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Zum Arbeiten über die Grenze – Soziologen wollen mehr über die Situation polnischer Pflegekräfte in Berlin erfahren

Prof. Dr. Ulrich Kohler. Foto: Karla Fritze.
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Prof. Dr. Ulrich Kohler. Foto: Karla Fritze.

Unsere Gesellschaft wird älter. Die Anzahl von Seniorinnen und Senioren steigt seit Jahren. Damit verbunden ist ein noch völlig ungelöstes Problem: das der Pflege der älteren Menschen. Fachkräfte fehlen nicht nur in Heimen, sondern auch in den häuslichen Umgebungen. Was früher Töchter und Schwiegertöchter übernahmen, müssen nun – angesichts eines immer höheren Renteneintrittsalters und der in den westlichen Demokratien typischen neuen Arbeits- und Familienkonstellationen – andere Personen übernehmen. Erst recht, wenn es um den Service rund um die Uhr geht. Die Deutschen haben eine Alternative entdeckt: ausländische Pflegekräfte. Prof. Dr. Ulrich Kohler und Prof. Dr. Lena Hipp wollen deren Beschäftigungsverhältnisse untersuchen und konzentrieren sich dabei auf polnische Pflegekräfte in Berlin. Dabei nehmen sie insbesondere, aber nicht nur, solche Anstellungen in den Blick, die abseits „normaler“ Gegebenheiten liegen. Um belastbare Ergebnisse zu erzielen, erproben die Wissenschaftler und ihr Team das in Deutschland noch selten eingesetzte Respondent-Driven Sampling (RDS), ein spezielles Erhebungsverfahren nach dem Schneeballprinzip.

Sie sind die „guten Feen“ im Haus. Kommen ältere Menschen nicht mehr allein zurecht, holen deutsche Familienangehörige gern Pflegekräfte aus dem Ausland in die Wohnungen. Waschen, anziehen, Haare kämmen, selbst essen und der Gang zur Toilette wären für viele Seniorinnen und Senioren ohne deren Hilfe schlicht nicht möglich. Doch ihre Arbeit findet durchaus in einem schwierigen Feld des Arbeitsmarktes statt: schwierig und undurchsichtig. Was funktioniert hier wie? Sind die Beschäftigungsverhältnisse vielleicht sogar besser als ihr Ruf? Ulrich Kohler und Lena Hipp wollen dies genauer wissen. Laut Statistischem Bundesamt arbeiten derzeit bundesweit 330.000 Personen in ambulanten Pflegediensten. „Nach Angaben des Berufsverbandes für Pflegekräfte leben zudem zwischen 100.000 und 800.000 Pflegekräfte illegal in Privathaushalten“, so Lena Hipp. „Niemand weiß, wie viele es wirklich sind. Wir wollen herausfinden, wie die Situation wirklich ist und konzentrieren uns dabei auf Berlin.“ 

Die Beteiligten bleiben völlig anonym

Maria setzt vorsichtig die ersten Schritte ins Befragungsbüro. Ein freundlicher, junger Mann heißt sie herzlich willkommen. Er stellt ihr Fragen, die sie beantworten soll. Fragen, in denen es darum geht,  wie viele Kolleginnen und Kollegen, die in Berlin im selben Beruf jobben, sie kennt. Das Gespräch dauert nicht lange. Bald verlässt sie den Raum – und betritt ein nächstes Zimmer. Jetzt sitzt Maria am Computer. Ein Fragebogen erscheint, den sie ausfüllen muss. Die Polin ist froh, dass er in ihrer Muttersprache verfasst ist. Sie kann auf Polnisch antworten. Nachdem sie die rund 40 Fragen bewältigt hat, ist jedoch noch nicht immer Schluss. Sie öffnet eine weitere Tür auf dem Korridor. Dahinter wartet eine junge Frau auf sie. Die Studentin gibt ihr drei Coupons, die sie an Kolleginnen weiterreichen soll. Und Geld: genau 15 Euro. Ein Animationsfilm, den Studierende der Universität der Künste in Berlin erstellt haben, veranschaulicht ihr, wie sich dieses „vermehren“ kann. Denn für jede Kollegin, die sie als weitere Befragte rekrutiert, kommen erneut Euro hinzu. Sie wird sich das Geld später im  Befragungsbüro abholen können. Für heute ist ihr Pensum erst einmal geschafft. Maria hat ein gutes Gefühl. Sie unterstützt ein wichtiges wissenschaftliches Projekt. Alles ist völlig anonym gelaufen. An keiner Stelle musste sie ihren Namen oder ihre Anschrift nennen. Genau dieses Szenario ist der Plan, den sich das Team um Lena Hipp und Ulrich Kohler ausgedacht hat. Weil es durchaus nicht ohne Brisanz ist, musste das Projekt durch die Ethikkommission des WZB, diese beurteilte es als unbedenklich. „Im Prinzip könnten hier auch Kriminelle erscheinen“, erklärt Kohler den Hintergrund. „Sollte jemand im großen Stil schwarzarbeiten, würden wir von einer Straftat erfahren.“ 

