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Eine Frage der Haltung – Wie gehen Lehrer und Schüler mit Gewalt und Mobbing im Klassenzimmer um?

Zum Mobbing gehört – auch in der Schule – ein komplexes Geflecht aus Opfern, Tätern und Zuschauern. Foto: fotolia.com/Luis Louro.
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Zum Mobbing gehört – auch in der Schule – ein komplexes Geflecht aus Opfern, Tätern und Zuschauern. Foto: fotolia.com/Luis Louro.

Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Wilfried Schubarth untersucht in einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt, das die Universität Potsdam in enger Kooperation mit der Hochschule Magdeburg-Stendal realisiert, das Lehrerhandeln bei Gewalt und Mobbing. Im Fokus der Studie stehen sowohl das Ausmaß und die Entwicklung von Gewalt- und Mobbingphänomenen an Schulen als auch mögliche Interventionsformen von Lehrerinnen und Lehrern. Die Wissenschaftler erhoffen sich von der Lehrer- und Schülerbefragung neue Erkenntnisse für die Kompetenzforschung und die Lehrerbildung.

Bereits in den 1990er Jahren, als das Thema aufkam und in den Medien sehr präsent war, hat Prof. Dr. Wilfried Schubarth, als wissenschaftlicher Assistent an der TU Dresden, zu Gewalt und Mobbing in Schulen geforscht. Eine Erkenntnis der damaligen Studie war, dass die Situation in den Schulen nicht ganz so alarmierend war, wie sie von den Medien häufig dargestellt wurde. Zugleich ließen sich bereits Problemkonstellationen, wie das Zusammenspiel von Hauptschule und sozialem Brennpunkt, ausmachen.


Das Problem von Gewalt an Schulen hat an Aktualität nicht verloren. Viele Lehrerinnen und Lehrer arbeiten am Rande ihrer Belastungsgrenze, leiden an Depressionen oder es wird ihnen ein Burnout attestiert. Nicht selten sind Aggressionen im Klassenzimmer der Grund für das Verzweifeln mancher Lehrkräfte. Auch den angehenden Lehrern, noch hoch motiviert, macht diese Situation Sorgen. „Viele Lehramtsstudierende, die in das Praxissemester gehen, fragen mich nach einer Art Handreichung, die ihnen sagt, was im Fall von Gewalt, Aggression und Mobbing zu tun ist“, erklärt Prof. Schubarth. „Was nützt es Studenten, wenn sie die Formen von Gewalt in der Theorie kennen, aber nicht wissen, wie sie handeln sollen, wenn Schüler in ihrem Klassenzimmer gewalttätig werden?!“

Da sich der Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie immer wieder mit diesen Fragen konfrontiert sah, beschloss er, sich dem Thema noch einmal intensiv zu widmen und die Mitte der 1990er Jahre an der TU Dresden durchgeführte Studie wieder aufzugreifen – einerseits, um einen Vergleich zu der damaligen Situation ziehen zu können und die Forschung auf einen aktuellen Stand zu bringen, und andererseits, um neue Erkenntnisse für die Lehrerprofessionalisierung zu gewinnen.

Da Mobbing ein interdisziplinäres Forschungsthema ist, suchte er die Kooperation mit dem Psychologen Ludwig Bilz, der an der TU Dresden forschte und seit 2013 eine Professur an der Hochschule Magdeburg-Stendal innehat. „Unser Ziel war es, die aktuelle Studie mit der von damals zu verbinden, um Entwicklungen zu erkennen. Die aktuelle Debatte zur Lehrerbildung und Kompetenzentwicklung kam uns da sehr entgegen. Wir wollten herausfinden, welche Kompetenzen Lehrkräfte brauchen, um angemessen reagieren zu können“, so Schubarth. Auch dafür war die Kooperation hilfreich. „Professor Bilz brachte das psychologische Know-how ein, erarbeitete also vor allem die Instrumente für die psychologische Erhebung. Ich als Erziehungswissenschaftler beschäftigte mich eher mit schulpädagogischen und professionstheoretischen Fragen. Das war eine gute Mischung, auch wenn es unterschiedliche Kommunikationskulturen gab und wir häufig über die verschiedene Auslegung von Begrifflichkeiten stolperten“, so Schubarth.

So erwies sich der Begriff der Kompetenz als vieldeutig. Während die Psychologen diese eher kognitiv betrachten, spielt für die Erziehungswissenschaftler auch die soziale und Handlungsebene mit hinein. In ihrer Studie erhoben die Wissenschaftler die Kompetenz der Lehrer auf mehreren Ebenen. Entscheidend waren der Wissenstand einer Person, ihre Motivation und Überzeugungen. Um die Kompetenz festzustellen, wurde mithilfe von Fragebögen ermittelt, welche Gewalt- und Mobbingphänomene die Lehrerinnen und Lehrer kennen, welche Werte sie vertreten und was sie motiviert, bei Gewaltsituationen einzugreifen – oder eben nicht. Denn eine wesentliche Frage in diesem Zusammenhang ist: Will ich etwas sehen und greife ein oder schaue ich lieber weg? Neben den psychologischen und sozialen Einstellungen der Lehrer wurde in der Befragung auch erhoben, wie die Schulleitung arbeitet, wie das Kollegium harmoniert und wie Werte innerhalb der Schule vermittelt werden. „Es ist erstaunlich, dass bisher so wenig Informationen dazu vorliegen“, sagt Schubarth, der vor allem in der Schulkultur einen Ansatzpunkt zur Verbesserung der Interventionsmöglichkeiten sieht.

In der ersten Forschungsphase, in der sich die Potsdamer und Magdeburger Wissenschaftler über den aktuellen Forschungsstand informierten, stellten sie fest, dass es zwar eine Vielzahl an Maßnahmen gibt, auch international, aber diese meist in der Prävention angesiedelt sind. „Viele dieser Programme entstanden um die Jahrtausendwende. Das hängt auch mit dem Auftreten des Amokphänomens zusammen und damit, dass die Schulen dazu verpflichtet wurden, Mediation anzubieten. Was daraus geworden ist, weiß man nicht, da viele der Initiativen mit der Zeit wieder eingeschlafen sind“, so Schubarth. Auch die sogenannten Notfallordner sind infolge der Amokläufe vom Ministerium angeordnet und verteilt worden. Ein wichtiger Schritt, findet Schubarth. Denn darin können Lehrer, die gewohnt sind, nach bestimmten Richtlinien zu agieren, nachlesen, wie sie im Notfall zu handeln haben.

Ihre Untersuchung führten Schubarth und Bilz in den Klassenstufen 6 und 8 an 25 Schulen durch. Mit Blick auf die Vergleichbarkeit wählten sie Schulen in Sachsen aus, wo in den 1990er Jahren durch die Anbindung an die TU Dresden auch die erste Studie durchgeführt worden war. Bei der Akquise der Schulen achteten die Wissenschaftler darauf, einen Querschnitt aus den verschiedenen Regionen des Bundeslandes und der verschiedenen Schulformen darzustellen. Das Vorgängerprojekt hatte vor allem unter dem schlechten Rücklauf der Lehrer-Fragebögen gelitten, wodurch die Sicht der Lehrer auf ihre Schüler nicht miteinbezogen werden konnte. Für die aktuelle Studie galt es daher, ausreichend Lehrer anzufragen. „Neben den spannenden Diskussionen mit unseren Kooperationspartnern aus der Psychologie war die nächste Herausforderung, die Schulen für die Studie zu gewinnen“, sagt Schubarth. „Viele Schulen werden mit Fragebögen überschüttet. Außerdem ist das Thema brisant. Trotz der Anonymität der Befragung haben zahlreiche Einrichtungen eine Teilnahme strikt abgewiesen, interessanterweise vor allem Gymnasien, die sich in der Öffentlichkeit immer sehr gut darstellen.“ Doch die Hartnäckigkeit der Wissenschaftler – dazu gehören neben den Professoren die Projektteams um Lars Oertel von der Universität Potsdam und Saskia Fischer von der Hochschule Magdeburg-Stendal – zahlte sich aus, sodass sie schließlich die gewünschte Anzahl an Schulen akquirieren konnten.

Durch den guten Rücklauf können nun die Daten von rund 2.000 Schülern und 550 Lehrern (davon 90 Klassenlehrer) ausgewertet werden. Mit der Befragung der Klassenlehrer wollten Schubarth und seine Mitarbeiter herausfinden, wie gut diese mögliche Täter- und Opfer-Rollen in ihrer Klasse kennen. Ihre Vermutung ist, dass viele Lehrer zwar die Täter identifizieren können, jedoch nicht die Opfer kennen, die eher unauffällig sind, nicht gesehen werden oder nicht gesehen werden wollen.

„Mobbing ist eine ganz komplizierte Rollenstruktur aus Tätern, Opfern, Verstärkern, Verteidigern und einem großen Anteil an Zuschauern. Diese Struktur ist immer gegeben, aber dynamisch. Wir erhofften uns durch die Befragung, mögliche Mobbingstrukturen aufzudecken“, erklärt Schubarth.

Dem Vergleich diente dazu auch die Befragung der Schüler, in der diese aufgefordert wurden, Fälle von Mobbing oder Gewalt aus der Vergangenheit zu rekonstruieren und zu beschreiben: Wie verhielten sie sich selbst dabei? Wer waren die Täter und wer die Opfer? Wie ging der Lehrer mit der Situation um? Griff er nur kurzfristig ein oder löste er das Problem langfristig? Eine Frage, die vor allem auf den Umgang mit Mobbingfällen zielte, die nicht nur einmal, sondern häufiger auftreten.

In Kürze startet die Forschergruppe mit der Auswertung der erhobenen Daten. Ein besonderes Augenmerk legen sie dabei auf die Gewaltentwicklung unter den Schülern und die Interventionsbereitschaft bei den Lehrern, auch im Vergleich zu den 1990er Jahren. „Was uns besonders interessiert, sind die Faktoren, die ein Eingreifen der Lehrer mitbestimmen. Sind es eher Persönlichkeitsmerkmale oder schulspezifische Eigenschaften? Wenn wir sehen, welche Faktoren Einfluss darauf nehmen, kann man daraus auch Konsequenzen für die Lehrerbildung ziehen.“ Wichtige Erkenntnisse sollen zudem die beim Projekt angesiedelten Promotionen zur Interventionskompetenz von Studierenden und Referendaren von Juliane Ulbricht sowie zur Situation an „gewaltbelasteten“ Schulen von Saskia Niproschke liefern.

Zu den entscheidenden Voraussetzungen für den Lehrerberuf gehörten nicht nur das Fachwissen, sondern vor allem Erziehungskompetenz, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit und Selbstregulation, um sich selbst zu schützen, ist sich Wilfried Schubarth sicher. Er vermutet, dass sich Lehrer zu sehr auf die Wissensvermittlung konzentrieren und dadurch weniger das Sozialverhalten einschätzen und beeinflussen können. Somit bleibt gerade Mobbing häufig unentdeckt, da es sich nicht um offensichtliche Gewalt handelt, sondern ein längerer und dynamischer Gruppenprozess dahintersteckt, zu dem eine gesamte Klasse oder auch Schule gehört. „Unser Strategieansatz könnte also sein, die Rolle des Lehrers zu stärken. Er muss die Schlüsselposition in der Intervention einnehmen. Es ist an ihm zu erkennen, wo Mobbing losgeht und wer die Drahtzieher sind. Soziale Beziehungen in der Klasse gilt es aufzuarbeiten. Hierbei darf der Lehrer jedoch nicht allein gelassen, sondern muss von der Schulleitung unterstützt werden, zum Beispiel auch durch Heranziehen von Krisenteams oder Sozialarbeitern“, fasst Schubarth zusammen. Vermittelt die Schulleitung bestimmte Werte, ist das Kollegium offen und kooperationsbereit, und werden die Lehrer nicht nur als Wissensvermittler angesehen, so kann daraus ein Gefüge entstehen, in dem Mobbing und Gewalt schneller und vor allem langfristig unterbunden werden können. Denn Intervention ist eine Haltungsfrage.

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Wilfried Schubarth hat die Professur für Erziehungs- und Sozialisationstheorie am Department Erziehungswissenschaften der Universität Potsdam inne. Er ist Leiter der AG „Studienqualität“ am Zentrum für Lehrerbildung und Vorsitzender des Prüfungsausschusses Lehramt, daneben Mitglied mehrerer Beiräte, u.a. beim „Monitor: Lehrerbildung in Deutschland“.

Kontakt

Universität Potsdam
Department Erziehungswissenschaft
Karl-Liebknecht-Str. 24–25
14476 Potsdam
E-Mail: wilfried.schubarthuni-potsdamde

Text: Sophie Jäger
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde