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Voltaire-Preisträgerin 2023: Amy Lai

Voltaire-Preisträgerin Professorin Amy Lai mit der Voltaire-Preis-Statuette

Die Universität Potsdam verlieh am 25. Januar 2023 im Rahmen ihres Neujahrsempfangs zum siebten Mal den „Voltaire-Preis für Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“. Der von der Friede Springer Stiftung geförderte Preis wird seit 2017 an eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler vergeben, der oder die sich in besonderem Maße für die Freiheit von Forschung und Lehre sowie für das Recht auf freie Meinungsäußerung eingesetzt hat. Der Preis ging an die aus Honkong stammende Juristin und Autorin Amy Lai.


Laudatio von Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile, Professor für Kulturen der Aufklärung an der Universität Potsdam

Voltaire hätte eine Anwältin wie unsere diesjährige Preisträgerin Amy Lai gut gebrauchen können. Bereits im zarten Alter von 24 Jahren trug ihm ein Scherzgedicht auf den damaligen französischen Interims-Regenten eine erste, knapp einjährige Haftstrafe im Staatsgefängnis, der Bastille, ein. Die dynastischen Legitimationsstrategien parodierend, hatte Voltaire dem Regenten ein inzestuöses Verhältnis zur eigenen Tochter angedichtet. Es folgten weitere Haftstrafen wegen Verspottung des Adels. Nachdem Voltaire sich über die plumpen Falschspielertricks der Königin an den Spieltischen von Versailles lustig gemacht hatte, wurde er 1747 der Heimat verwiesen. Es war der Beginn einer lebenslangen Diaspora. Auch sein anschließendes Potsdamer Exil währte nicht lange: Seine Satire auf den Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften und dessen königlichen Schutzherrn, die wissenschaftlich-mathematische Fragen auf dem Weg des absolutistischen Machtspruchs lösen wollten, wurde auf dem Berliner Gendarmenmarkt öffentlich verbrannt. Der drohenden Verhaftung entzog sich Voltaire durch Flucht. Nicht zuletzt ist auch Voltaires berühmtester Roman „Candide oder der Optimismus“ eine Persiflage. Hier wird der zur bloßen höfischen Selbstbeweihräucherung missbrauchte Leibniz’sche Satz von der durch Gott garantierten bestmöglichen Ordnung der Welt aufs Korn genommen. Schon nach wenigen Kapiteln sehen wir den Titelhelden blutüberströmt die Hände ringen und verzweifelt fragen: „Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie mögen dann erst die anderen aussehen?“ Unnötig hinzuzufügen, dass der „Candide“ wie praktisch alle Werke Voltaires – einschließlich seiner für unseren Preis programmatischen „Abhandlung über die Toleranz“ – von der katholischen Kirche sofort verboten und wegen Gotteslästerung auf den Index gesetzt wurde.

„The Right to Parody“ („Das Recht auf Parodie“) lautet der Titel von Amy Lais 2019 bei Cambridge University Press erschienener juristischer Dissertationsschrift. Wenn man so will, transformiert und aktualisiert sie darin die Fragen nach dem Zusammenhang von Aufklärung und Öffentlichkeit, die schon Voltaire beschäftigt haben, mit Blick auf die Herausforderungen unserer Gegenwart. Wie Voltaire weiß auch Lai, dass Witz, Ironie und Satire wichtige Waffen im Kampf gegen die Unfehlbarkeitsdogmen und Absolutheitsansprüche der Herrschenden sein können: Was zu Voltaires Zeiten Hof und Kirche waren, sind heute totalitäre und autokratische Regime und ihre hochtechnisierten Repressionsapparate, aber auch kritikunfähige und monopolartige globale Plattform-Betreiber und Medienmagnaten sowie deren Kampagnen gezielter Denunziation und Desinformation. Dass der Parodie als Oberbegriff für das kreative Um- und Überschreiben bekannter Werke und konventionalisierter Gewissheiten und Ideologeme für die Demokratisierungs- und sozialen Wandlungsprozesse unserer Zeit eine besondere Bedeutung zukommt, lässt sich nach Lai schon daran erkennen, wie empfindlich die Machthaber auf sie reagieren.

Lai verortet die Parodie konsequent innerhalb des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Diese sieht sie nicht nur von staatlicher Repression bedroht, sondern auch durch juristisch erhobene Ansprüche auf geistiges Eigentum („copyright“) – also im weiteren Sinn der ebenfalls seit der westlichen Aufklärung entstehenden Idee des Besitzindividualismus. Dieses Spannungsverhältnis wird von ihr historisch-systematisch am Beispiel der rechtsphilosophischen Theorien von John Locke, Immanuel Kant oder John Rawls rekonstruiert und dann anhand zahlreicher juristischer Prozesse in den USA, in Kanada, in Großbritannien, in Frankreich und in Hongkong vergleichend untersucht.

Zugute kommt ihr dabei eine beeindruckende Kenntnis der Literaturgeschichte und des aktuellen Kulturbetriebs. So reichen die in ihrem Buch diskutierten Beispiele von Alice Randalls Parodie „The Wind done gone“ auf das Südstaatenepos „Gone with the wind“, das Randall aus der Perspektive einer versklavten Afroamerikanerin erzählt, bis zu Harry Potter und den Beastie Boys, von Victor Hugo bis zu Charlie Hebdo. Für juristische Entscheidungen relevante Fragen nach der geistigen Urheberschaft diskutiert Lai auf dem aktuellen Stand feministischer Theorien relationaler Autorschaft und popkultureller Copy&Paste- und Remix-Praktiken. War Voltaire ein der väterlich vorbestimmten Juristen-Karriere entlaufener Philosoph und Literat, so ist Amy Lai eine umfassend philosophisch-literarisch gebildete Juristin. Tatsächlich hat sie neben ihrer juristischen Promotion mit einer Arbeit über chinesische Autorinnen in der Diaspora auch einen Doktorgrad in Literaturwissenschaft der University of Cambridge erworben.

Ein robustes und weitreichendes Konzept von Meinungs- und Redefreiheit bildet, soweit sich dies schon erkennen lässt, auch das zentrale Anliegen von Amy Lais demnächst erscheinenden zweiten Buch „In Defence of Free Speech in Universities“, in dem sie juristische Debatten um die sogenannte „Cancel Culture“ im akademischen Feld in Kanada, den USA und Großbritannien analysiert. Auch hier weiß Amy Lai, wovon sie spricht. Aufgewachsen in der ehemaligen britischen Kolonie Hongkong hat Amy Lai ihre akademischen Qualifikationen an den besten Adressen in Großbritannien, den USA und Kanada erworben – neben Cambridge an der Harvard University in Boston, wo sie auch in verschiedenen Anwaltskanzleien tätig war, sowie der University of British Columbia in Vancouver. Seit 2014 in Hongkong die Regenschirm-Revolution gegen die verschärfte Repression durch die chinesische Regierung begann, hat sie sich zunehmend journalistisch für den Erhalt der Freiheitsrechte in ihrer Heimat engagiert und diese in verschiedenen – zum Großteil inzwischen verbotenen – lokalen Zeitungen eingefordert.

In die aktuellen Auseinandersetzungen um Aufklärung und Öffentlichkeit bringt Amy Lai so die Erfahrungen aus zwei Welten ein. Der vorschnellen Verabschiedung von liberalen Traditionen steht sie mit dem Wissen um die Realitäten totalitärer Systeme misstrauischer gegenüber als andere. Zugleich teilt sie als Zuwanderin die Diskriminierungserfahrungen marginalisierter Gruppen. Dabei verwahrt sie sich gegen kulturalistische Blickverengungen auf beiden Seiten und misst die Rechtsprechung wie den akademischen Diskurs konsequent am Maßstab sozialer Gerechtigkeit („social justice“) und größtmöglicher Redefreiheit auf der Basis des rechtlichen Schutzes vor Diskriminierung.

Da es absehbar ist, dass sich die technologischen Bedingungen und Diskursregeln der öffentlichen Kommunikation weiterhin und zunehmend wesentlich in der Konkurrenz zwischen den beiden globalen Hegemonialmächten USA und China entscheiden werden, dürften Amy Lais Erfahrungen und Interventionen in Zukunft noch wichtiger werden. Daher freuen wir uns besonders, dass sie dem Voltaire-Preis unserer Universität ein solches Interesse entgegengebracht hat. Zudem wurde Amy Lai, die bereits seit 2020 im Rahmen eines Lehr- und Forschungsaufenthalt an der Freien Universität Berlin tätig ist, zeitgleich mit einem Fellowship der Einstein Stiftung ausgezeichnet. Damit wird Amy Lai länger bei uns sein, als es seinerzeit Voltaire ausgehalten hat – immerhin ein Aufenthalt, von dem wir noch 270 Jahre später, wie man auch heute wieder sehen kann, noch zehren. Wir hoffen, dass unser Preis dazu beiträgt, dass Amy Lai ihre wichtigen Forschungen fortsetzen kann, und möchten ihn als Ermutigung verstehen, sich weiterhin so engagiert für die Freiheit öffentlicher Rede einzusetzen und auch zukünftig kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir können nur von ihr lernen.

 


Amy Lai - Kurzvita

Amy Lai ist eine im britischen Hongkong geborene Juristin und Journalistin. Sie studierte in Großbritannien, den USA und Kanada. Heute lehrt und forscht sie an der Freien Universität Berlin. Ihr erstes Buch "The Right to Parody" (Cambridge University Press, 2019) wurde mit mehreren Auszeichnungen, darunter den Franklyn Haiman Award for Distinguished Scholarship in Freedom of Expression 2021 (National Communication Association). Ihr neues Buch „In Defence of Free Speech in Universities“ wird vom Verlag University of Michigan Press im Jahr 2023 veröffentlicht. In ihrem bevorstehenden Projekt untersucht sie Eingriffe in die akademische Freiheit und  juristische Debatten um die sogenannte »Cancel Culture« im akademischen Feld im Vereinigten Königreich, den USA, Kanada und Deutschland.