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Politik in der S-Bahn – Potsdamer Studierende haben einen unkonventionellen Rat ins Leben gerufen

Unterwegs ins Gespräch kommen: Die Aktiven des Ringrats verwickeln Reisende in der Ringbahn in Diskussionen über politische Themen. Foto: Karsten Thielker.
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Unterwegs ins Gespräch kommen: Die Aktiven des Ringrats verwickeln Reisende in der Ringbahn in Diskussionen über politische Themen. Foto: Karsten Thielker.

Ein ganz normaler Freitagabend in der Berliner Ringbahn. Die Menschen schauen auf ihr Handy, lesen die Zeitung oder ein Buch. Obwohl sie hier auf engstem Raum zusammensitzen, sprechen die wenigsten miteinander. Doch in einem Waggon sieht es heute völlig anders aus: Ein Teppich, eine Kreidetafel und ein Tisch mit Tee und Keksen sind aufgebaut. Der Ringrat tagt, eine Gruppe von Aktivisten, die mit den Reisenden über aktuelle Politik ins Gespräch kommen wollen. Auf der Tagesordnung stehen so brisante Themen wie die Proteste beim G20-Gipfel, der Rücktritt des früheren Berliner Staatssekretärs Andrej Holm oder der Einsatz von Technologie zur Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz.

Entstanden ist die Aktion aus einem Seminar am Institut für Philosophie der Universität Potsdam. Eine Gruppe von Studierenden hat mit der Unterstützung von Prof. Dr. Hans-Peter Krüger das studentische Projekt „Alle, macht die Räte!“ über Studiumplus beantragt. Im Wintersemester 2016/17 beschäftigten sich die Studierenden im Seminar mit der Idee einer „Räterepublik von unten“. 
„Ein Rat ist eine selbstorganisierte Gruppe von Menschen“, erklärt der Philosophiestudent Jup Loewe. In der Nachbarschaft, im Betrieb oder an der Universität – Räte könnten überall entstehen. Nicht der Staat richtet sie ein, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Für Loewe sind sie ein sinnvolles Werkzeug zur Selbstorganisation in der Demokratie. „Eigentlich ist das Umfeld, in dem wir uns bewegen, eher klein“, sagt Loewe. „Gerade in diesen kleinen Kreisen ist aber Selbstorganisation möglich.“ Der Ringrat sei aus dem Wunsch heraus entstanden, herrschaftsarme, rätedemokratische Strukturen wieder aufleben zu lassen. „Und die Bedingung dafür ist die Kommunikation im öffentlichen Raum“, glaubt Loewe.
„Räte habe es in der Geschichte immer wieder gegeben, sagt der Student. Zum Beispiel in der Sowjetunion, deren Name sich vom russischen Wort für Rat ableitet. „Cове́ты“ hießen zunächst die Arbeiter- und Soldatenräte, später aber auch die Führungsgremien der UdSSR. „Daher hat das Wort heute einen negativen Beigeschmack“, so Loewe. In der Berliner Ringbahn bringen die Studierenden die Reisenden wieder auf den Geschmack – mit Gesprächsstoff, aber auch mit Tee und Keksen.
„Ein guter Eisbrecher“, erklärt Loewe. Die Tafel informiert über das aktuelle Thema. Manche Passagiere fragen, was es damit auf sich habe. Andere werden von den Aktivisten angesprochen. Um eine gemeinsame Gesprächsgrundlage zu haben, recherchiert die Gruppe vor jedem Termin gründlich die Fakten und trägt sie auf einem Handzettel zusammen. Besonders positiv fand der 25-Jährige eine Unterhaltung mit einer älteren Frau, die zunächst fragte, warum ihre Meinung überhaupt von Interesse sei. Es gebe doch schon genügend Experten in den Medien. „Am Ende eines langen Gesprächs hat sie ihrer eigenen Ansicht viel mehr Wert beigemessen.“ Von einer Meinung überzeugen wollen die Aktivisten nämlich niemanden. Gerade bei so brisanten Themen wie etwa dem G20-Gipfel sei das auch gar nicht möglich – zu unterschiedlich seien die Standpunkte. Dem Ringrat gehe es vielmehr um eine Reflexion eigener Ansichten.
Loewe findet den Einblick in fremde Gedankenwelten spannend. Während manche Unterhaltungen sehr persönlich werden, lehnen andere Passagiere das Gespräch ab. „Manche kommen müde von der Arbeit und wollen nicht reden.“ Wirklich negative Reaktionen gab es aber bisher nicht. Die Ringbahn ist für die Gruppe der ideale Ort, schließlich gibt es keine Endstation, die das Gespräch beenden würde. So sind auch schon viele Passagiere ins Gespräch vertieft über ihr Ziel hinaus gefahren.
Seit Ende Januar findet die Aktion einmal im Monat statt. Zwei Runden fahren die Studierenden mit der Ringbahn durch Berlin und sprechen Zugestiegene an. In dieser Zeit unterhalten sie sich mit mehreren Dutzend Menschen: „Die Konstellationen im Abteil ändern sich ständig, schließlich geht es von Neukölln über Charlottenburg und Wedding bis zum Partyvolk nach Friedrichshain“, berichtet Loewe. „Fast ist es eine ganz normale Unterhaltung – nur dass es rundherum laut und voll ist.“
Zehn Studierende sind derzeit im Ringrat aktiv, von der Uni Potsdam aber auch von anderen Hochschulen. Eine rein studentische Aktion will der Ringrat eigentlich nicht sein. Daher verteilt Loewe Infoblätter für Passagiere mit einer Anleitung für den eigenen Rat. „Am besten wäre es, wenn sich die Idee verbreiten würde.“

Text: Jana Scholz
Online gestellt: Marieke Bäumer
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde