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Mit Nase, Ohr und Herz dem Hunger auf der Spur – Psychologen untersuchen einen vielversprechenden neuen Therapieansatz für die Behandlung von Ess- und Gewichtsstörungen

Psychologin Diana Peitz. Foto: Thomas Roese.
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Psychologin Diana Peitz. Foto: Thomas Roese.

Ein knuspriges Brötchen, eine saftige Mango oder eine wärmende Suppe – unsere Nahrung spricht viele Sinne an und bedient meist mehr als nur das Bedürfnis nach einem gefüllten Magen. Doch häufig nehmen wir kaum wahr, was uns eine Mahlzeit alles zu bieten hat, und schlingen stattdessen in großer Eile das Mensaessen in uns hinein. Dabei entgeht uns einiges. Die Psychologin Diana Peitz hat ein Training entwickelt, mit dem wir lernen sollen, unserem Essen achtsamer zu begegnen. In einer Onlinestudie testet sie derzeit die Wirksamkeit dieses Trainings. Heike Kampe hat im Selbstversuch an der Studie teilgenommen und mit der Leiterin darüber gesprochen.

Ich bin die Wissenschaftsoffizierin in einem Raumschiff. Schon lange bin ich mit meiner Mannschaft in den Weiten des Alls unterwegs und langsam wird das Essen knapp. Wir landen auf einem unbekannten Planeten und begeben uns auf die Suche nach Essbarem. Vor mir auf dem Boden liegt ein rätselhaftes Objekt. Es ist etwa so groß wie eine Bohne und von einer dunklen Bernsteinfarbe. Seine Oberfläche ist voller Furchen und Dellen. Ich nehme es mit ins Raumschiff, um es genauer zu untersuchen. Es fühlt sich weich an und lässt sich verformen. Und es riecht nicht unangenehm. Ich bin mutig und nehme das Objekt in den Mund. Meine Zunge ertastet es, meine Zähne zerbeißen es, das Innere gibt eine verführerische Süße frei. Ich esse es genussvoll auf. Das unbekannte Objekt ist eine Rosine. Doch eine solche habe ich nie zuvor gesehen, ich begegne ihr zum ersten Mal.

So beginnt mein Einstieg in ein Training, das mich in den kommenden zwei Wochen begleiten und mir das Konzept des „Achtsamen Essens“ vermitteln soll. Gedanklich verlasse ich das Raumschiff, und sitze nun wieder an meinem Schreibtisch. Per Video habe ich diese Übung erhalten, die mir dabei helfen soll, aus dem Autopilotenmodus auszusteigen, der unseren Umgang mit Nahrung häufig bestimmt. Dieser kann uns daran hindern, tatsächlich wahrzunehmen, was oder wie viel wir essen. Die Tüte Chips, die wir gerade erst geöffnet haben, kann dann ganz plötzlich überraschend leer sein.

Mit meinem Training nehme ich gemeinsam mit 250 weiteren Probanden an einer Studie teil, die die Psychologin Diana Peitz wissenschaftlich betreut und in ihrer Promotion auswertet. Die Forscherin  möchte wissen, wie wirksam dieses Training ist, dessen Grundlagen aus den USA stammen. Entwickelt wurde die Kernübung von der Kinderärztin Jan Chozen Bays und der Psychotherapeutin Char Wilkins. Für Diana Peitz ist das Trainingsprogramm ein Instrument, mit dem sie mehr Achtsamkeit in unsere täglichen Mahlzeiten bringen möchte. Das Konzept der Achtsamkeit, das ursprünglich aus dem Buddhismus stammt, weckt zunehmend das Interesse von Gesundheitsforschern und Psychologen. Denn es scheint bei zahlreichen körperlichen und psychischen Störungen eine heilsame Wirkung zu entfalten. Psychotherapeuten wenden bereits erfolgreich achtsamkeitsbasierte Programme gegen Stress, Burnout, Depressionen oder Alkoholismus an. Doch was ist das eigentlich, Achtsamkeit?

„Dazu gehört die Aufmerksamkeit für das, was gerade in diesem Moment passiert, aber auch die Akzeptanz dieser Erfahrung, ohne zu werten“, erklärt Diana Peitz. Die Psychologin ist überzeugt davon, dass gerade Essstörungen mithilfe eines Achtsamkeitsprogramms positiv beeinflusst werden können. „Metaanalysen belegen durchweg positive Effekte dieser Programme auf pathologisches Essverhalten. Die Forschung steht jedoch gerade erst am Anfang, besonders in Deutschland.“

Soweit die Theorie. Nachdem ich einen ausführlichen Online-Fragebogen ausgefüllt habe, der nach meinen Essgewohnheiten, Einstellungen und Gefühlen sowie nach Größe und Gewicht fragt, beginne ich nun also damit, mir achtsames Essen anzutrainieren. Dazu habe ich für jeden der 14 Trainingstage ein Protokoll erhalten, das ich ausfüllen soll. Auf einer Skala von Null bis Zehn soll ich meinen Hunger für eine beliebige Mahlzeit des Tages bestimmen. Doch dies ist keineswegs so trivial wie es klingt. Denn Hunger ist nicht gleich Hunger. Neun verschiedene Hungerarten werden mir gleich zu Beginn des Programms in einem Video vorgestellt.

Auge, Nase, Mund, Ohr, Tastsinn, Herz und Geist – sie alle haben eine Art von Hunger, der auf unterschiedlichen Wegen befriedigt wird, lerne ich. Nicht zu vergessen natürlich der Magen, der z.B. durch Knurren ganz eindeutige Hungersignale  senden kann. Auch der Augenhunger wird nicht so schwierig zu bestimmen sein, denke ich. „Das Auge isst mit“, weiß der Volksmund. Sieht eine Mahlzeit lecker aus und ist ansprechend hergerichtet, läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Ähnlich ist es mit dem Nasenhunger, denn schließlich regt ein angenehmer Geruch den Appetit an. Doch was ist mit dem Geisteshunger? Schon schwieriger. Komplett ratlos bin ich bei der Frage nach dem Zellhunger. Wie, um Himmelswillen, soll ich in meine Zellen hineinhören und wissen, welche Nahrung diese gerade benötigen? „Eine Frage des Übens, bei der Achtsamkeit helfen kann“, sagt mir das Einleitungsvideo. Ähnlich, wie wir genau wissen, wann wir durstig sind, könnten wir wieder lernen wahrzunehmen, welche Nährstoffe unser Körper gerade benötigt.

Einmal am Tag spüre ich vor und nach einer Mahlzeit in mich hinein, beobachte das Aussehen und den Geruch meiner Nahrung und beurteile, wie groß das Verlangen ist, diese zu vertilgen. Recht schnell merke ich: Es fällt mir gar nicht so leicht, mir jeden Tag die fünf Minuten Zeit zu nehmen, mich intensiver mit meinem Essen zu beschäftigen. Tatsächlich finden meine Mahlzeiten offenbar kaum in Ruhe statt, sondern werden oft irgendwie dazwischengeschoben und schnell „abgearbeitet“, während meine Gedanken um ganz andere Dinge kreisen. Es ist ein bisschen irritierend, erst einmal zu erspüren, welche Hungergefühle das Frühstücksbrötchen in mir auslöst, anstatt einfach schnell hineinzubeißen. Der Autopilotenmodus lässt sich nicht so leicht abstellen.

Die Tage vergehen und langsam macht mich etwas stutzig: Auf meinem Zettel steht bei keiner der neun Hungerarten, die ich ermitteln soll, eine Zehn. Ja nicht einmal eine Neun oder eine Acht. Scheinbar habe ich selten wirklich Hunger. Kein Wunder: Eigentlich esse ich ständig irgendetwas zwischendurch – ein Stück Schokolade, Weintrauben, Erdnüsse oder ein Käsebrot. Meist nebenbei, während ich beim Arbeiten auf den Bildschirm schaue. Ein typischer Fall von Unachtsamkeit beim Essen. Ein schlechtes Gewissen habe ich trotzdem nicht. Denn immer wieder werde ich in Erinnerungsmails und Anleitungen darauf hingewiesen, freundlich und mitfühlend mit mir selbst zu sein. Es geht um Wahrnehmung, nicht um Wertung. „Ein schlechtes Gewissen bringt nichts“, erklärt Diana Peitz. „Davon ändert niemand sein Essverhalten. Mitgefühl kann einen neuen Zugang bieten, um das Essverhalten zu beeinflussen.“

Am achten Tag ist es endlich soweit: Ein Stück Himbeerkuchen mit Sahne lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich will es unbedingt essen. Aber ich weiß auch ganz genau, dass es nicht in erster Linie mein Magen ist, der furchtbar hungrig ist. Der Magenhunger bekommt nur eine Sechs. Aber mein Mund will die saftigen Himbeeren und die zarte weiche Sahnecreme spüren, mein Herz giert nach einem süßen, fetten Stück Kuchen, das mich tröstet und wohlig entspannt. Ich will es mir gut gehen lassen. Die ersten dicken Zehnen trage ich nun in die Spalten für Mund- und Herzhunger ein.

Für Diana Peitz ist diese Diskrepanz zwischen den einzelnen Hungerarten, die sich durch alle meine Mahlzeiten zieht, nicht überraschend. „Wir essen aus vielen verschiedenen Gründen“, erklärt die Studienleiterin. „Gerade der Herzhunger ist zentral und verleitet uns oft zum Essen. Aber die unterschiedlichen Bedürfnisse sind uns häufig nicht bewusst.“ Die Folge: Wer achtlos Essen in sich hineinschaufelt, ist anschließend nicht wirklich satt und zufrieden. „Wir fühlen uns irgendwie unbefriedigt“, sagt Diana Peitz. Um die Lücke zu füllen, werde noch mehr gegessen – obwohl der Magen eigentlich voll sei.

Genau an dieser Stelle setzt das Programm an. „Wenn wir uns darüber klarwerden, dass Hunger nicht einfach Hunger ist, können wir bewusstere und eigenverantwortlichere Essentscheidungen treffen, anstatt Automatismen und alten Gewohnheiten zu folgen“, erklärt Peitz. Besonders für Menschen, die ein problematisches Essverhalten an den Tag legen – auch wenn sie etwa an einer Binge-Eating-Störung mit unkontrollierbaren Essattacken oder Adipositas leiden – könnte die Übung hilfreich sein, hofft Peitz.

Ob die Intervention tatsächlich wirkt, bleibt abzuwarten. Am Ende des zweiwöchigen Trainingsprogramms fülle ich den Fragebogen erneut aus. Meine Daten fließen wie diejenigen der anderen Teilnehmenden und einer Wartekontrollgruppe, die das Training zeitverzögert absolviert, in die Auswertung ein. Nach drei Monaten werde ich erneut befragt – schließlich wollen die Forscher wissen, ob ein eventuell eintretender Effekt auch langfristig anhält.

„Vieles von unserem Essverhalten ist automatisiert“, erklärt Diana Peitz. „Deswegen ist es auch so schwierig, alte Gewohnheiten abzulegen.“ Das Programm – so die Hoffnung der Forscherin – soll neue Gewohnheiten schaffen, um das Ernährungsverhalten bewusster zu steuern. „Das Training ist nur ein kleiner Baustein“, betont sie. Dennoch erwartet sie kleine, aber messbare Effekte.

Meine letzte Mahlzeit, die ich ins Hungerprotokoll eintrage, ist ein Gemüseeintopf. Ich habe sorgfältig Kartoffeln, Möhren und Rote Bete geschält und gewürfelt, zarte grüne Bohnen vom Balkon geerntet und alles fein abgeschmeckt. Ich freue mich auf die Mahlzeit. Ich nehme die Farben wahr – das leuchtende Rot der Bete und das satte Grün der Bohnen. Doch irgendetwas fehlt noch auf dem Teller. Ein Klecks saurer Sahne oben drauf. Trotzdem bin ich immer noch nicht zufrieden. Erst als ich noch rasch etwas Schnittlauch vom Balkon hole und als i-Tüpfelchen auf die saure Sahne streue, passt alles. Das gibt eine Zehn auf der Augenhunger- Skala. Ob ich mir diese Aufmerksamkeit und Wertschätzung für meine Mahlzeiten und meine Bedürfnisse auch in Zukunft erhalten kann? Oder übernimmt der Autopilot schnell wieder das Ruder? Mein Essen wird es zeigen.

 

DAS PROJEKT

Die Psychologin Diana Peitz, die am Lehrstuhl Beratungspsychologie von Prof. Dr. Petra Warschburger promoviert, untersucht gemeinsam mit den Studentinnen Hannah Micklitz und Magdalena Fuchs in einer Studie mit 250 Probanden, ob die Intervention positive Effekte auf das Essverhalten und die Wahrnehmung hat. Künftig könnten ähnliche Programme in der Behandlung von Ess- und Gewichtsstörungen eingesetzt werden.

www.essperience.de

DIE WISSENSCHAFTLERIN

Diana Peitz studierte Psychologie an der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg und an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 arbeitet sie an der Universität Potsdam und widmet sich in ihrer Promotionsarbeit dem Thema Achtsamkeit und Selbstmitgefühl beim Essen. Mit ihrem Programm Essperience bietet sie zudem gemeinsam mit ihrer Kollegin Ewgenia Roth Kurse zu Achtsamkeit beim Essen in Berlin an.

diana.peitzuni-potsdamde

Text: Heike Kampe
Online gestellt: Alina Grünky
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde