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Die Dosis entscheidet – Sportpsychologen suchen nach Wegen, den steigenden Konsum von Nahrungsergänzungsmitteln im Sport einzudämmen

Doping oder Nahrungsergänzung? Foto: fotolia.com/goldencow images
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Doping oder Nahrungsergänzung? Foto: fotolia.com/goldencow images

Es gibt sie als Kapseln, Pastillen, Tabletten, Flüssigkeiten. Nahrungsergänzungsmittel (NEM) sind inzwischen in jeder Apotheke, jedem Fitness-Studio zu bekommen. Auch im Internet wird in großem Stil mit ihnen gehandelt. Dabei sind jene Produkte, die unsere Ernährung ergänzen sollen, nicht unumstritten. Unkontrolliert eingenommen, können sie bei bestimmten Personengruppen sogar Schaden anrichten. Gefährdet sind auch Sportler, besonders die im Leistungs- und Nachwuchsleistungsbereich. Organisationen wie das Internationale Olympische Komitee, die Welt Anti-Doping Agentur oder auch die Nationale Anti Doping Agentur Deutschland raten deshalb von der Einnahme unnötiger Substanzen ab. Auch weil sie in Verdacht stehen, Türöffner für ein späteres Doping zu sein. Doch die Appelle bleiben meist ungehört. Die Konsumkurve steigt weiter steil an. Sportpsychologen der Universität Potsdam fragen in einem aktuellen Projekt danach, wie sich der Verbrauch der Mittel eindämmen lässt. Am Ende sollen evidenzbasierte Vorschläge stehen, wie sich ein Missbrauch verhindern lässt.

Vor dem Computermonitor sitzt ein etwa 14-jähriger Proband. Konzentriert schaut er auf den Bildschirm. Doch da ist kaum etwas zu entdecken. Nur bei ganz genauem Hinsehen erahnt der Beobachter, dass dort etwas passiert. Ein Mitarbeiter von Projektleiter Prof. Dr. Ralf Brand präsentiert visuell Reize, Wörter wie „Leistung“ oder „Gesundheit“. Sie erscheinen nur sieben Millisekunden lang, das liegt unter der menschlichen Wahrnehmungsschwelle. Der Junge kann die Wörter also nicht lesen und schon gar nicht bewusst einordnen. Dennoch beeinflusst das, was der Proband eigentlich gar nicht sieht, wesentlich, wie schnell er anschließend auf länger – zwei Sekunden – dargestellte Begriffe reagiert. Es geschieht automatisch. Zum Beispiel entscheidet er sehr schnell, dass es sich bei „Kreatin“ um ein im Sport verbreitetes NEM handelt, nachdem ihm zuvor das Wort „Leistung“ präsentiert wurde. Beim Wort „Gesundheit“ – so zeigt die Versuchsreihe insgesamt – hätte es bis zur Einordnung Sekundenbruchteile länger gedauert. Für Laien ein ungewöhnliches Experiment. In den Kognitionswissenschaften aber ist es eine durchaus gängige Methode, um der informationsverarbeitenden Funktionsweise des menschlichen Gehirns genauer auf die Spur zu kommen.

Mit der inzwischen abgeschlossenen Versuchsserie haben Ralf Brand und seine Mitarbeiter Antwort auf eine wesentliche Projektfrage erhalten. Sie wollten herausfinden, warum der Griff zu NEM so häufig erfolgt. Was treibt die Sportlerinnen und Sportler an? Welche Ziele verbinden sie mit der Einnahme der Mittel? Um dies zu klären, hatte das Team zuvor konventionelle Befragungstechniken als Untersuchungsmethode ausgeschlossen. „Die Sportler wissen, dass sie keine NEM einnehmen sollen“, erklärt Ralf Brand. „Das führt bei Befragungen zu einem verzerrten Ergebnis. Man sagt, was erwartet wird.“

Das Unbewusste entscheidet mit

Die Wissenschaftler entschieden sich deshalb dafür, reaktionszeitbasierte, implizite Verfahren einzusetzen, um belastbare Ergebnisse zu erhalten. Eine offensichtlich gute Entscheidung. Denn es ist ihnen tatsächlich gelungen, dem Unbewussten im menschlichen Denken ein weiteres Stück näherzukommen. Zunutze gemacht haben sich die Forscher dabei eine Erkenntnis, die Psychologen als Theorie der Zielsysteme bezeichnen. Nach ihr ist Verhalten in großem Maße zielgesteuert, werden zu den Zielen automatisch Bewertungen, Mittelrepräsentationen und Handlungsschemata assoziiert. „In unserem Projekt sind wir davon ausgegangen, dass Athleten beim Umgang mit Nahrungsergänzungsmitteln bestimmte Dinge unbewusst und automatisch mitdenken“, erläutert der Uni-Professor. „Und zwar so stark, dass diese das eigene Tun beeinflussen können.“

Die bisherigen Experimente im Labor haben das bestätigt. Ihr Ergebnis war so eindeutig wie überraschend: Die rund 80 daran beteiligten Sportler verbanden mit NEM das Ziel der Leistungssteigerung. Es ist kognitiv differenziert ausgeprägt und mental sehr stark präsent. Das zeigt die Reaktion der Aktiven, die unter hohem Zeitdruck und völlig unbewusst angaben, womit sie die jeweiligen Reize verbinden. Gesundheit wurde weit weniger stark mit NEM assoziiert – ganz im Gegensatz zu früheren Studien von Psychologen, die für ihre Untersuchungen Antworten in Fragebögen auswerteten.

Aber was steckt hinter dem für Nicht-Fachleute ungewöhnlichen Versuch? Es ist ein sehr bemerkenswerter Prozess: Der Reiz auf dem Bildschirm, das nur wenige Millisekunden präsentierte Wort wird mit Lichtgeschwindigkeit auf der Netzhaut des Auges wahrgenommen. Die Information gelangt dann über den Sehnerv direkt ins Gehirn. Sie ist aber nur so kurz präsent, dass sie unserer Aufmerksamkeit entgeht. Man kann sie nicht bewusst aufnehmen. Trotzdem reagiert das Gehirn: Es stellt Assoziationen her. Automatisch, völlig unbeeinflusst vom Betroffenen. Unbewusstes begleitet die Menschen tagtäglich. Nicht jede Information, die in ihren Gehirnen landet, wird von ihnen auch wahrgenommen. Es kommt weit mehr an, als sie bemerken – und hinterlässt seine Spuren in automatischen Kognitionen. Fachwissenschaftler nennen das Priming.

Trotz vielfältiger Information über mögliche Gefahren setzen viele Sportler auf die Präparate

Nachwuchsleistungssportler etwa wird das alles wenig interessieren. Ihr Tagesplan ist eng gestrickt. Auf ihnen lastet ein großer Druck, von Eltern, Lehrern, Trainern, Funktionären. Um diesen Ansprüchen zu genügen und immer besser zu werden, suchen viele von ihnen ihr Heil in speziell für den Sport entwickelten NEM. Eine vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft geförderte Befragung unter 1.138 DOSB-Kaderathleten in ganz Deutschland im Jahr 2012 ergab, dass neun von zehn Sportlern zumindest einmal im Monat NEM konsumieren, fast 27 Prozent sogar täglich. Von diesen gebrauchten rund 76 Prozent zwei oder mehr Präparate gleichzeitig. „Eiweißshakes, Vitamin- und Mineralstoffpräparate, aber auch Stoffe wie Kreatin werden gern genommen“, so Ralf Brand.

Für Wettkampfsport Treibende könne dies problematisch, wenn nicht sogar gefährlich werden. Denn bei Überdosierung drohen Gesundheitsgefahren. Experten haben festgestellt, dass fehldosierte Kreatingaben zu erhöhter Krampfneigung führen, es bei zu viel Magnesium zu erheblichen Verdauungsstörungen kommen kann und große Mengen Zink sogar mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergehen. Seit 2009 informieren ausgebildete Ernährungswissenschaftler an den brandenburgischen Eliteschulen des Sports sämtliche Sportschüler der Sekundarstufe I in speziellen Unterrichtseinheiten über diese und andere Fakten. Doch mit geringem Erfolg.

Eine Studie von Ralf Brand und dessen Professoren-Kollegen Albrecht Hummel sowie Thomas Borchert aus Chemnitz beziehungsweise Leipzig macht das überdeutlich. Die drei hatten von 2008 bis 2012 jährlich mehr als 1.000 Sportschüler im Alter von 14 bis 16 zu alltagsweltlichen, psychologischen und pädagogischen Erlebensfaktoren befragt. Dabei kam heraus, dass in einzelnen Sportarten (Triathlon, Gewichtheben) mehr als die Hälfte und in den meisten übrigen (zum Beispiel Fußball, Kanu, Schwimmen) jeder dritte von ihnen regelmäßig zu NEM greift. „Hier spielt auch die soziale Norm eine große Rolle“, betont der Sportpsychologe. Sie suggeriere, dass Erfolge mit NEM leichter zu erreichen seien und dass „eigentlich alle“ Leistungssportlerinnen und -sportler diese konsumierten. Viele alltägliche Normen bleiben unausgesprochen, sind aber vielleicht gerade deshalb sehr präsent. Auch solche, die unser Verhalten leiten. „Das war einer der Gründe, warum uns der implizite Ansatz so wichtig war.“

Nicht alle im Internet gehandelten Produkte sind auch sauber

Noch fehlt es an genug Vorbildern, die dem Trend, unkontrolliert NEM zu nutzen, entgegenwirken. Denn vernünftig eingenommen und von Fachleuten begleitet, können sie durchaus für die Gesunderhaltung wichtig sein. „Das trifft nicht auf sämtliche NEM zu und die Wirkung unterscheidet sich von Sportler zu Sportler, von Situation zu Situation“, so Ralf Brand. „Es wäre beispielsweise für diese Produkte eine Werbung notwendig, die den Leistungsaspekt zurückfährt und gesundheitliche Faktoren stärker betont. Im Idealfall mündet das dann in einen vernünftigeren Umgang mit ihnen.“

Ein ganz heißes Thema im Zusammenhang mit NEM stellt „Doping“ dar. Es existieren in Deutschland Fälle, bei denen Betroffene von der Welt Anti-Doping Agentur geächtete Substanzen über NEM zu sich genommen haben. Vorfälle, die hätten vermieden werden können. Denn die im Internet frei verfügbare sogenannte Kölner Liste weist NEM aus, die vom Zentrum für Präventive Dopingforschung der Deutschen Sporthochschule Köln auf anabol-androgene Steroide (Prohormone) und auf Stimulanzien getestet wurden und höchstwahrscheinlich verunreinigungsfrei sind. Gerade für junge Sportler ist das hilfreich. Denn sie nutzen das Internet gern, um NEM zu erwerben. Aber gerade hier tauchen immer wieder billig vertriebene, kontaminierte Präparate auf. Das ergab eine entsprechende Recherche in England. „Natürlich wird nicht jeder, der regelmäßig zu NEM greift, zwangsläufig zum Doper“, lenkt Ralf Brand ein. „Andererseits gibt es nach unserem Wissen wohl keinen Doping-Sportler, der nicht auch NEM konsumiert.“ Bisher liegt jedoch kein empirischer Beleg dafür vor, dass die Einnahme von NEM tatsächlich späteres Doping verursacht.

Ralf Brands Ansatz, sich mit der Theorie der Zielsysteme und impliziten Messverfahren dem Problem des steigenden NEM-Konsums bei Nachwuchsleistungssportlern zu widmen, ordnet sich nahtlos in das Forschungsprogramm der Uni-Kognitionswissenschaftler ein. Im Vordergrund stehen grundlegende Vorgänge von Kognition. Es geht um die Frage, wie unser Gehirn Information bewusst und unbewusst verarbeitet. „Unsere jüngsten Arbeiten zu NEM mit Wettkampfsportlern haben erneut gezeigt“, so Ralf Brand, „wie hochkomplex und doch untersuchbar solche Vorgänge sind“.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Ralf Brand ist Diplom-Psychologe und schloss außerdem ein Lehramtsstudium für die Fächer Sport und Englisch ab. Er promovierte 2001 in Konstanz und habilitierte sich 2006 in Stuttgart. Seit 2008 ist er Professor für Sportpsychologie an der Universität Potsdam.

Kontakt

Universität Potsdam
Strukturbereich Kognitionswissenschaften
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
E-Mail: ralf.branduni-potsdamde

Franz Baumgarten studierte Psychologie an der Universität Potsdam. Sei 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sportpsychologie an der Universität Potsdam.

Kontakt

E-Mail: frabaumguni-potsdamde

Das Projekt

Nahrungsergänzungsmittel im Sport. Ein experimenteller Zugang zur Erklärung, Vorhersage und Prävention des Konsums von kritischen Substanzen im Nachwuchsleistungssport mit Hilfe der Theorie der Zielsysteme
Leitung: Prof. Dr. Ralf Brand
Laufzeit: Januar 2015–Dezember 2016
Finanzierung: Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BiSp)

Text: Petra Görlich
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde