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Kulturen der Intelligence – Wie Nationen ihre Nachrichtendienste sehen

Prof. Dr. Sönke Neitzel. Foto: Thomas Roese
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Prof. Dr. Sönke Neitzel. Foto: Thomas Roese

1903 wurde einer der ersten Spionageromane überhaupt veröffentlicht. „The Riddle of the Sands“ des irischen Autors Robert Erskine Childers behandelt die Geschichte eines jungen Engländers, der von einem Bekannten vorgeblich zur Entenjagd an der deutschen Ostsee eingeladen wird. Tatsächlich soll er aber mit dem ehemaligen Studienkollegen Karten des Terrains für das Vereinigte Königreich erstellen. Denn die Deutschen scheinen einen Krieg gegen die Briten zu planen. Als der Roman erschien, versetzte das nicht nur Literaturliebhaber in Aufregung. Die britische Admiralität ließ anschließend angeblich drei Flottenbasen einrichten und das Deutsche Kaiserreich entfernte einen Steinwall bei Norddeich, um zu verhindern, dass die Briten im Falle eines Krieges dahinter Schutz suchen könnten.



Das Forschungsprojekt „Kulturen der Intelligence“ untersucht solche Zusammenhänge zwischen den öffentlichen Repräsentationen der Nachrichtendienste in der Populärkultur und der tatsächlichen nachrichtendienstlichen Praxis. „Im Vordergrund steht für uns dabei der kulturgeschichtliche Diskursraum in Literatur, Film und Massenmedien“, sagt der Militärhistoriker Prof. Dr. Sönke Neitzel. Zugleich lässt das Projekt Aussagen über die nationalen Eigenheiten der Geheimdienstkulturen in Deutschland, Großbritannien und den USA zu. Seit 2012 beschäftigt sich die Forschergruppe mit der Entwicklung der militärischen Nachrichtendienste von 1880/90 bis 1947. Anhand von kulturellen Zeugnissen erarbeiten drei Doktoranden die nationalen Spezifika dieser Zeit. Nun wurde das von der Gerda Henkel Stiftung finanzierte Forschungsprojekt um ein weiteres Jahr verlängert.

Der moderne Intelligence-Apparat entsteht

„Geheimdienste sind das zweitälteste Gewerbe der Welt“, so Neitzel. Die Vermittlung geheimer Informationen über Codes gab es zwar schon in der Antike. Vor der Globalisierung war Wissen jedoch begrenzt. Bis zum 19. Jahrhundert handelte es sich daher vielmehr um einzelne Experten, die für einen Kaiser oder Kanzler bestimmte Informationen beschafften. Die Entstehung der modernen Nachrichtendienste ist laut Neitzel ein Ergebnis der umwälzenden Veränderungen durch die Industrialisierung. „Als am Ende des 19. Jahrhunderts Dampfschiff, Telegraf und Massenmedien die Welt erfahrbar machen, entsteht der moderne Intelligence-Apparat.“ Die Explosion des Wissens machte die Technisierung und Professionalisierung der Nachrichtendienste erforderlich. Die „Intelligence“ bildete sich aus: Der vor allem im englischsprachigen Raum verbreitete Begriff bezeichnet Nachrichten- und Geheimdienste und deren Tätigkeit des Sammelns und Auswertens von Informationen.

Dass es tatsächlich national spezifische Kulturen der Intelligence gibt, haben die bisherigen Forschungen bereits gezeigt. So hinkten die USA in der ersten Entwicklungsphase deutlich hinterher. Erst während des Zweiten Weltkriegs begannen sie, sich diesbezüglich zu orientieren. „Die Take-Off-Phase begann für die Amerikaner mit dem Eintritt in den Krieg 1941“, so Neitzel. Nach Kriegsende gründeten sie die zentralen Intelligence-Behörden wie die National Security Agency (NSA) und die Central Intelligence Agency (CIA) und zwar als nicht-militärische, zivile Einrichtungen. In dieser Zeit bildeten sich gleich Dutzende Geheimdienste aus – allerdings mit schwacher Zentrale. Dadurch bestehe bis heute zwischen den verschiedenen US-amerikanischen Intelligence-Services zum Teil eher Konkurrenz als Zusammenarbeit, erklärt der Historiker.

Die Briten hingegen sind Nachrichtendienstler der ersten Stunde. „Nirgends ist Spionage so populär wie in Großbritannien“, sagt Neitzel. Ein ehemaliger Chef des MI6 (Secret Intelligence Service) sagte über seine Spionagetätigkeit während des Kalten Kriegs einmal: „It was great fun“, deutsch: „Es machte großen Spaß“. Die Briten entwickelten laut Neitzel eine eigene Form der Selbstdarstellung in Sachen geheimdienstlicher Arbeit: Spionage galt und gilt als elegant – als „cool“.

Deutschland wiederum habe eine „Nicht-Intelligence-Kultur“. „Spione sind undeutsch“, so lautete ein Topos im öffentlichen Diskurs, stellt der Militärhistoriker fest. Das deutsche Nachrichtendienstwesen gilt im Ausland zwar als technisch vorbildlich; aber Geheimnisse behalten, so kolportieren das Briten immer wieder, das könnten die Deutschen angeblich nicht. „Entsprechend spielen auch Spionageromane in Deutschland kaum eine Rolle“, erklärt Neitzel. Die wenigen, die es gibt, gelten meist als Schundromane. Und der einzige Film über den Bundesnachrichtendienst (BND) aus den 1960er Jahren, „Mister Dynamit – Morgen küsst euch der Tod“ mit Lex Barker, war ein Flop. „Die Deutschen schauen lieber James Bond.“ Weder während der Zeit des Kaiserreichs noch in der Zwischenkriegszeit entwickelte Deutschland eine populäre Spionagekultur. Neitzel vermutet, dass die Populärkultur dann während des Kalten Krieges Geheimdienste als Thema entdeckt haben könnte. „Um die These zu bestätigen, wären aber weitere Recherchen für die Zeit nach 1947 notwendig“, sagt Neitzel. Insofern sei eine Fortsetzung des Forschungsprojekts überaus sinnvoll.

Hinter der Intelligence steht die nationale Militärkultur

„Der britische Geheimdienst ist eingebettet in eine größere Kultur“, erklärt der Historiker. Spionageliteratur lese man etwa am College, das Nachrichtendienstwesen sei Teil der allgemeinen kulturellen Bildung. In Deutschland dagegen gehörten in früheren Jahrzehnten wohl eher Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ zur klassischen Lektüre über den Krieg, gewiss aber nichts über Geheimdienste. Daraus leitet Neitzel verschiedene „Footprints“ in der militärischen Kultur ab: Die deutsche Kriegsführung war auf Entscheidungsschlachten wie 1870 bei Sedan gegen Frankreich aus. Es ging um die Bewährung des Mannes im Kampf.

Die Briten dagegen kämpften traditionell längere Kriege und hätten etwa in den zahlreichen Auseinandersetzungen mit Frankreich auf Blockaden der Häfen gesetzt. „In Großbritannien gilt die indirekte Kriegsführung. Anerkennung erhält man in der militärischen Tradition Deutschlands dagegen im Graben liegend.“ Dass die Deutschen von der perfekten Schlacht besessen seien, ziehe sich durch bis in den Kalten Krieg. Während man im deutschen Militär Karriere in der Truppenführung mache, sei Erfolg bei den Briten auch im Intelligence-Apparat möglich. „Die Briten dachten Kriege komplexer als die Deutschen“, erklärt Neitzel.

Das zeige sich auch an der Organisation des Generalstabs: Während in der britischen Militärkultur an erster Stelle die Logistik (die Verteilung von Material und Personal), an zweiter die Intelligence und an dritter die Operation (also die Führung der Truppen an der Front) stehe, sei der deutsche Generalstab völlig anders sortiert. Priorität habe die Operation, es folge die Logistik und an letzter Stelle stehe das Nachrichtendienstwesen. Neitzel und seine Forscherkollegen gehen aber davon aus, dass sich militärische Traditionen nicht allein beim Militär, sondern auch außerhalb des Militärs ausbilden. Diesen Zusammenhang methodisch darzulegen, ist allerdings nicht unproblematisch. „Zwar können wir die Diskurse beschreiben, aber die Interferenzen zwischen Gesellschaft und Militär zu belegen, ist wahnsinnig schwierig.“

Nachrichtendienste zwischen Sammeln und Auswerten

Während britische Spione und Agenten emsig ihre Memoiren schreiben, ist das in Deutschland unüblich. Der Gründungspräsident des BND Reinhard Gehlen veröffentlichte zwar in dem Buch „Der Dienst“ seine Erinnerungen; eine Breitenwirkung erlangte sein Werk aber nicht – womöglich wegen Gehlens nationalsozialistischer Vergangenheit. Andersherum erfuhren die Deutschen aus den Memoiren britischer Spione, dass sie im Ersten Weltkrieg abgehört worden waren – lange nach Ende des Krieges. Mit der Informationsexplosion im 19. Jahrhundert gewannen die gezielte Sammlung und die Produktion von Wissen zunehmend an Bedeutung für die Nationalpolitiken. Wie mit den gesammelten Informationen umgegangen wird, ist allerding bis heute problematisch. Das zeigen die Abhörtechniken etwa der NSA, aber auch anderer Nachrichtendienste. „Das Forschungsprojekt ist daher aktueller, als wir zunächst gedacht hatten.“

