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Neutronensterne auf vielen Kanälen parallel untersuchen

Numerische Simulation des entstehenden Auswurfmaterials zweier verschmelzender Neutronensterne. Rote Farben beziehen sich auf ausgeworfenes Material mit einem hohen Anteil an Neutronen, wohingegen blaues Material einen hohen Anteil an Protonen enthält.
Foto : Ivan Markin
Numerische Simulation des entstehenden Auswurfmaterials zweier verschmelzender Neutronensterne. Rote Farben beziehen sich auf ausgeworfenes Material mit einem hohen Anteil an Neutronen, wohingegen blaues Material einen hohen Anteil an Protonen enthält.

Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Universität Potsdam und des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik hat eine Methode entwickelt, um die meisten beobachtbaren Signale im Zusammenhang mit Neutronensternverschmelzungen gleichzeitig zu untersuchen. Damit gelang es zum ersten Mal, die abgestrahlten Gravitationswellen, die Kilonova und das Nachleuchten des Gammastrahlenausbruchs der am 17. August 2017 beobachteten Verschmelzung zweier Neutronensterne parallel zu modellieren und zu interpretieren. Die Studie und die dafür entwickelte Code-Infrastruktur liefern präzise Hinweise auf die Eigenschaften der Kernmaterie und bilden die Grundlage für die Analyse zukünftiger Ereignisse. Die Forschungsergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.

„Unsere neue Methode wird dabei helfen, die Eigenschaften von Materie bei extremen Dichten zu untersuchen. Außerdem ermöglicht sie ein genaueres Verständnis davon, wie sich das Universum ausdehnt, und von der Art und Weise, wie und in welchem Ausmaß die schweren Elemente bei Neutronensternkollisionen entstehen“, erklärt Tim Dietrich, Professor an der Universität Potsdam und Leiter einer Max-Planck-Fellow-Gruppe am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik. Dietrich ist als korrespondierender Autor an der Veröffentlichung beteiligt.

Ein Neutronenstern ist ein extrem dichtes astrophysikalisches Objekt, das am Ende der Lebensdauer massereicher Sterne bei einer Supernova-Explosion entsteht. Ähnlich wie andere kompakte Objekte kreisen einige Neutronensterne in Doppelsternsystemen umeinander. Durch das kontinuierliche Aussenden von Gravitationswellen – kleinen Störungen im Gefüge der Raumzeit – verlieren sie Energie und stoßen schließlich zusammen. Solche Verschmelzungen ermöglichen es den Forschenden, physikalische Prinzipien unter den extremsten Bedingungen im Universum zu untersuchen. So führen die Bedingungen dieser hochenergetischen Kollisionen zur Entstehung schwerer Elemente, wie z. B. Gold. Verschmelzende Neutronensterne sind tatsächlich einzigartige Untersuchungsobjekte, um die Eigenschaften von Materie bei Dichten zu erforschen, die weit über denen von Atomkernen liegen.

Die neue Methode wurde auf die erste und bisher einzige Beobachtung eines verschmelzenden Doppel-Neutronensternsystems angewandt. Bei dieser am 17. August 2017 entdeckten Verschmelzung hatten die letzten paar tausend Umläufe der Sterne umeinander die Raumzeit so stark verwirbelt, dass Gravitationswellen entstanden, die von den terrestrischen Gravitationswellenobservatorien Advanced LIGO und Advanced Virgo nachgewiesen wurden. Bei der Verschmelzung der beiden Sterne wurden neu gebildete schwere Elemente ausgestoßen. Ein Teil dieser Elemente zerfiel radioaktiv, was zu einem Anstieg der Temperatur führte. Ausgelöst durch diese thermische Strahlung war bis zu zwei Wochen nach der Kollision ein elektromagnetisches Signal im optischen, infraroten und ultravioletten Bereich zu beobachten. Außerdem wurde zusätzliches Material durch einen Gammablitz ausgestoßen, ebenfalls ausgelöst durch die Kollision der Neutronensterne. Durch die Reaktion der Neutronensternmaterie mit dem umgebenden Medium wurden Röntgen- und Radiostrahlen erzeugt, die auf einer Zeitskala von Tagen bis zu Jahren beobachtet werden konnten.

Das neue Tool zur simultanen Auswertung astrophysikalischer Daten aus verschiedenen Quellen ermöglicht es den Forschenden, alle diese Signale gleichzeitig zu interpretieren. Zusätzlich können Informationen aus Radio- und Röntgenbeobachtungen von Neutronensternen (z. B. vom NICER-Teleskop der NASA), kernphysikalische Berechnungen und sogar Daten aus Schwerionenkollisionsexperimenten an erdgebundenen Beschleunigern miteinbezogen werden. „Wir können nun über den bisher üblichen schrittweisen Kombinationsprozess hinausgehen. Indem wir die Daten zusammenhängend und gleichzeitig analysieren, erhalten wir präzisere Ergebnisse“, sagt Peter T. H. Pang, Wissenschaftler an der Universität Utrecht, Erstautor der Publikation und Hauptentwickler des Codes. Um die neue Software in den kommenden Jahren weiterzuentwickeln, wurde Dietrich 2022 mit einem European Research Council (ERC) Starting Grant in Höhe von 1,5 Millionen Euro ausgezeichnet.

Derzeit führen die Gravitationswellen-Detektoren ihren vierten wissenschaftlichen Beobachtungslauf durch. Die nächste Entdeckung einer Verschmelzung von Neutronensternen könnte täglich erfolgen, und die Forschenden stehen in den Startlöchern, das von ihnen entwickelte Werkzeug erneut einsetzen zu können.

Link zur Publikation: Peter T. H. Pang, Tim Dietrich, Michael W. Coughlin et al., An updated nuclear-physics and multi-messenger astrophysics framework for binary neutron star mergers, 2023, Nature Communications, https://www.nature.com/articles/s41467-023-43932-6

Abbildung: Numerische Simulation des entstehenden Auswurfmaterials zweier verschmelzender Neutronensterne. Rote Farben beziehen sich auf ausgeworfenes Material mit einem hohen Anteil an Neutronen, wohingegen blaues Material einen hohen Anteil an Protonen enthält. Bildrechte: Ivan Markin (Uni Potsdam).

Kontakt:
Prof. Dr. Tim Dietrich, Institut für Physik und Astronomie und Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
Tel.: 0331 977-230160
E-Mail: tim.dietrichuni-potsdamde

Medieninformation 20-12-2023 / Nr. 130

Veröffentlicht

Online-Redaktion

Sabine Schwarz