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Auf direktem Umweg – Was den Zeithistoriker Frank Bösch nach Potsdam führte

Frank Bösch, Professor für Deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Uni Potsdam und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF). Foto: Karla Fritze
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Frank Bösch, Professor für Deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Uni Potsdam und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF). Foto: Karla Fritze

Das Büro von Frank Bösch ist geräumig, aber das muss es auch sein. Ein wandfüllendes Regal wird von unzähligen Ordnern beherrscht, Bücher „suchen“ sich ihren Platz in Stapeln auf dem Schreibtisch, dem Fußboden. Ein Wettstreit um die Gunst des „Bewohners“. Hier wird Wissenschaft organisiert, aber auch betrieben. Frank Bösch ist Professor für Deutsche und Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam und zugleich Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF), eine der größten geschichtswissenschaftlichen Einrichtungen Deutschlands. Rund 80 Historiker arbeiten hier in zahlreichen Projekten zur deutschen und europäischen Geschichte. Zeit für den – durchaus sehenswerten, geschichtsträchtigen – Blick auf den Neuen Markt aus den hellen Fenstern seines Büros hat Bösch wahrscheinlich selten. Zeitgeschichte ist für den 45-Jährigen eine Lebensaufgabe, die ihn bis hierher geführt hat. Dabei sei, wie er selbst meint, für seinen augenscheinlich geraden Werdegang zweierlei prägend gewesen: Orte und der Zufall.

„Eigentlich wollte ich etwas anderes studieren“, sagt Bösch. „Architektur, Chemie oder Umwelttechnik etwa. Aber weil ich mich für sehr vieles interessierte, bin ich bei der Geschichte gelandet, die es erlaubt, sich mit denkbar unterschiedlichen Dingen auseinanderzusetzen – von der Ökonomie über Medienfragen bis hin zur Politik. Da ich ein ausgeprägtes politisches Interesse habe, hat mich die Zeitgeschichte – auch als Vorgeschichte der Gegenwart – von Beginn an besonders gereizt.“

Einzigartig ist für Bösch die Geschichtsforschung vor allem dank ihres Zugangs. Mithilfe von Akten, Archiven und Quellen, die vielen Zeitgenossen, aber auch anderen Disziplinen wie den Politikwissenschaften, verschlossen blieben, bringe sie Dinge und Zusammenhänge ans Licht, die bis in die Gegenwart wirkten. In seinem 2002 erschienenen Buch „Geschichte der CDU“ etwa arbeitete sich Frank Bösch bis an die damals heraufziehende Ära Merkel heran. Dass Geschichte die Gegenwart dabei freilich nie gänzlich „einholt“, empfindet er keineswegs als Nachteil. „Die Gegenwart schärft und perspektiviert unseren Blick auf die Vergangenheit immer wieder neu, ebenso wie die Analyse der Vergangenheit unser Gegenwartsverständnis prägt.“

Nah dran sein sollte historische Forschung aber auch an den Orten der Geschichte, findet Bösch. „Geschichte spielt in der Lebenswelt um uns herum seit den 1980er Jahren eine zunehmend große Rolle. Gerade Potsdam, wo Geschichte noch ‚raucht‘ und ihre Repräsentation fortlaufend noch ausgehandelt wird, ist das überall erfahrbar.“ Beachtung finden sollten indes nicht nur die „großen Orte“, an denen Entscheidungen und Ereignisse mit weltweiten Folgen stattfanden. Denn auch am vermeintlich unbedeutenden Detail oder scheinbar geschichtsvergessenen verschlafenen Fleckchen vermag der analytische Blick des Historikers die Spuren der Zeitläufte offenzulegen, erklärt er. In der täglichen Arbeit am ZZF sind die Region und ihre eigene Ausprägung der – vor allem deutsch-deutschen – Geschichte überaus präsent. In vielen großen, aber auch kleineren studentischen Projekten und Abschlussarbeiten stünden konkrete Orte am Anfang oder gar im Zentrum der Betrachtung, etwa als er mit Studierenden die Glienicker Brücke, das Café Heider oder das Hotel Mercure untersuchte: „Als Historiker geht es darum, an kleinen, dicht recherchierten Orten und Regionen große Fragen zu beantworten“, sagt Frank Bösch. „So lassen sich beispielsweise am ‚Mercure‘, dem früheren Interhotel, die Geschichte des Tourismus in der DDR, der  Gastronomie, die internationale Baupolitik der 1960er Jahre oder auch Formen von Herrschaft in der DDR untersuchen. Auf diese Weise lässt sich zeigen, wie die scheinbar ferne Geschichte an vertrautes Wissen anschließt.“

Böschs eigener Weg als Historiker ist wiederum – gewissermaßen umgekehrt – geprägt von den Orten, an denen er tätig war. Er begann sein Studium, neben Geschichte auch Germanistik und Politikwissenschaft, in Hamburg, setzte es in Göttingen fort, wo er anschließend promovierte. Dort, im ausgewiesenen Zentrum der Parteienforschung, lag das Thema seiner Dissertation wohl nahe. Mit der „Adenauer-CDU“ legte der junge Historiker 2001 die „erste umfassend archivgestützte Geschichte der Partei“ vor. „Mich hat interessiert: Warum hat die CDU so lange stärkste Kraft in Deutschland werden können?“ Geheimnis des Erfolgs, so sein Resümee, seien vor allem Integrationstechniken gewesen, die unterschiedliche bestehende Milieus von Katholiken und Protestanten zusammenführten. Gelungen sei der Partei dies etwa durch Proporzsysteme und großzügige Zugeständnisse bei Posten, ein gutes ökonomisches Fundament und eine verbindende, gemeinsame Sprache.

Noch in Göttingen ergab sich für den Nachwuchswissenschaftler die Möglichkeit, seine Dissertation bei einem namhaften deutschen Verlag zu publizieren. Dennoch überlegte Bösch, nach der Promotion angesichts mauer Zukunftsaussichten der Wissenschaft den Rücken zu kehren und in den Journalismus oder das Lehramt zu wechseln. Bis sich 2002 eine ganz andere Gelegenheit auftat – in Form einer der ersten ausgeschriebenen Juniorprofessuren. „Das war die große Chance, frei zu arbeiten und zugleich Erfahrungen in der Lehre zu sammeln.“ Bis 2007 forschte er an der Ruhr-Universität in Bochum – inspiriert von der CDU-Spendenaffäre, die ihn schon in Göttingen beschäftigt hatte – zur Bedeutung von Skandalen und deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Normen und zwar im Kaiserreich und viktorianischen Großbritannien. Dies war ein umfassender Wechsel, den er noch heute als wichtige Bereicherung ansieht: „Als Historiker muss man natürlich Spezialist sein, aber ich finde es gut, alle fünf Jahre das Thema zu wechseln.“

Durch seine Forschungen konnte Frank Bösch zeigen, dass Skandale um 1900 in Europa in der Öffentlichkeit, vor allem aber in der Politik, eine immense Bedeutung erlangten – gerade im Kampf um allgemeine Normen und Werte. Die neue Massenpresse mit ihrer millionenfachen Leserschaft ermöglichte es, zentrale gesellschaftliche Konflikte am Beispiel einzelner Skandale öffentlich breit zu verhandeln. In der Folge änderte sich die politische Kommunikation nachhaltig, wobei Journalisten und Politiker die neuen Möglichkeiten gleichermaßen zu nutzen wussten. Anhand einiger großer Skandale der Zeit, etwa zu Homosexualität, Kolonialismus, Korruption und den Verfehlungen der Monarchen, verfolgte er, wie diese medial kommuniziert und rezipiert wurden. Dafür analysierte er nicht nur Zeitungen, Zeitschriften und Gerichtsakten, sondern auch Zeugnisse ganz individueller Kommunikation, wie Briefe und Tagebücher von Akteuren und Betroffenen oder auch Kneipenprotokolle, in denen Spitzel zusammentrugen, worüber „das einfache Volk“ sprach. „Mithilfe dieser Protokolle lässt sich erkennen, welche Skandale man eher witzig fand, was ernsthaft diskutiert wurde“, so der Historiker. „Es zeigte sich: Die Stammtischdiskussionen waren Stellvertreterdebatten für grundsätzliche Konflikte in der Gesellschaft.“

Schon während der Forschung zu den Skandalen begann Frank Bösch, sich intensiver für die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts zu interessieren. Immerhin war deutlich geworden, dass die Skandale durch den Massenwandel aufkamen und den Medien eine neue Macht gaben. Und der günstige Zufall sollte Bösch treu bleiben: Kurz bevor er seine Habilitation einreichte, erhielt er einen Ruf an die Justus-Liebig-Universität in Gießen. Eine Situation, die gerade unter Geisteswissenschaftlern nach wie vor die Ausnahme bildet. Im Zentrum seiner Forschung stand in Gießen die Frage, wie Medien die Gesellschaft über nahezu alle Bereiche hinweg beeinflussen: „Mit einer Professur konnte man diese Frage viel breiter angehen“, erklärt er. „Wir haben geschaut: Wie verändert sich eine Gesellschaft, die plötzlich Zeitungen, Telegrafie, Fernsehen hat? Was hat das für Folgen für Gruppen, Nationenbildung, Geschlechter, Kriege usw.?“ Dies behandelte er dann in einem breiten Überblicksbuch, das den Medienwandel seit dem Aufkommen des Buchdrucks untersuchte.

Hinzu kam die Rolle als Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“, die ihm neben dem interdisziplinären Austausch mit Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftlern auch wertvolle Erfahrungen in der Doktorandenausbildung und der Koordination von Großprojekten ermöglichten.

2011 ging Frank Bösch zusammen mit seiner Familie den vorerst letzten Schritt – nach Potsdam. „Ich wollte mich noch einmal verändern“, erzählt er. Zwischen einem Ruf nach Köln und aus Potsdam entschied er sich für die brandenburgische Landeshauptstadt. Werbung für jenen Ort zu machen, in dem er nun nicht nur arbeitet, sondern auch lebt, fällt ihm nicht schwer. „Potsdam ist wunderschön als Stadt. Ich genieße es, Arbeit und Privatleben auf diesem Weg zu verbinden.“

Was er am ZZF schätzt? Nichts weniger als dass es „eine der größten zeithistorischen Forschungseinrichtungen Europas – mit einem breiten Forschungsprogramm, von Kultur bis Wirtschaft, von der DDR bis zur Bundesrepublik ist. Die deutsch-deutsche Gesellschaftsgeschichte im europäischen Kontext zu betrachten, gibt unserem Haus ein markantes Profil“, so der ZZF-Direktor. Wenn Bösch von den Projekten des Zentrums spricht, kommt er ins Schwärmen. Eines seiner wichtigsten Vorhaben sei derzeit die Untersuchung der Computerisierung seit den 1950er Jahren – im deutsch-deutschen Vergleich versteht sich. „Bei der Diskussion über zukünftige Forschungsfragen ist es unser Anspruch, aktuelle, relevante Themen aufzugreifen und sie originell zu wenden“, erklärt er. „So gibt es beispielsweise viele Bücher über die Staatssicherheit in der DDR. Aber keines darüber, wie sie Computer einsetzte. Wir wollen schauen: Wie veränderte sich die Personen-, Telefon- und Briefüberwachung, als dafür zum ersten Mal ein Computer auf dem Tisch stand? Aber auch zentrale politische Entscheidungen wie die Rentenreformen wären ohne Computer gar nicht denkbar gewesen. Wir wollen gegenwärtige Problemlagen mit neuen Fragestellungen untersuchen.“

Fraglos bedeutete die neue Rolle auch für ihn selbst eine große Umstellung: Zwar räumt das ZZF seinen rund 80 Wissenschaftlern relativ große Freiheit bei der Wahl und Bearbeitung ihrer Themen ein. Als einer von zwei Direktoren bespricht Bösch aber mit allen mindestens einmal im Jahr den Stand ihrer Forschung und ist auch in die Festlegung der allgemeinen Forschungslinie der vier großen Bereiche des Zentrums eingebunden.

Neu war für ihn die vergleichsweise geringe Lehrverpflichtung von nur einer wöchentlichen Veranstaltung pro Semester. Dafür hält er sich jede Woche während des Semesters einen ganzen Tag frei, um dann mit den Studierenden und Kollegen im Historischen Institut der Universität zu arbeiten. Angesichts der Fülle seiner Aufgaben zweifellos ein „gewisser Luxus neben all den Dingen, die hier laufen“, den sich der Wissenschaftler ganz bewusst gönnt.

Seine eigenen Forschungsambitionen hat Bösch keineswegs begraben: „Es ist der Anspruch der Direktoren, nicht nur im Management zu versinken, sondern weiterhin ins Archiv zu gehen, zu publizieren.“ Sein neues Projekt trägt den Titel „Antworten auf die Krise“ und bleibt seinem Ziel treu, Globalgeschichte am Beispiel scheinbar regionaler Vorkommnisse in den 1970er Jahren zu rekonstruieren. „Ich will versuchen, an kleinen Ereignissen die transnationale Verhandlung großer Problemlagen zu entfalten. Ziel ist eine regionale Geschichte der Globalisierung, eine Verflechtungsgeschichte.“

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Frank Bösch studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an den Universitäten Hamburg und Göttingen. Nach Stationen in Bochum, London und Gießen ist er seit 2011 Direktor des ZZF und Professor für Deutsche und Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam.

Kontakt

Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.
Am Neuen Markt 1
14467 Potsdam
E-Mail: boeschzzf-pdmde 

Das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) ist ein interdisziplinär ausgerichtetes Institut zur Erforschung der deutschen und europäischen Zeitgeschichte mit Sitz in Potsdam. 1992 im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft als Geisteswissenschaftliches Zentrum begründet, wurde es zunächst von der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung wissenschaftlicher Neuvorhaben finanziert, ab 1996 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Land Brandenburg. Seit 2009 ist das ZZF Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft (WGL). Die wissenschaftliche Arbeit des Instituts gliedert sich gegenwärtig in vier Abteilungen, die sich mit folgenden Themenbereichen befassen: der Gesellschaftsgeschichte des Kommunismus, der Geschichte des Wirtschaftens, der Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft sowie dem Regime des Sozialen.

Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde