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Alte Sprachen und die Vorteile der Langsamkeit – Die klassische Philologin Ursula Gärtner

Wenn sie von Catulls Liebesdichtung spricht, kommt Ursula Gärtner ins Schwärmen – und das steckt an. Über den römischen Dichter Catull sagt sie, das Ich in den Gedichten scheine sich so unmittelbar über seine Gefühle zu äußern, dass jeder sich sofort angesprochen fühlt. Ursula Gärtner ist Professorin für Klassische Philologie am Historischen Institut der Universität Potsdam und wer ihr zuhört, ist geneigt, Ähnliches über sie zu sagen. In ihrem Büro – mit Blick auf die antikisierende Kolonnade – erzählt die Forscherin, was sie an ihrem Fach bewegt. „Es sind diese wunderbaren Texte, die heute noch so lebendig sind, dass sie uns direkt ansprechen. Zugleich haben sie den Reiz, fern zu sein.“ Gärtner interessiert, wie die antiken Texte gemacht sind, wie sie auf die Leser wirken. Es ist dabei vor allem die Bildsprache, die es ihr angetan hat: Bilder, die Zeichen sein können für so vieles – Emotionen, Sachverhalte oder Personen.

Wenn sie gefragt wird, ob jemand Spanisch oder doch eher Latein lernen solle, antwortet Ursula Gärtner: „Unser Vorteil ist die Langsamkeit.“ Anders als bei modernen Sprachen gehe es beim Erlernen der „Alten“ nicht darum, schnellstmöglich kommunizieren zu können, sondern sie in ihrer Funktionsweise von innen heraus zu begreifen. Zudem betont sie die traditionell kulturgeschichtliche Ausrichtung ihres Faches, die einen Zugang zu den Wurzeln Europas eröffne. „Literarische Formen wie etwa Fabeln wurden bereits in der Antike vorgeprägt und später bei Jean de La Fontaine und Gotthold Ephraim Lessing transformiert.“ Doch auch die europäische Philosophie und die Geschichtsschreibung seien von den Alten vorgeformt worden. Denn zum Untersuchungsgegenstand der Klassischen Philologie zählen keineswegs nur die Belletristik, sondern ganz verschiedene Textsorten – beispielsweise aus der Philosophie, der Medizin oder der Geschichtsschreibung. „Alle überlieferten Texte sind als Literatur lesbar. Es gibt da keine strikte Trennung.“
Gärtners besonderes Augenmerk gilt den Fabeln des Phaedrus. Sie vermutet, dass er ein höchst gebildeter Autor war, der zur Oberschicht gehörte und in seinen Texten selbst zu einem gehobenen römischen Publikum sprach. Damit widerspricht sie der bisherigen Forschung substanziell: Diese hatte Phaedrus als Freigelassenen gedeutet, der, in der Form der Fabel verhüllt, eine Anpassungsmoral geäußert habe. Gärtner jedoch glaubt an ein poetologisches Spiel in den Fabeln: „Hier ist ein Dichter am Werk, der im höchsten Maß mit der griechisch-römischen Dichtung vertraut ist und fortwährend auf bestehende literarische Topoi anspielt.“ So wandelt er zum Beispiel die in der römischen Dichtung häufig von dem hellenistischen Dichter Kallimachos übernommene poetologische Metapher ab, der zufolge man nicht auf der großen Straße, sondern auf kleinen Wegen wandeln – das heißt, neuartige, feine Dichtung vorlegen – solle. Ironisch bricht Phaedrus diese Metapher und schreibt: „Ich bin ihm [=Aesop] nachgefolgt, und habe aus dem Pfad eine Straße gemacht.“ Für Gärtner ein gelungenes Sprach-Spiel: „Diese Ironie erinnert mich an Monty Python“, sagt sie lachend. „Wenn im Film ‚Life of Brian‘ die Masse gemeinschaftlich ruft: ‚Ja, wir sind alle Individuen‘ und einer antwortet: ‚Ich nicht‘.“
Gärtner beherrscht übrigens nicht nur Latein und Alt-Griechisch, sondern auch Hebräisch. Das Hebraicum hat sie auf eigene Initiative an der Schule erworben, in einer „Hebräisch-AG“: „Zwei Jahre lang saßen wir zu dritt bei unserem Religionslehrer zu Hause mit Tee und Keksen und haben uns auf das offizielle Hebraicum vorbereitet.“ Weil Gärtners Vater damals Professor für Klassische Philologie in Heidelberg war, verschlug es die gebürtige Heidelbergerin nach dem Abitur nach Freiburg. „Ich konnte ja nicht bei meinem Vater studieren“, erzählt sie. In Freiburg studierte sie zunächst neben Klassischer Philologie auch Evangelische Theologie – nicht zuletzt aus Liebe zum Hebräischen im Alten Testament –, doch nach zwei Semestern wurde ihr klar, dass sie keine Pfarrerin werden würde. Die Leidenschaft für alte Sprachen blieb, und Gärtner promovierte mit einem Stipendium der deutschen Studienstiftung in nur einem Jahr zu Gleichnissen bei Valerius Flaccus.
Gleich auf die erste Bewerbung nach ihrer Habilitation in Leipzig erhielt sie eine Zusage: Vor 13 Jahren kam Ursula Gärtner nach Potsdam. Sie übernahm ein an der Universität Potsdam junges Fach. Erst 1995 war die Klassische Philologie hier gegründet worden. „Meine beiden Vorgänger hatten die Gründungsarbeit geleistet, wir setzten die Aufbauarbeit fort“, erinnert sich Gärtner. „Mein Kind ist der Potsdamer Lateintag“, schmunzelt sie. Als sie ihn vor gut zehn Jahren ins Leben rief, erschienen 70 Personen. Heute kommen zu den Vorträgen am Lateintag, die speziell für Latein-Schüler und -Lehrer ausgerichtet sind, 500 Teilnehmer. „Das zeigt, dass Latein kein Orchideenfach ist. Das Interesse ist riesig“, sagt sie. Die Vortragenden sind nicht nur Latinisten und Gräzisten, zahlreiche Besucher kommen aus den Nachbardisziplinen. Aus dem Lateintag entsprang auch das Projekt „www.BrAnD2. Wille. Würde. Wissen. Zweites Brandenburger Antike-Denkwerk“, das seit 2014 und noch bis 2017 von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wird. Darin treten fünf Schulen in einen Dialog mit der Universität: Ein halbes Jahr nach dem Besuch beim Lateintag im September findet im März ein Schülerkongress an der Universität Potsdam statt, bei dem die Schüler selbstgewählte Projekte zu einem vorgegebenen Thema vorstellen. Dabei werden sie von Studierenden der Klassischen Philologie fachdidaktisch betreut. Gegenstand der letzten Nachwuchstagung war der Begriff „Wille“. Dabei hat etwa eine Gruppe ein „Forum Voluntatum“, d.h. einen Marktplatz zum Thema, als Rollenspiel vorgetragen. „Die Schüler haben sich mit viel Mut und Fantasie zum Teil tief in die Materie eingearbeitet“, findet die Philologin.
Mit Gärtner hat sich im Fachbereich auch ein neuer Forschungsschwerpunkt durchgesetzt, nämlich die antike Bildsprache. Das Forschungsfeld ist hochgradig aktuell, da es sowohl an die Visual Studies als auch an die Digital Humanities anschließt. „Wir untersuchen, wie Elemente in der Literatur wirken, die vor dem Auge des Lesers Bilder erzeugen“, erklärt Gärtner. Insbesondere die Bildsprache der Gleichnisse im antiken Epos interessiert Gärtner, und das bereits seit ihrer Promotion. Damals hatte sie überlegt, alle Gleichnisse des antiken Epos in einem Buch zu sammeln. Später kam die Idee, dazu eine Datenbank anzulegen. Inzwischen nimmt dieses Vorhaben konkrete Formen an: Zusammen mit Kollegen der Tufts University in den USA arbeitet Gärtner an einem „Linked Open Dataset of Similes in Ancient Epic Poetry“ – einer Gleichnis-Datenbank. Sie beinhaltet Datensätze zu zahlreichen Suchkriterien, die u.a. abstrakte Formen (das ‚Tertium Comparationis‘) wie „Zorn“, Vergleichs-Bilder wie „Löwe“ oder auch Personen wie „Achill“ betreffen. Zugleich wird ein neues Instrumentarium geschaffen, um solche Daten auffinden, verlinken und darstellen zu können. „Wir wollen sowohl hier in Potsdam als auch an der Tufts University Studierende einbeziehen, die dabei helfen, die Gleichnisse zu suchen und in die Datenbank einzutragen“, so Gärtner. Ein Antrag auf Drittmittel ist gestellt. „Das Projekt ist ja nicht nur für die Klassische Philologie interessant, sondern für viele verschiedene Fächer.“
Vorhaben wie diese zeigen, wie fruchtbar die Forschungsergebnisse der Klassischen Philologie für die Breite geisteswissenschaftlicher Fächer sein können. Mit ähnlichem Ziel widmete sich auch die von Gärtner veranstaltete Tagung „Text Kontext Kontextualisierung“ im Juli 2015 einem elementaren wie brisanten Thema der Geisteswissenschaften. „Wenn wir von Kontexten sprechen, meinen wir meist, eine Grundlage zum besseren Verständnis eines Untersuchungsgegenstands gefunden zu haben.“ Experten aus verschiedenen Fächern stellten ihre Vorstellung von Kontext dar. Wieder ist es Phaedrus, auf den Gärtner rekurriert: Er sei der erste römische Autor gewesen, der die Fabeln zu einer eigenständigen Literaturgattung erhob. Vor ihm war es Tradition gewesen, Fabeln in einem Text zur Verdeutlichung eines Arguments zu nutzen. Mit Phaedrus wurden Fabeln zur eigenen Gattung, der Kontext ging verloren, die Deutung wurde offen und der Leser verleitet, die Fabel selbst neu zu kontextualisieren.
Auch wenn die Heidelbergerin sich an der Universität Potsdam wohlfühlt und vor 13 Jahren „außerordentlich herzlich“ von den Kollegen aufgenommen wurde, hat sie Pläne für die Zeit danach. „Mein Mann und ich haben den Traum, im Alter in Wien zu leben.“ Bis dahin ist aber noch Zeit – an der Universität Potsdam hat die Philologin nämlich noch einiges vor.

Die Wissenschaftlerin
Prof. Dr. Ursula Gärtner ist seit 2002 Professorin für Klassische Philologie an der Universität Potsdam, nach einer Oberassistenz an der Universität Leipzig und Lehrstuhlvertretungen in Potsdam und Mainz. Sie habilitierte 2000 zur Nachwirkung Vergils in der griechischen Literatur der Kaiserzeit.

Kontakt
Universität Potsdam
Historisches Institut
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
bgeyeruni-potsdamde

Text: Jana Scholz
Online gestellt: Matthias Zimmermann
Kontakt zur Onlineredaktion: onlineredaktionuni-potsdamde