Das Sampling ist unüblich, sichert aber gültige Angaben  

Im Juli soll die Feldphase starten. „Uns interessiert, wie die Frauen die 24-Stunden-Pflege  bewältigen“, sagt Ulrich Kohler. „Wie geht das?“, fragt er sich. Er setzt auf das RDS als Methode genauso wie auf den hier üblichen standardisierten Fragebogen. Dieser enthält viele Themen: die Vertragssituation, die Ausbildung der Pflegenden, deren Zufriedenheit mit der Arbeit, ihre Familienverhältnisse, finanzielle Gegebenheiten, die Work-Life-Balance … „Unser Ziel ist es, mehr über die Lebenslagen und Motivationen von Personen, die im Bereich der häuslichen Alten- und Krankenpflege beschäftigt sind, zu erfahren“, betont Kohler noch einmal. Wichtig aber sei ihm insbesondere das zweite Ziel: das im deutschen Kontext bislang wenig angewendete RDS zu erproben. Ein Erhebungsverfahren, mit dem es möglich ist, auch sehr schwer erreichbare Populationen zu erfassen und mit dem im statistischen Sinne gültige Verallgemeinerungen über bestimmte Personengruppen funktionieren. „Man kann damit so viele neue Fragestellungen angehen, die wir in der Soziologie noch nie angeschaut haben – jedenfalls nicht in repräsentativen Stichproben“, zeigt sich Kohler begeistert. RDS ist eine Schneeballmethode, von denen es mehrere in der Soziologie gibt. Sie ist jedoch die einzige, die laut Experten den Anspruch erfüllt, wirklich verallgemeinerbare Aussagen zu treffen. Und ein wesentlicher Unterschied besteht noch: Es wird nicht mit Namen gearbeitet. „Weil wir“, so Kohler, „das Kapital des Vertrauens zwischen den Personen voll nutzen wollen. Das ist die  entscheidende Voraussetzung für das Gelingen des Verfahrens.“

Mit einem kleinen „Schneeball“ fängt alles an

Gestartet wird mit rund zehn Seeds, also Ausgangspersonen. Die Wissenschaftler haben diese bereits gefunden – über umfangreiche Vorstudien. „Wenn jeder von ihnen fünf weitere rekrutiert und diese wieder fünf weitere, kann das sogar explodieren“, beschreibt Kohler eine Unsicherheit, die mit dem Verfahren verbunden ist. Wachse die Gruppe zu schnell, scheitere die Methode. Denn man benötigt lange Rekrutierungsketten, um statistisch valide Aussagen treffen zu können. Etwa 800 Personen will das Team am Ende befragen. „Wie der Prozess insgesamt verläuft, liegt nicht in unserer Hand. Das ist unser Risiko“, ist sich Kohler durchaus bewusst. Er will es trotzdem probieren. Im Notfall auch mit mehr Geld, das sie für die einzelnen Rekrutierungen ausschütten. 

Ganz bei null fangen die Wissenschaftler jedoch nicht an, wenn es im Juli in die heiße Phase des Projekts geht. Vorbereitend wurden qualitative Vorstudien durchgeführt. Auch um zu wissen, wie viele Seeds für die anfängliche Schneeballkugel nötig sind. Weil die Forschenden Berlin nicht schon „verbrennen“ wollten, gingen sie dafür nach Nürnberg. Hier wurde auch der Fragebogen getestet. „Man kann keine standardisierten Fragen ohne Pretest machen“, erklärt Kohler das Vorgehen. Der Test sei gut gelaufen. Man habe wertvolle Hinweise bekommen, um an der ein oder anderen Stelle nachzubessern. 

Die Wissenschaftler erfuhren von sehr persönlichen Geschichten. Ob diese eher Einzelfälle oder doch Muster sind, wird sich herausstellen. „Was für mich überraschend war“, so Kohler, „ist das offensichtlich oft gute Verhältnis der Pflegedienste zu den Pflegekräften. Hier liegt durchaus nicht alles im schwierigen Bereich.“ Zudem sei die Erkenntnis gewachsen, dass die Pflegekräfte, meist sind es Frauen, den Job häufig nicht aus Not übernommen haben, sondern ihn als gute Beschäftigungsmöglichkeit betrachten. Eine, die zu ihrer persönlichen Umgebung passt. Dafür wurde mitunter sogar einiges in ihrem Heimatland aufgegeben. „Das erste, vage Bild ist also positiver als gedacht. Aber es spiegelt eben die Situation an der Oberfläche wider. Wir hoffen schon, dass wir noch tiefer in die Materie eintauchen können.“ Optimistisch sind die Soziologen auch hinsichtlich der Methode. Die nötige Netzwerkdichte für die Studie scheint vorhanden. Sich auf eine verhältnismäßig „kleine“ Region wie Berlin zu beschränken, hat sich ebenfalls als richtig angedeutet. Nur so können tatsächlich verlässliche Aussagen erfolgen. „Und wir wollen eine repräsentative Stichprobe haben“, sagt Kohler. „Das ist der Anspruch der Methode.“ 

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Ulrich Kohler studierte Soziologie, Geschichte und Rechtswissenschaft an der Universität Konstanz sowie Soziologie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte/Neuere Geschichte und Öffentliches Recht an der Universität Mannheim. Kohler hat seit 2012 den Lehrstuhl für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Potsdam inne.
ukohleruni-potsdamde 

Prof. Lena Hipp, Ph.D., studierte Politikwissenschaft, Romanistik und Geschichte. Hipp wurde im Oktober 2017 zur Professorin für Sozialstrukturanalyse (insbesondere Arbeit und Organisation) ernannt. Dabei handelte es sich um eine gemeinsame Berufung mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), wo sie die Arbeitsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ leitet.
lena.hippwzbeu

Sandra Leumann studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft, Soziologie und BWL an der Freien Universität Berlin und an der Universität Potsdam. Sie ist seit 2015 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung beschäftigt und ist aktuell als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt tätig. 
sandra.leumannwzbeu 

Das Projekt

Wer kümmert sich um Oma? Eine empirische Erprobung des Respondent-Driven Sampling am Beispiel der (informellen) Beschäftigung in der häuslichen Pflege 
Laufzeit: 2017–2019
Förderung: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Fördernetzwerk Interdisziplinäre Sozialforschung
Mittel: 150.000 Euro
Beteiligt: Universität Potsdam und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Zwei Studentinnen der Universität der Künste (UdK) Berlin, Gabriela Kapfer und Nadia Zeissig, begleiten für ein Jahr das Projekt im Rahmen des „Visual Society Program“, einer Kooperation zwischen dem WZB und der UdK. Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, Grenzen der eigenen Disziplinen zu überwinden, um neue Zugänge zu gesellschaftlich relevanten Themen zu schaffen und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse analytisch fundiert visuell umzusetzen. Dafür nahmen sie an zahlreichen Fragebogenbesprechungen teil und dokumentierten diese als sogenannte Graphic Recordings. Während sie so der Arbeitsweise von Sozialwissenschaftlern näher kamen, gewannen  die Forscher neue Perspektiven auf ihre eigene Arbeit. Darüber hinaus unterstützen die Studentinnen das Projekt durch die grafische Umsetzung von Untersuchungsmaterialien. Dazu zählt der Animationsfilm, der den Befragten die Weitergabe der Coupons erklärt.

 

Das Respondent-Driven Sampling (RDS) ist ein in Deutschland noch nicht etabliertes   Erhebungsverfahren in der Soziologie und stellt eine Alternative zu herkömmlichen registerbasierten Stichproben dar. Die Rekrutierung im RDS erfolgt nach einem Schneeballprinzip. Gezielt ausgewählte Startpersonen, sogenannte Seeds, werden befragt und erhalten eine begrenzte Anzahl an Coupons, mithilfe derer sie – unterstützt durch finanzielle Anreize – neue Probanden gewinnen sollen. Diese wiederum erhalten ebenfalls Coupons zur Rekrutierung. Die Beziehung zwischen den rekrutierten und den rekrutierenden Personen gibt eine Seriennummer auf den Coupons wider.

Damit die Methode funktioniert, muss zudem die Netzwerkgröße der Befragten erhoben werden. Gelingt das RDS, ist es möglich, statistisch gültige Stichproben über „versteckte“  Bevölkerungsgruppen zu erhalten.

Ein mathematisches Modell des Rekrutierungsprozesses gewichtet die Stichprobe, um nicht-zufällige Rekrutierungsmuster zu kompensieren. Das Modell basiert auf einer Synthese und Erweiterung von zwei Gebieten der Mathematik: der Markov-Kettentheorie und der verzerrten Netzwerktheorie.

 

Text: Petra Görlich
Online gestellt: Alina Grünky
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde