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Der Abgrund in deutscher und baltischer Kultur

Konferenz an der Universität Tartu, 15.–16. Juni 2023
Institute for Foreign Languages and Cultures, Lossi 3 Foyer
Organisiert von Prof. Dr. Marko Pajević

Diese Konferenz des Baltisch-Deutschen Hochschulkontors wird durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) aus Mitteln des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland gefördert.

Die Metapher der Tiefe gehört wohl zu den wirkmächtigsten der Kulturgeschichte, allerdings ist sie nur schwer greifbar, da sie ambivalent und dementsprechend vielseitig bzw. unscharf ist. Einerseits steht sie für den Ursprung, für Erkenntnis und Wahrheit, andererseits für Irrationales und unkontrollierbare Gefahren. Eine besondere Figur der Tiefe wird mit dem Begriff des Abgrunds gefasst, die allein schon durch das Wort – Abgrund lässt sich ja verstehen als Bodenlosigkeit, aber auch als Grund, von dem aus etwas seinen Anfang nimmt – die Ambivalenz noch einmal radikalisiert. Die Abgründe des Menschen bezeichnen etwas Entsetzliches als auch eine den Menschen definierende Wesensdimension. Der Abgrund wird vor allem mit dem Aspekt der Unendlichkeit der Tiefe verbunden, mit ihrer Unauslotbarkeit. Der Abgrund soll hier also zunächst in seiner anthropologischen Dimension als Betrachtung dieser unauslotbaren Tiefe und Fragilität der Existenz untersucht werden.

Vielleicht auch aufgrund dieser Ambivalenz hat der Abgrund bisher wenig systematische Aufmerksamkeit erhalten. Und das, obgleich er in der deutschen Kulturgeschichte eine bedeutende Rolle einnimmt. In den europäischen Sprachen geht das Abgründige auf das griechische abyssos und die Bibel zurück, welches ebenfalls das Apokalyptische und die Hölle als auch das Urmagma, aus dem alles hervorgeht, umfasst. Im späten Mittelalter haben die deutschen Mystiker den Abgrund als Sinnbild für die Unbegreiflichkeit Gottes thematisiert. In der Romantik dann wurde der Abgrund aus dem Göttlichen in das Menschliche verlagert, nach der Aufklärung und der Infragestellung der Metaphysik sollte so die Tiefendimension des menschlichen Seins im Inneren des Menschen selbst gefunden werden, wobei die Kunst die Rolle der Religion übernehmen konnte. Nietzsche hat den „horror vacui“, die durch den Tod Gottes entstandene Leerstelle, bejahen wollen in einer Ästhetisierung des menschlichen Daseins, die letztlich den Sprung zum die mangelnde Letztbegründbarkeit der Existenz aushaltenden und bejahenden Übermenschen darstellt. Die Psychoanalyse versucht, die Abgründe des Menschen an die Oberfläche zu holen und dadurch beherrschbar zu machen, beziehungsweise sie aufzulösen. Nachdem der Nationalsozialismus noch einmal das ganze Zerstörungspotential von essentialisierenden Tiefenvorstellungen verdeutlicht hatte, sollte ein Denken der Oberflächen die gefährliche Tiefe bannen. Nicht umsonst spricht man bis heute immer wieder vom Nationalsozialismus als dem Abgrund der deutschen Geschichte. Günther Anders hat die Tiefe auf eine „schwarze Liste“ von nicht mehr zu verwendenden Wörtern gesetzt, in der Postmoderne hat Vilém Flusser ein Lob der Oberflächlichkeit geschrieben und Foucault und Deleuze/Guattari haben die Tiefe einfach zu einer Einstülpung von Oberflächen erklärt, zu einer Faltung.

Heute hat sich die Oberfläche im wissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt und dennoch gibt es politisch-gesellschaftlich seit einiger Zeit eine Rückkehr von essentialisierenden Tiefennarrativen, die sich gegen eine offene Gesellschaft wenden – die emanzipierende politische Stoßrichtung der Verschiebung zur Oberfläche scheint gescheitert und auf einen mächtigen Gegendiskurs zu stoßen. Deshalb ist es notwendig, sich erneut auch der Tiefendimension zuzuwenden und Konzepte nach der Postmoderne zu entwickeln, die auch den Abgrund denken können, ohne in essentialisierende Ausschlussdiskurse zu verfallen. Dieses Projekt bemüht sich um eine harmonische Balance von Oberfläche und Abgrund im anthropologischen Denken, um die Tiefendimension nicht einem aggressiven Obskurantismus zu überlassen.

Formen und Figuren des Abgrunds durchziehen die zeitgenössische Kultur. Gerade in Medien wie Film, Fernsehserien und Computerspielen, die sich stark an ein jüngeres Publikum richten, ist der Abgrund omnipräsent, aber auch in der Literatur ist der Begriff bzw. Abgründiges in diverser Form vertreten. Es steht zu vermuten, dass diese erneute Konzentration auf den Abgrund nicht nur als allgemeines Krisenphänomen zu deuten ist, sondern auch mit der neuen Mediensituation zusammenhängt, also mit der Digitalisierung und den Auswüchsen einer immer mehr Raum beanspruchenden virtuellen Welt. Das Internet und der virtuelle Raum können durchaus selbst als abgründig beschrieben werden und werden tatsächlich immer wieder in Figuren des Abgrunds dargestellt, wie zum Beispiel in Spiralen, mise-en-abîme und Bodenlosigkeit, etwa im Kultfilm Matrix der Wachowskis (1999).

Die Konferenz wird dem Abgrund im deutschen und baltischen Raum nachgehen, wobei zwar in den baltischen Sprachen kein deckungsgleicher Begriff besteht, die deutschen Einflüsse auf die baltischen Kulturen jedoch ein lohnender Untersuchungsgegenstand sind. Weiterhin ist eine Erforschung baltischer Konzepte für diese besondere unendliche Tiefe von groβem Interesse.

weitere Informationen: maailmakeeled.ut.ee/en/content/conference-abyss-german-and-baltic-cultures

Programm

Donnerstag, 15. Juni 2023

9:30 Begrüßung

9:45 Abgründe in der Lyrik

  • Heinrich Detering, Göttingen: Die dunkle Nacht der Seele. Mystische Denkfiguren bei Juan de la Cruz, Edith Stein und Paul Celan
  • Jaanus Sooväli, Tartu: Der Abgrund des Dionysischen in der estnischen Dichtung 
  • Marit Heuss, Leipzig: „Abgrund, Abwesen und Abwesenheit“. Zur Lyrik Paul Flemings und Wolfgang Hilbigs

12:00 Mittagspause

14:00 Abgründe in der Kulturtheorie

  • Dorothee Kimmich, Tübingen: Abgründe, Schluchten, Höhlen: Wo Kultur vor sich selbst erschrickt
  • Sabine Müller, Wien: ‚Tiefes‘ Erzählen als Herausforderung der klassischen Moderne

15:30 Kaffeepause

16:00 Abgründe in der Prosa

  • Marko Pajević, Tartu: „Abgründe des Vergessens“ in Esther Kinskys Rombo (2022)
  • Jaan Undusk, Tallinn: Der Abgrund der Gefühle in der Dekadenzliteratur
  • Leonhard Hermann, Leipzig: Blicke ins Nichts. Abgründe des Erzählens bei Adalbert Stifter und Christoph Ransmayr

19:30 Konferenzdinner

 

Freitag, 16. Juni 2023

10:00 Abgründe auf dem Bildschirm

  • Laila Niedre / Zane Šiliņa / Daniela Zacmane, Riga: Depth and fall. Downwards or upwards? Verticality of movement in Latvian literature and cinema
  • Marie-Luise Meier, Tartu: Abgrund und Krise im digitalen Spiel Disco Elysium
  • Oke Scheel, Potsdam: Zur Darstellung des Abgründigen im Videospiel Dante’s Inferno

12:15 Mittagspause

14.00 Abgründe der Geschichte

  • Siobhan Kattago, Tartu: The shock of the abyss: Totalitarianism as the burden of our time 
  • Aigi Heero, Tallinn: „Nicht nur die Mauer ist gefallen“: ein Blick in die Abgründe der DDR-Nachwendegesellschaft

16:00 Stadtführung

19:00 Empfang