Ob ein Nachrichtendienst nur Informationen sammelt oder auch Berichte für staatstragende Organe verfasst, sei national verschieden. „Die Briten sind vor allem Sammler, der BND dagegen sammelt und wertet gleichzeitig aus.“ Welche dieser Berichte Bundeskanzlerin Angela Merkel letztlich lese, wisse man natürlich nicht. Die „Wissensabnehmer“ müssen nicht an jedem abgehörten Funkspruch interessiert sein. So glaubte etwa Stalin geheimdienstlichen Informationen zunächst nicht, die besagten, dass Deutschland angreifen werde – obwohl es 1941 genauso kam. Die Politik glaubt letztlich das, was sie will, wählt bestimmte Informationen aus und lässt andere fallen. Zugleich ist ein Nachrichtendienst auch nicht in der Lage, die Zukunft vorherzusagen. Kein Nachrichtendienst könne in Putins oder in Assads Kopf blicken, sagt Neitzel. Vor einigen Jahren war zu lesen, der BND habe den Sturz Assads vorausgesagt. „Im Grunde kann solche Fragen jedoch kein Intelligence-Service beantworten“, sagt Neitzel. Fest steht für den Militärhistoriker aber eines: „Wie die Politik die Informationen der Nachrichtendienste in Handeln übersetzt, hängt auch mit der Kultur eines Landes zusammen.“ So gebe es in der deutschen Öffentlichkeit „eine schreiende Unkenntnis“ darüber, was ein Nachrichtendienst ist und was er macht. Hierzulande gibt es dementsprechend auch nur sehr wenige Intelligence-Experten. Dagegen kann man im Vereinigten Königreich sogar einen Studienabschluss in „Intelligence Studies“ machen, in den USA ist es ähnlich.

Zum Geheimdienst-Projekt kam Neitzel über seine Forschungsarbeit zu Verhören von Kriegsgefangenen. Er hatte die Abhörprotokolle der Briten und Amerikaner von deutschen Militärs untersucht. „Die Briten waren extrem erfolgreich darin, die Deutschen zum ‚Singen‘ zu bringen“, stellt der Militärhistoriker fest. Daraus ergab sich die Frage: Warum waren die Deutschen dazu nicht ebenfalls in der Lage? Tatsächlich kontrollierten die Deutschen sogar ihre eigenen Verhörer mit Mikrofonen – und nicht die Verhörten. Der Historiker fragte britische Kollegen nach ihrer Einschätzung für den Grund dieses Missverhältnisses. Für sie sei klar gewesen, dass Deutschland kein Vorbild in Sachen Intelligence war. Als Beispiel nannten sie das „Zimmermann-Telegramm“ von 1917, das die Briten mit Leichtigkeit hatten abfangen können. Dabei war sein Inhalt pikant, das Versenden fahrlässig: Darin wurde den Mexikanern ein Bündnis vorgeschlagen, sollten die US-Amerikaner in den Krieg eintreten. Aus dem Austausch mit den britischen Kollegen ergab sich für Neitzel die Frage, ob sich nachweisen lässt, dass die Kultur der Intelligence in Deutschland weniger ausgeprägt ist als etwa in Großbritannien. Von den Ergebnissen des Projekts erwartet der Forscher viel: „Historiker können einen Beitrag dazu leisten, die Probleme der Intelligence zu erkennen. Daraus kann die Politik wichtige Schlussfolgerungen ableiten.“

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Sönke Neitzel studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er lehrte und forschte danach an den Universitäten Mainz, Glasgow, Karlsruhe, Bern und Saarbrücken. Seit Oktober 2015 ist er Professor für Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

Kontakt

Universität Potsdam
Historisches Institut
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
E-Mail: soenke.neitzeluni-potsdamde

Das Projekt

Kulturen der Intelligence: Ein Forschungsprojekt zur Geschichte der militärischen Nachrichtendienste in Deutschland, Großbritannien und den USA, 1900–1947
Leitung: Prof. Dr. Sönke Neitzel, Universität Potsdam; Prof. Dr. Philipp Gassert, Universität Mannheim; Prof. Dr. Andreas Gestrich, Deutsches Historisches Institut in London
Förderung: Gerda Henkel Stiftung
Laufzeit: 2012–2016

Text: Jana Scholz
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde