme gezielt entwickelt und sinnvoll eingesetzt werden. Die Entwicklung individueller medizinischer Therapien, die Erforschung alter DNA oder die Analyse umfangreicher seismischer Zusammenhänge profitieren in großem Maße von den neuen Möglichkeiten. Gleichzeitig macht die Abhängigkeit von großen Datenmengen die Grenzen der KI-Systeme deutlich. „Eine Werft baut im Jahr vier Kreuzfahrtschiffe, da hat KI wenig zu lernen.“ Fälle wie diese gebe es viele: Wenn sich Zusammenhänge, Probleme oder Aufgaben nicht in „große Zahlen“ überführen lassen, kann auch KI nicht bei ihrer Bearbeitung helfen.

Doch schon jetzt zeigt sie vielerorts ihr Potenzial – und auch ihre Überlegenheit: „Maschinen sind immer besser darin, in Standardsituationen bei guter Datengrundlage mit hoher Präzision die richtigen Entscheidungen zu treffen“, sagt der Wirtschaftsinformatiker. Damit machten sie aber den Menschen keineswegs überflüssig. Denn dieser sei überlegen bei schlechter Datengrundlage, wenn Einzelfallentscheidungen zu treffen und Intuition nötig seien oder Kreativität gebraucht werde. Dies habe schon jetzt gravierende Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Viele Tätigkeiten werden von Maschinen oder Programmen ausgeführt, weil diese schneller, präziser oder effizienter sind als Menschen. „Roboter sorgen als Zeichen der Digitalisierung nicht überall für Begeisterung“, sagt Gronau. „Viele Menschen befürchten, durch diese ihren Job zu verlieren. Aber ich bin mir sicher: Die Automatisierung schafft Arbeitsplätze. Und wir sollten selbstbewusst bleiben, denn Cybersysteme sind unsere Helfer – und bleiben es auch.“ Für die menschliche Arbeit bringe die Digitalisierung eine Tendenz zur Despezialisierung mit sich, erklärt der Forscher: Tätigkeiten, für die man früher Expertenwissen brauchte, übernehmen jetzt sogenannte Assistenzsysteme. So benötigt eine Tageszeitung keinen Setzer mehr, weil Redakteure die Artikel selbst in das entsprechende Programm einfügen. Dafür werden zunehmend Menschen gebraucht, die diese Systeme planen, kontrollieren oder weiterentwickeln und dafür von vielem etwas verstehen.

Autonome Fabriken von morgen schon heute simulieren

Aber wie lassen sich die technischen Helfer künftig am besten einsetzen? Schon lange forscht Norbert Gronau zu den Möglichkeiten, die autonome Systeme bieten. „Lange waren die Maschinen und Werkstücke in einer Fabrikanlage dumm. Die eine verarbeitete Tausende Teile und wusste nichts darüber. Das andere hatte keine Ahnung, was es ist, wo es herkommt und ob es wichtig oder unwichtig ist“, sagt Norbert Gronau. Doch das ändere sich gerade. Immer mehr Maschinen, aber auch Werkstücke würden mit Sensoren, Minicomputern und Kommunkationstechnologien ausgestattet. Damit könnten die vernetzten Teile einer vollautomatisierten Fabrik Daten sammeln und auswerten, miteinander kommunizieren – und den Fertigungsprozess nahezu vollständig allein organisieren, optimieren und auch weiterentwickeln. Eine Idee, der sich Gronau und sein Team bereits seit Jahren in verschiedensten Projekten widmen. Dafür haben sie auf dem Uni-Campus in Griebnitzsee eigens eine Anlage entwickelt. Sie besteht aus einem Förderband, tunnelartigen Boxen mit Touch-Displays und Bildschirmen, einem Roboterarm, etlichen Sensoren, Scannern, Antennen, Kabeln – und einer kleinen Metallkiste, an der ebenfalls rundherum Displays angebracht sind. LUPO – wie das System zu „Leistungsfähigkeitsbeurteilung unabhängiger Produktionsobjekte“ anfangs hieß – hatte die Aufgabe, als virtuelle Fabrik beliebig viele Produktionsabläufe zu simulieren. Dadurch konnten die Forscher gemeinsam mit Wirtschaftspartnern Produktionen entwerfen und testen, die es noch gar nicht gab – von der Schokoladen- bis zur Autofabrik.

In einem weiteren Projekt hat das Team für Partner aus der Industrie evaluiert, wie autonom deren Produktionsstätten arbeiten. „Mit LUPO konnten wir stufenlos die Autonomie der Fabrik bestimmen“, erklärt Norbert Gronau. „Die spannende Frage ist: Welcher Grad an Autonomie ist der richtige?“ Untersucht wurde dabei auch die erwähnte Allgäuer Traktorenfabrik. Dabei habe sich gezeigt, dass die Struktur der Fabrik – der Aufbau eines Traktors vom Motor bis zu den Rädern – viel vorgibt, mehr Autonomie sei allenfalls bei der Zuführung des Materials sinnvoll. Bei anderen Fabriken mit weniger stark strukturierten Abläufen, etwa in der Einzelfertigung von Maschinen, habe die Simulation ergeben, dass die Fertigung effizienter wird, wenn die vernetzten Anlagen diese autonomer koordinieren.

Ein Betriebssystem für eine Fabrik

Mittlerweile hat sich die raumgroße Minifabrik zum „Forschungs- und Anwendungszentrum Industrie 4.0“ (AZI 4.0) gemausert. Und neben der Frage nach der Autonomie der Systeme ist für Norbert Gronau die nach der Beziehung zwischen Mensch und Maschine getreten. Denn dieses Verhältnis ist für ihn zukunftsweisend – aus verschiedenen Gründen. „Es muss nicht immer alles 100 Prozent autonom sein“, so der Forscher. „Viel wichtiger ist eine funktionierende Kommunikation zwischen Mensch, Maschine und Werkstück. Das wäre so etwas wie das Betriebssystem für eine Fabrik. Und auch wenn das noch ein bisschen Zukunftsmusik ist, es wird kommen – und davon profitieren dann alle Seiten.“

Denn zum einen sei auch ein lernendes System auf Feedback durch jene angewiesen, die es steuern. Dafür müsse es sich aber auch ausdrücken können, erklären, wie es zu einer bestimmten Entscheidung gelangt ist. Die komplexen Algorithmen, mit denen es arbeitet, müssten hinter einer – auch für Nicht-Programmierer – verständlichen Ein- und Ausgabeoberfläche versteckt werden. Zum anderen stünden auch die Menschen vor der Aufgabe, ihre Rolle innerhalb der neuen cyberphysischen Systeme zu lernen. „Erst wenn sie die Maschinen nicht nur akzeptieren, sondern souverän bedienen, wird daraus eine erfolgreiche Zusammenarbeit“, so der Wissenschaftler. Mit dieser Transformation beschäftigen Gronau und sein Team sich im Projekt „Metamorphose der Fabrik“, kurz „Metamo-FAB“. „Es geht darum, Mensch und Maschine der Zukunft in die Lage zu versetzen, Hand in Hand zu arbeiten.“ Für „MetamoFAB“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, haben sich mehrere Forschungseinrichtungen – die Universitäten Potsdam und Stuttgart sowie das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK in Berlin – mit Praxispartnern zusammengeschlossen.

Im Fokus des Potsdamer Teilprojekts stehen der Mensch und sein Platz in der Industrie 4.0. In einer Fabrik mit mehr und mehr intelligenten technischen Systemen sind Mitarbeiter nicht mehr Knopfdrücker oder Einleger. „Sie werden zu flexibel agierenden Problemlösern“, so Gronau. Besonders wichtig seien die Interaktions- und die Prozesskompetenz sowie die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Diese Kompetenzen zu vermitteln, sei die Herausforderung, vor der Arbeitgeber schon jetzt stünden. Kein leichtes Unterfangen, da die Fabriken der Zukunft vielerorts noch gar nicht stehen und selbst erst noch entwickelt und erprobt werden. An dieser Stelle kommt das AZI 4.0 ins Spiel – als „Lernfabrik“. „Mit der Anlage können die Beschäftigten an ihren Arbeitsplätzen von morgen trainieren, und zwar prozessnah, individuell und mit Blick auf genau das, was sie lernen sollen“, so der Forscher. Pilot-Schulungen in Zusammenarbeit mit der IG Metall hätten gezeigt: Die nötige Kompetenz, um mit den Maschinen auf Augenhöhe zu kommunizieren, kann mensch leicht lernen.

Der Wissenschaftler

Prof. Dr.-Ing. Norbert Gronau studierte Maschinenbau und Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin. Seit April 2004 ist er Lehrstuhlinhaber an der Universität Potsdam. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Betriebliches Wissensmanagement und Wandlungsfähige Informationssysteme.

E-Mail: norbert.gronauwi.uni-potsdamde

Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Marieke Bäumer
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde