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Interferenzen

Warum das menschliche Arbeitsgedächtnis unterschiedlich viel leisten kann

Im Forschungsprojekt lösten Kinder verschiedener Altersgruppen Gedächtnisaktualisierungsaufgaben. Foto: Anna Trapp
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Im Forschungsprojekt lösten Kinder verschiedener Altersgruppen Gedächtnisaktualisierungsaufgaben. Foto: Anna Trapp

Das Arbeitsgedächtnis ist ein Zwischenspeicher des menschlichen Gehirns. Seine Kapazität ist begrenzt, bei Menschen mit Lernstörungen wie etwa Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) noch mehr. Was genau sie begrenzt, hat die Psychologin Katrin Göthe experimentell untersucht.

„Merken Sie sich die Ziffernreihe und wiederholen Sie diese dann aus dem Gedächtnis“, sagt Katrin Göthe: 4, 7, 3, 1, 9. Das ist leicht. „Ziehen Sie nun 4 von der letzten Zahl ab und ersetzen mit dem Ergebnis die letzte Ziffer. Können Sie die Reihe komplett wiedergeben?“ 

Katrin Göthe, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Kognitive Psychologie, muss ausholen, um das Forschungsprojekt zu erklären, das sie gerade abschließt: „Prozessdissoziationen von Arbeitsgedächtnisfunktionen bei kognitiven Leistungsstörungen“. 

Die Denksportaufgabe dient nur dazu, den Unterschied zwischen Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis zu erläutern. Für das bloße Merken der Ziffernreihe reicht ersteres. Wenn das Gehirn jedoch im zweiten Teil Informationen behalten, zusätzliche Informationen verarbeiten und obendrein alle irrelevanten Meldungen blockieren muss, kommt das Arbeitsgedächtnis zum Einsatz. Ohne dieses könnten sich Leser eines Satzes nicht erinnern, wie dessen Anfang lautete. Das Arbeitsgedächtnis hat jedoch nur begrenzte Kapazität. Bei manchen ist sie höher, bei manchen niedriger. 

 Woher die Unterschiede kommen, dazu gibt es verschiedene Hypothesen. Ein an der Universität Potsdam entwickeltes theoretisches Modell besagt, dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses durch Interferenz begrenzt wird. Das heißt, die Informationen, die gerade verarbeitet und gespeichert werden, stören sich gegenseitig, und dies umso stärker, je mehr sie sich ähneln. Dabei unterscheidet das Modell zwei Mechanismen: Wenn sich jemand beispielsweise mehrere Wörter merken muss, unter denen sich zwei ähnlich klingende befinden, werden die beiden Wörter entweder komplett verwechselt oder aber es kommt zu einer sogenannten Merkmalsüberschreibung, wobei etwa ein Wort ein anderes, das den gleichen Vokal enthält, teilweise löscht. 

Bei Versuchen mit Erwachsenen hat sich dieses Modell bereits bestätigt. „In meinem Projekt habe ich getestet, ob es sich auch auf Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche anwenden lässt“, sagt Katrin Göthe. Kinder mit LRS sind normal intelligent. Allerdings hat die Forschung gezeigt, dass ihr Arbeitsgedächtnis schlechter funktioniert. Dem Modell zufolge liegt das daran, dass sie mehr Interferenz aufweisen – ein möglicher Grund dafür, dass sie in ihren Lese- und Rechtschreibleistungen deutlich hinter dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen zurückbleiben. 

Die Psychologin hat in verschiedenen Experimenten 60 Kinder verschiedener Altersstufen mit und ohne LRS zwei sogenannte Gedächtnisaktualisierungsaufgaben absolvieren lassen. Die eine diente dazu, das verbale Arbeitsgedächtnis zu testen. Dabei bekamen die Kinder am Bildschirm einen Korb mit Äpfeln, Bananen und Pflaumen gezeigt. Sie sollten beantworten, wie viele Früchte aller drei Sorten im Korb sind, nachdem jeweils eine bestimmte Anzahl hinzugegeben oder weggenommen wurde. Die zweite Aufgabe betraf den räumlich-visuellen Teil des Arbeitsgedächtnisses: Die Probanden sollten sich zunächst die Position einer Maus und einer Katze in einem Gitter mit neun Kästchen merken, dann deren Position, nachdem die Kinder die Tiere im Kopf mehrere Male verschoben hatten. 

Die Wissenschaftlerin maß dabei den Anteil korrekter Antworten im Verhältnis zur Präsentationszeit und verglich diese Daten mit den aus dem theoretischen Modell abgeleiteten. Die Ergebnisse für den verbalen Bereich sind noch nicht ausgewertet, aber die Befunde für den räumlichen Bereich zeigen: Das Interferenzmodell greift grundsätzlich auch bei Kindern. Erwartungsgemäß schätzt das Modell bei Kindern mit LRS den Interferenz-Mechanismus des Verwechselns stärker ein als bei ihren Altersgenossen ohne diese Störung. Bei der Merkmalsüberschreibung verhält es sich allerdings genau umgekehrt. „Dafür haben wir noch keine umfassende Erklärung gefunden“, sagt Katrin Göthe: „Wir haben das Ergebnis früherer Untersuchungen jetzt teilweise im räumlichen Bereich mit anderen Interferenzbedingungen bestätigt. Nun warten wir auf die Ergebnisse der verbalen Aufgabe.“

Text: Sabine Sütterlin, online gestellt: Agnes Bressa

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