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Wie tickt die innere Uhr?

Mathematische Modelle menschlicher Gehirnfunktionen – Forschende der unterschiedlichsten Fachgebiete arbeiten in der DFG-Forschergruppe „Computational Modeling of Behavioral, Cognitive, and Neural Dynamics“ zusammen.

Foto: Nneirda/fotolia.com
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Seit etwa 20 Jahren arbeiten Physiker und Psychologen in Potsdam an interdisziplinären Projekten. Was auf den ersten Blick erstaunen mag, ist bei näherem Hinsehen nur logisch, lassen sich doch viele biologische oder neurophysiologische Vorgänge mithilfe mathematischer und physikalischer Methoden beschreiben. Das rhythmisch pumpende Herz beispielsweise ist aus Sicht der Physik ein Oszillator – und dient womöglich als Taktgeber für die Wahrnehmung kurzer Zeitintervalle im Gehirn.

Wir können sehen, hören, riechen, schmecken, tasten. Aber wir haben kein Sinnesorgan, mit dem wir spüren, wie die Zeit vergeht. Dennoch erleben wir häufig Situationen, in denen eine bestimmte Dauer abzuschätzen ist: Wie lange habe ich noch bis zur Abgabe der Klausur? Ob das Ei schon hart ist?

Meistens funktioniert das recht gut. Aber wie? Das versuchen Forscher in Experimenten herauszufinden. So können Versuchspersonen, denen Wissenschaftler zwei Tonsignale in unterschiedlichen, sehr kurzen Zeitabständen vorspielen, ziemlich präzise sagen, wie lang das jeweilige Intervall war. Sie können das sogar, wenn sie daran gehindert werden, den Zeitraum einfach durch Zählen abzuschätzen, indem sie zwischen den Tonsignalen Aufgaben lösen müssen.

Besitzen wir also doch eine Art inneren Zeitmesser? Wahrscheinlich nicht in Form bestimmter Körperteile oder Zellen, aber womöglich indirekt: Die „Inselrinde“ im Gehirn registriert und verarbeitet, neben vielen anderen Signalen aus dem Körper, auch die Rhythmen von Herzschlag und Atmung. So können wir zumindest für Intervalle zwischen 2 und 25 Sekunden das Fließen der Zeit wahrnehmen.

Das vermutet jedenfalls die Psychologin Olga Pollatos. Sie hat ein Forschungsprojekt geleitet, das sich der „Suche nach dem Einfluss von Herzschlag und Atmung auf die Zeitwahrnehmung und Erzeugung von Rhythmen“ widmete. Pollatos war dabei für das experimentelle Design und die Messungen zuständig. Die mathematische Modellierung übernahmen Arkady Pikovsky, Michael Rosenblum und Azamat Yeldesbay, die am Institut für Physik und Astronomie forschen.

Auf den ersten, laienhaften Blick überrascht diese Zusammenarbeit. Was hat die Psychologie der Wahrnehmung mit der Nichtlinearen Dynamik und der statistischen Physik zu tun? Die Frage bringt Michael Rosenblum zum Schmunzeln. „Wir hatten schon immer interdisziplinäre Interessen“, antwortet er: „Wir haben die Methoden für die Datenanalyse und die Modellierung. Und wir beschäftigen uns seit 20 Jahren mit Oszillatoren und ihren schwachen Wechselwirkungen.“

Als Oszillator bezeichnen Physiker jedes System, das sich periodisch verhält, das also rhythmisch zwischen zwei Zuständen hin und her schwingt. Und Oszillatoren kommen nun einmal in allen Fachgebieten vor. Das Uhrenpendel ist nur das bekannteste Modell. Eine Geigensaite gerät in Schwingung, wenn der Bogen darüberstreicht. Das Metronom klopft Musizierenden den Takt. Und auch die Konjunktur folgt periodischen Mustern.

Im menschlichen Körper finden sich gleich mehrere Oszillatoren: Neben Herz und Lunge, die in stetem Auf und Ab Blut beziehungsweise Luft und Kohlendioxid pumpen, summiert sich auch die elektrische Aktivität der Nervenzellen im Gehirn zu einem gleichmäßigen Rhythmus, der als wellenförmiges Muster im Elektroenzephalogramm (EEG) erscheint. Sobald aber zwei oder mehr Oszillatoren, die jeweils unabhängig vor sich hin schwingen, auch nur lose miteinander verbunden sind, nähern sich die unterschiedlichen Rhythmen einander an und schwingen nach einer gewissen Zeit im Gleichtakt. Die Physiker sprechen von Synchronisation.

Rosenblum setzt zu einer Zeitreise ins 17. Jahrhundert an, um das Phänomen zu erklären. Der niederländische Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens hatte erstmals funktionierende und sogar äußerst ganggenaue Pendeluhren konstruiert. Diese Hightech-Instrumente sollten das bis dahin schwierige Problem der Seefahrt lösen, nämlich die genaue Bestimmung des Längengrades. Um sicherzugehen, dass mindestens ein Zeitmesser arbeitete, falls einer stehenbliebe, setzte Huygens zwei Exemplare ein. Er befestigte beide mit Haken am selben Holzbrett – und stellte so, ohne es zu ahnen, eine Kopplung her. Als der Gelehrte eines Tages krank im Bett lag, beobachtete er Seltsames: Die Pendel der beiden Uhren bewegten sich zunächst unabhängig voneinander, schwangen jedoch nach einer Weile präzise im Gleichtakt. Dieser stellte sich auch dann ein, wenn die Synchronschwingung durch Festhalten eines Pendels gestört wurde. Huygens sprach von „gegenseitiger Sympathie“ der beiden Uhren und ortete die Ursache in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des Holzbretts.

Inzwischen haben Mathematiker und Physiker Formeln entwickelt, mit denen sie nicht nur die Synchronisation von zwei oder mehreren gekoppelten Oszillatoren beschreiben und berechnen können, sondern sogar von sehr vielen und auch, wenn diese sich chaotisch verhalten. Die Frage lag also nahe, ob die in dem eingangs beschriebenen Experiment beobachtete Zeitwahrnehmung womöglich auf einer Synchronisation zwischen Gehirnwellen, Herzschlag und Atmung beruht. Denn biologische Oszillatoren sind aus physikalischer Sicht „dissipative nichtlineare Systeme“, die sich mithilfe „autonomer Differenzialgleichungen“ darstellen lassen.

Eben das haben Pikovsky und Rosenblum mit den Daten aus Olga Pollatos' Versuchen getan – in einem Prozess, der für Nichtphysiker nur bedingt nachvollziehbar und nur oberflächlich sichtbar ist. Er benötigt Kaffee als Treibstoff, Kreide, mit der die Wissenschaftler Zeichen auf große Wandtafeln kritzeln, und Computer. „Die größte Herausforderung liegt hier darin, winzigste Synchronisationseigenschaften zu erkennen“, sagt Arkady Pikovsky, „denn natürlich läuft nicht alles so exakt wie bei Huygens.“ Der vorläufige Befund, in diesem Frühjahr in einem Fachjournal veröffentlicht: Das Herz könnte zumindest für das „Fühlen“ von sehr kurzen Zeitintervallen eine Rolle als „innere Uhr“ spielen.

Die konkrete Studie in diesem Projekt ist damit zwar abgeschlossen, aber weitere Untersuchungen laufen noch, ebenso wie die anderen sechs Projekte der Forschergruppe „Computational Modeling of Behavioral, Cognitive, and Neural Dynamics“, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin kommen aus den unterschiedlichsten Fachgebieten: Experimentelle Psychologie, Kognitionswissenschaft, Informatik, theoretische Physik und angewandte Mathematik. Ziel der Zusammenarbeit über die Disziplinen hinweg ist, die Befunde psychologischer Experimente mit den Vorgängen im Gehirn zusammenzubringen. Das heißt, grundlegende Muster von menschlichem Verhalten, von Wahrnehmung und Informationsverarbeitung zu erkennen und in mathematische und Computermodelle zu fassen.

Wie verstehen wir Sprache? lautet eine der Fragestellungen. Wissenschaftler der Forschergruppe in Potsdam-Golm zeichnen beispielsweise die Augenbewegungen beim Lesen auf, um herauszufinden, wie wir den Sinn einzelner Wörter, ganzer Sätze und Texte erfassen. Andere beschäftigen sich etwa damit, wie Bewegungen oder Gesten unsere Denkfähigkeit beeinflussen oder wie wir mit kleinen Veränderungen der Körperhaltung unbewusst die Balance halten. Und wieder andere untersuchen die Hirnaktivität während bestimmter Verrichtungen und versuchen herauszufinden, wie lange die Signalübertragung im Gehirn dauert oder in welcher Spanne sich individuelle Reaktionszeiten bewegen. All diese experimentellen Befunde, Zeitreihen und Aufzeichnungen lassen sich auf mathematisch beschreibbare Prozesse zurückführen, ob sie einem bestimmten Rhythmus folgen oder aber rein zufällig auftreten, ob in geordneter Abfolge oder erratisch.

Die Physiker Arkady Pikovsky und Michael Rosenblum haben sich inzwischen dem Projekt mit der Nummer 7 im Rahmen der Forschergruppe zugewandt: Gemeinsam mit dem Doktoranden Azamat Yeldesbay arbeiten sie an einem Modell, das beschreibt, wie die „nichtlinearen Oszillatoren“ im Gehirn, die Nervenzellen mit ihrer elektrischen Aktivität, sich gegenseitig beeinflussen.

Die DFG-Forschergruppe „Computational Modeling of Behavioral, Cognitive, and Neural Dynamics“

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) versteht Forschergruppen als „mittelfristig angelegte, enge Zusammenarbeit von mehreren herausragend ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an einer besonderen Forschungsaufgabe, mit dem Ziel, Ergebnisse zu erreichen, die über die Einzelförderung deutlich hinausgehen“. Die Forschergruppe 868 mit dem Titel „Computational Modeling of Behavioral, Cognitive, and Neural Dynamics“ vereint insgesamt über 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin. Sprecher der Gruppe ist Prof. Dr. Ralf Engbert vom Department Psychologie der Universität Potsdam.

DIE WISSENSCHAFTLER

Einer der Forschungsschwerpunkte des Physikers Prof. Dr. Arkady Pikovsky ist die Synchronisation. Pikovsky leitet seit 1997 die Arbeitsgruppe Statistische Physik und Chaostheorie am Institut für Physik und Astronomie der Universität Potsdam.

Auch apl. Prof. Dr. Michael Rosenblum, seit 1995 in Potsdam, beschäftigt sich vorwiegend mit Synchronisation und Zeitreihenanalysen.

Prof. Dr. Dr. Olga Pollatos hatte von 2009 bis 2012 eine Juniorprofessur für Emotions- und Motivationspsychologie am Department Psychologie der Universität Potsdam. Sie lehrt und forscht heute an der Universität Ulm.

Kontakt

Prof. Dr. Ralf Engbert, Sprecher der DFG-Forschergruppe 868

Department Psychologie
Karl-Liebknecht-Straße 24-25
14476 Potsdam
Tel. 0331-977 2140/2874
ralf.engbertuni-potsdamde

Text: Sabine Sütterlin, Online-gestellt: Julia Schwaibold