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Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm

Die folgenden Überlegungen zu einem prozessorientierten Kulturkonzept gehen zunächst aus von der Grundoperation aller kognitiven und kommunikativen Systeme: von Beobachten qua Unterscheiden und Benennen. Wahrnehmen und Erkennen operieren mit Unterscheidungen, die sowohl evolutionär als auch sozialisatorisch basiert sind, und die mit Hilfe von Sprachen als differentiellen Systemen von Benennungen kommunikativ verfestigt werden; denn um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, muss das Unterscheidungsmanagement für alle Gesellschaftsmitglieder systematisiert und verstetigt werden.

Um uns in unserer Umwelt, mit Handlungspartnern und im Hinblick auf soziale Institutionen erfolgreich orientieren zu können, brauchen wir Sinnorientierungen, von denen wir (mehr oder weniger stillschweigend) annehmen, dass sie von allen anderen geteilt werden. Sinnorientierungen können theoretisch konzipiert werden als ein geordneter semantischer Raum, bestehend aus einem (prinzipiell auf Dauer gestellten) Netzwerk von semantischen Kategorien, die gewissermaßen die Knoten dieses Netzwerkes bilden. Kategorien markieren gesellschaftlich relevante Sinndimensionen wie z.B. Alter und Geschlecht, Nahrung und Kleidung, Macht und Güter, Werte und Emotionen usw.

Diese Sinndimensionen werden semantisch implementiert durch eine mehr oder weniger große Zahl von semantischen Differenzierungen, die zweistellig (gut/böse, alt/jung, krank/gesund, feindlich/freundlich), aber auch mehrstellig sein können (eiskalt/kalt/lauwarm/heiß). Der Terminus ‚Differenzierungen‘ verweist darauf, dass es sich hier um Prozesse handelt, in deren Verlauf exakt nach der Logik von Setzung und Voraussetzung eine semantische Dimension im semantischen Raum ausdifferenziert wird. Mit anderen Worten: die „theoriebautechnische“ Konstruktion dieses Ansatzes ist „freitragend“, soll heißen, ich beginne nicht mit der Behauptung der Existenz ontologischer Größen wie Kategorien und Differenzierungen; sondern der Prozess der Orientierung im semantischen Raum schafft sich gewissermaßen seine eigene Ontologie qua kollektiv akzeptierter Voraussetzung seiner Setzungen und Setzung seiner Voraussetzungen.

Werden Differenzierungen verwendet, um Beobachtungen oder Beschreibungen durchzuführen, müssen sie in seitenspezifische Unterscheidungen verwandelt werden – ein Mann (und nicht eine Frau) ist jung (und nicht alt) und krank (und nicht gesund). Mit anderen Worten, Differenzierungen werden im Gebrauch zu asymmetrischen Unterscheidungen bzw. zu spezifischen semantischen Optionen. Kategorien lassen sich daher beschreiben als Einheit der Differenz von semantischen Differenzierungen und Unterscheidungen.

In diesem „Spiel der Prozesse“ lassen sich zwei Beobachtungsrichtungen voneinander unterscheiden: Sinnorientierung und Handlungsorientierung. Sinnorientierung betrifft die Zeit- und Aktanten-neutrale Richtungsmarkierung von Handlungen, Handlungsorientierung die zeit- und aktanten-gebundene Prozessierung von Sinnorientierungsmöglichkeiten in Gestalt konkret vollzogener Unterscheidungshandlungen in Kommunikations- bzw. Handlungssituationen. Die semantischen Kategorien lassen sich kaum isoliert und unverbunden denken, sondern weisen sich – wie Wörter in einem Wortfeld – gegenseitig ihre Funktionsmöglichkeiten zu. Die systematische Ordnung dieser Funktionsbereiche konzipiere ich theoretisch als Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft, wobei hier die Lesart „Modell für“ maßgeblich ist und nicht die Lesart „Modell von“, weil in diesem Fall schon bekannt sein müsste, was „die Wirklichkeit“ ist. Wirklichkeitsmodelle können theoretisch bestimmt werden als konzeptionelle Arrangements, mit deren Hilfe individuelle Erfahrungen gesellschaftlich einsehbar und handhabbar gemacht werden können. Dieses Modell, das in der Sozialisation in den kognitiven Systemen der Aktanten (jeweils nur) partiell aufgebaut und erprobt wird, muss bei Aktanten weder bewusstseinsfähig noch bewusstseinspflichtig sein.

Wirklichkeitsmodelle lassen sich bestimmen als systematisiertes kollektives Wissen der Mitglieder einer Gemeinschaft, das über reflexive Mechanismen (=Erwartungserwartungen im Bereich Wissen, Unterstellungsunterstellungen im Bereich Intentionen und Motivationen) deren Interaktionen ko-orientiert und damit kommunalisiert. Wirklichkeitsmodelle entstehen auf dem Wege der Konstruktion und Systematisierung für essentiell gehaltener Unterscheidungen. Solche essentiellen Unterscheidungen betreffen fünf basale Dimensionen:

  • die Verhaltensweisen gegenüber Natur und Umwelt (wirklich/unwirklich, wirksam/wirkungslos, hilfreich/gefährlich, oben/unten, draußen/drinnen usw.),
  • gegenüber Ko-Aktanten (alt/jung, männlich/weiblich, mächtig/machtlos usw.),
  • Vergesellschaftungsformen (Institutionen, Organisationen), also Handlungseröffnungen bzw. Handlungsbeschränkungen, die Aktanten im Interesse gemeinsamer Problemlösungen akzeptieren bzw. erdulden,
  • in Bezug auf Normen und Werte (gut/böse, heilig/profan, akzeptabel/inakzeptabel usw.)
  • sowie hinsichtlich der Inszenierung von Affekten (glücklich/traurig, liebevoll/grausam usw.).

Dass gerade diese Dimensionen besonders relevant sind, hat vermutlich etwas zu tun mit der Struktur und Funktionsweise unseres Gehirns, in dem alle kognitiven Operationen unlösbar verbunden sind mit deren emotionalen, normativen und lebenspraktischen Einschätzungen und Bewertungen. Daher sind auch Unterscheidungen in Wirklichkeitsmodellen ebenso wie ihre Verknüpfungen ausnahmslos affektiv, normativ und empraktisch besetzt. Die für eine Gemeinschaft oder Gesellschaft relevanten Unterscheidungen sind hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit gewichtet. Diese Gewichtung drückt sich einmal darin aus, dass Unterscheidungen Bereichen zugeordnet sind, die wiederum der Unterscheidung zentral/peripher wichtig unterliegen; dass sie unterschiedliche Bindungskräfte entfalten, also mit unterschiedlich vielen anderen Unterscheidungen in Beziehung stehen bzw. gebracht werden können, und dass sie unterschiedlichen Veränderungsbedingungen unterliegen, also mehr oder weniger leicht verschwinden bzw. ersetzt werden können.

Differenzierungen werden erst dann handlungsleitend wirksam, wenn sie in Unterscheidungen asymmetrisiert werden. Damit werden sie zwar einerseits der Kontingenz unterworfen, andererseits erfordert jede Handlung Entscheidungen für die eine oder die andere Seite einer Differenz. Ein Wirklichkeitsmodell als Kategorien- und Differenzierungssystem konnte/kann darum erst dann handlungs- und kommunikationsorientierend wirken, wenn sich zugleich mit seiner Entstehung ein Asymmetrisierungsprogramm herausbildet, das symmetrische Differenzen in handlungsermöglichende Unterscheidungen zu transformieren erlaubt.
Asymmetrisierung kann auch als Form des Partei-Ergreifens gesehen werden, wodurch intuitiv plausibel wird, dass solche Asymmetrisierungen hochgradig affektiv, moralisch und empraktisch „besetzt“ sind. Sobald sich eine Gesellschaft für die eine und gegen die andere Seite der Differenz „entschieden“ hat, muss diese Entscheidung auf Dauer gestellt werden, um die soziale Integration der Aktanten zu gewährleisten. Das gelingt am ehesten, wenn es sich dabei nicht nur um eine kognitive Entscheidung handelt, sondern um eine kognitiv-affektiv-moralische Entscheidung, die identitätsbildende Funktionen übernehmen kann, weil sie sozusagen den ganzen Menschen betrifft.

Dieses Asymmetrisierungsprogramm für den Umgang mit Wirklichkeitsmodellen bezeichne ich als Kultur. Als Programm ist es in jedem Akt der Anwendung lernunwillig, langfristig gesehen aber durchaus lernfähig, was sich dadurch erklären lässt, dass das Programm sich über die Beobachtung und Bewertung seiner Anwendungsresultate selbst beobachten und reflexiv nachjustieren bzw. verändern kann. Der hier verwendete Programmbegriff bezieht sich auf interaktive lernfähige Programme mit ausdifferenzierbaren Subprogrammen, die einerseits keine starre Ablaufplanung vorgeben, andererseits aber auch aus Identitätsgründen bestimmte Anwendungen ausschließen, also kreativ selektiv operieren.

Emergenz von Gesellschaft setzt nach dieser Überlegung die Co-Genese von Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm voraus, wobei sich beide in der Folgezeit ausdifferenzieren können. Wirklichkeitsmodelle und Kulturprogramme entstehen nicht nur gleichzeitig, sondern sie bilden ein sich gegenseitig konstituierendes Prozess-System bzw. einen Wirkungszusammenhang W&K, auf den alle Sinnoperationen (in) einer Gesellschaft ausgerichtet sind. Sozialintegration konstituiert sich durch den Bezug aller Handlungen und Kommunikationen auf einen für alle Aktanten verbindlichen W&K-Wirkungszusammenhang – wie kontrafaktisch dieser auch hinsichtlich seiner kollektiven Akzeptanz unterstellt sein mag.

Die Spezifik eines W&K liegt darin, wie das Distinktionssystem asymmetrisiert und damit in soziale Praxis überführt wird. Nach allen Kenntnissen über Kulturen, über die wir bis heute verfügen, beruht die (identitätsstiftende) Spezifik eines W&K nicht in erster Linie auf der Komponente Wirklichkeitsmodell – hier gibt es offenbar eine große Gemeinsamkeit unter den Menschen –, sondern auf der Komponente Kulturprogramm. Eben deshalb sind unterschiedliche „Kulturen“ auf der einen Seite so verblüffend vergleichbar und zugleich so verblüffend inkompatibel und unzugänglich, wie inter- und multikulturelle Erfahrungen lehren.

Es dürfte ohne große Begründung einleuchten, dass das Feld semantischer Differenzierungen und ihrer möglichen Beziehungen zueinander äußerst komplex und kontingent ist. Daher müssen Gesellschaften in ihrer Lebens- bzw. Handlungspraxis Kontingenzbegrenzer bzw. Kontrollinstanzen entwickeln, die dauerhaft die Beziehungsmöglichkeiten in übersubjektiv verbindlicher Weise regeln. Diese Regelung erfolgt in Form gesellschaftlich normierten und durch Sozialisation reproduzierten kollektiven Wissens, das von den Mitgliedern einer Gesellschaft in unterschiedlichem Maße geteilt wird. Die Mitglieder einer Gesellschaft erwarten voneinander, dass sie im Großen und Ganzen über dasselbe Wissen verfügen und auf seiner Grundlage handeln. Mit anderen Worten, das kollektive Wissen ist eine operative Fiktion, die durch Reflexivität das Handeln der Individuen trotz deren kognitiver Autonomie hinreichend koordiniert bzw. ko-orientiert.

Da Aktanten nur insofern und nur solange Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft „sind“, als sie bezogen auf deren Wirklichkeitsmodell agieren, kommt der Thematisierung, Plausibilisierung und Legitimierung des jeweiligen Wirklichkeitsmodells eine entscheidende Rolle zu. Mit anderen Worten, das System von Unterscheidungen, das den kategorialen Rahmen des Wirklichkeitsmodells bildet, muss dauerhaft mit einer inhaltlich elaborierten gesellschaftlichen Semantik und mit gesellschaftlich sanktionierten Affekten und Normen verbunden werden. Das Programm für diese sozial verbindliche kommunikative Gesamtinterpretation des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft stellt die Kultur zur Verfügung. Daraus folgt: Es gibt keine Gesellschaft ohne Kultur und keine Kultur ohne Gesellschaft, und beide werden faktisch realisiert von kognitiv und kommunikativ aktiven Individuen. Die Entstehung von Kultur kann deshalb als eine nicht hintergehbare evolutionäre Errungenschaft (im Sinne von N. Luhmann) bezeichnet werden, die Kognition, Kommunikation und Interaktion kognitiv autonomer Aktanten koordiniert.
Die Entscheidung für das Konzept 'Programm' bei der Bestimmung von ‚Kultur‘ eröffnet meines Erachtens folgende Argumentationsmöglichkeiten:

Die vorgeschlagene Konzeptualisierung von ‚Kultur‘ fasst Wirklichkeitsmodelle und Kulturprogramme als unterschiedliche Aspekte eines notwendigerweise integralen Gesamtzusammenhangs „Gesellschaft“, wobei ‚Wirklichkeitsmodelle‘ eher den strukturellen (oder kategorialen), 'Kulturprogramme' eher den dynamischen (oder prozessualen) Aspekt betonen. Ein Programm enthält nicht nur eine Menge von Prinzipien, Regeln und festen Items, die aus bisher erfolgreichen Problemlösungen stammen und nicht ohne weiteres geändert werden können, sondern es braucht immer wieder neue Programmanwender. Dieser Doppelaspekt erlaubt die Beobachtung, dass der Mensch Schöpfer aller Kultur ist und zugleich die Menschen Geschöpfe einer je spezifischen Kultur sind.

Auch ein flexibles Programm erlaubt nicht alle möglichen Anwendungen: Die ausgeschlossenen Möglichkeiten bestimmen seine Spezifika ebenso wie die realisierbaren. Je nach Ausführungsinstanz (Programmanwendern), Situation, Anwendungsbereich und Verknüpfung von Programmbereichen liefert das Programm ganz unterschiedliche Ergebnisse (kulturelle Manifestationen). Charakteristisch für das Programm Kultur ist, dass es nicht nur die Herstellung von kulturellen (sprich: von Beobachtern für kulturell gehaltenen) Manifestationen, sondern auch deren Beobachtung und Bewertung steuert.
Kultur als Programm kann nach unseren kulturellen Erwartungen durch unterschiedliche Merkmale gekennzeichnet werden, unter anderem durch die:

  • spezifische Komplexität (Art, Anzahl und Relationierung von Komponenten),
  • Grade der Lernfähigkeit (Flexibilität),
  • Aufnahmekapazität für neue Komponenten und Veränderbarkeit der Komponenten (kulturelle Dynamik),
  • Reflexivität bzw. Rekursivität (Selbstbeobachtungsfähigkeit, Selbstorganisationsfähigkeit),
  • Lösung von Legitimations-, Steuerungs- und Kontrollproblemen,
  • Konfliktkapazität (Fähigkeit des Ertragens von Widersprüchen).

Je nach Ausprägung und Verbindung dieser Merkmale kann man Kulturen typologisieren, ohne dabei mit Wertkriterien operieren zu müssen.
Da – abgesehen von instinktgesteuerten Körperfunktionen – alle menschlichen Handlungen und Kommunikationen so und auch anders ablaufen und auch alle überlebensrelevanten Funktionen in unterschiedlichen Formen erfüllt werden können (vgl. etwa das Gruß- oder Höflichkeitsverhalten), muss jede Gesellschaft die ständig anstehende Komplexität reduzieren. Kultur ist der Mechanismus, der diese kontingenten Selektionsleistungen in einer intersubjektiv zugänglichen Weise für Aktanten wie für soziale Systeme zu vollziehen erlaubt. Kulturprogramme steuern, welche Selektionen realisiert werden, sie relationiert die Selektionstypen, zeichnet gesellschaftlich akzeptable aus und sanktioniert andere. Damit stiftet Kultur individuelle wie soziale Identität und kompensiert die doppelte Kontingenz, die Kommunikation bestimmt. Mit anderen Worten: Mit Hilfe ihres Kulturprogramms invisibilisieren Gesellschaften die Kontingenz ihrer Praxen.

  • Wie moderne Computerprogramme sind auch Kulturprogramme lernfähig (also partiell dynamisch), im Augenblick der jeweiligen Anwendung aber „lernunwillig“ (also normativ). Kultur als Programm koordiniert also Kognition wie Kommunikation über das kollektive Wissen, das Anwender bei sachgerechter Programmanwendung in ihren kognitiven Bereichen erzeugen. Andererseits ist jede Programmanwendung systemabhängig und damit prinzipiell abweichend, womit langfristig kultureller Wandel wahrscheinlich wird, ohne dass die normative Bindungskraft von Kultur beeinträchtigt wird.
  • Kultur als Programm stellt Problemlösungen im Bereich der Sinnkonstruktion kognitiv wie kommunikativ auf (relative) Dauer (= Kultur als Problemlösungsprogramm). Damit werden zwei für den Bestand von Gesellschaften zentrale Aufgaben gelöst, nämlich Kontrolle und Reproduktion. Die Reproduktion der Gesellschaft erfolgt durch die Weitergabe der Anwendungspraxen des Kulturprogramms an Individuen im Verlauf der Sozialisation. Die dabei vollzogene Verpflichtung der Gesellschaftsmitglieder auf ganz bestimmte Problemlösungsoptionen (samt deren normativer und emotionaler Besetzung) regelt die Beziehung zwischen sozialen Ordnungen und individuellen Freiräumen. Die Kontrolle der Individuen erfolgt nicht durch kausale Verursachung, sondern durch kulturell programmierte Bedeutungen, wobei Sprache ein effektives Instrument kultureller Kontrolle darstellt. Sprachliche Sozialisation ist besonders rigide, und die Regeln gesellschaftlich korrekter Anwendung sprachlicher Mittel kondensieren gesellschaftlich akzeptierte Erfahrungen, Affekte und Überzeugungen.
  • Kulturprogramme und deren sozial akzeptierte Anwendungen sind (beziehungsweise werden zum Teil bewusst) der Beobachtung entzogen. Sie sind gleichsam die blinden Flecken der Beobachtungen, die in einer Gesellschaft „immer schon“ üblich sind und waren. Darum besitzen kulturelle Programme für ihre Anwender den Anschein der Natürlichkeit beziehungsweise Selbstverständlichkeit, der besonders wichtig ist für die Herausbildung und Erhaltung der Identität einer Gesellschaft.
  • Kulturprogramme bestehen in der Regel aus miteinander verschalteten Teilprogrammen. So entwickeln etwa funktional differenzierte Gesellschaften Teilprogramme für jedes ausdifferenzierte Sozialsystem (= „Wirtschaftskultur“, „politische Kultur“, „Sportkultur“ usw.), die zum Teil miteinander inkompatibel werden können. Konflikte zwischen solchen Teilprogrammen werden seit dem 18. Jahrhundert über abstrakte Rechtsvorschriften gelöst (zum Beispiel über Unversehrtheits- oder Eigentumsrechte). Je nach Ausdifferenzierungsgrad eines Kulturprogramms und nach Multikulturalität einer Gesellschaft stellt sich die Frage, ob man noch sinnvoll von „der Kultur“ einer Gesellschaft sprechen kann.
  • Kulturprogramme können doppelt perspektiviert werden, und zwar als Gesamtheit aller zu einem bestimmten Zeitpunkt realisierten und sozial akzeptierten Programmanwendungen, über die als Tradition verfügt werden kann, sowie als offener Horizont von realisierbaren alternativen Programmteilen und Programmanwendungen, der die Dynamik von Kulturprogrammen bestimmt.
  • Je stärker Gesellschaften durch die Entwicklung von Mediensystemen den Grad ihrer Beobachtbarkeit erhöhen, desto drängender wird die Frage nach der Funktionsfähigkeit und Bindekraft von Kulturprogrammen. Reflexive Beobachtungsstrukturen – das hat die Modernisierung von Mediengesellschaften in den letzten dreißig Jahren drastisch gezeigt – führen notwendig zu gravierenden Kontingenzerfahrungen. Gesellschaften, deren Wirklichkeitsmodelle einer Dauerthematisierung in komplexen Mediensystemen ausgeliefert sind, entwickeln daher notwendig Medienkulturen mit hoher Pluralität und geringem Verpflichtungsgrad traditioneller Problemlösungen. Sie sind verstärkt radikalen Komplexitätsreduktionen über Fundamentalismen jedweder Art ausgesetzt.
  • Der Zusammenhang zwischen Kultur, Gesellschaft und Individuen kann grundsätzlich als „auto-konstitutiv“ bestimmt werden. Wirklichkeitsmodelle, ihre Interpretation durch Kulturprogramme und deren Anwendung, Evaluation und Modifikation durch Aktanten bedingen sich gegenseitig, Sinn- und Ordnungsproduktion erfolgen selbstorganisierend. Damit wird die Kultur einer Gesellschaft operational gegen die Umwelt und gegen andere Gesellschaften und Kulturen abgeschlossen, womit das auch für kognitive System bemühte Paradox Anwendung findet, dass nur operational geschlossene Systeme in komplexen Umwelten überlebensfähig sind, weil sie ihre Umweltkontakte selbst selegieren können (= Prinzip der Symmetriebrechung).
  • Mit Hilfe ihrer Dimensionen symbolischer Ordnungen (Riten, Mythen, Makro-Schemata der Diskursorientierung, Kollektivsymbole, Gattungen und so weiter), die als kollektives Wissen produziert und angewendet werden, überbrückt Kultur die kategoriale Trennung zwischen Kognition und Kommunikation und vermittelt die Autonomie der lebenden Systeme mit der gesellschaftlich erforderlichen sozialen Orientierung bzw. Kontrolle.
  • Kultur als Programm materialisiert sich beobachtbar in Anwendungen (wie Kunstwerken, Architekturen, Büchern oder Zeitungen, aber auch Speisen oder religiösen Kulten), die nur dann gesellschaftlich relevant werden, wenn sie eine (jeweils) relevante Öffentlichkeit erreichen und sich dort hinreichend lange etablieren können. Daher erklärt sich die hohe Bedeutsamkeit von Medien und Kommunikation für jede Kultur.

Neben den meist genannten Aufgaben Reproduktion und Kontrolle können der Anwendung von Kulturprogrammen vier damit zusammenhängende Aufgaben zugewiesen werden:

  • Integration der Aktanten in die Gesellschaft durch verbindliche Sinnoptionen;
  • Identitätsbildung der Aktanten wie der Gesellschaft durch Bereitstellen eines gesellschaftlichen Gedächtnisses;
  • Kontingenzbearbeitung;
  • Eröffnung von Lernpotentialen durch Ausnutzen von Beschreibungs- und Beobachtungsdifferenzen.

Entscheidet man sich für die Hypothese von Kultur als Programm der Thematisierung des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft, dann lassen sich einige hartnäckige Probleme der kulturwissenschaftlichen Diskussion anders als bisher üblich behandeln. Dazu einige wenige Erläuterungen.

  • Zunächst wird deutlich, dass die Kultur einer Gesellschaft nicht gleichgesetzt werden sollte mit kulturellen Manifestationen wie Symbol(system)en, Kunstobjekten, Riten und so weiter. Kulturelle Manifestationen sind allerdings die Instanzen, über die Kultur beobachtbar werden kann. Aber das Programm erschöpft sich nicht in seinen jeweils realisierten Anwendungen.
  • Die berühmt-berüchtigte Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Gesellschaft lässt sich wie folgt beantworten. Nach den hier angestellten Überlegungen gibt es so wenig kulturlose Gesellschaften wie Kulturen ohne Gesellschaften. Jede Gesellschaft muss die „universale Kontingenz“ bearbeiten, die aus der kognitiven Überkapazität des Neocortex und der Konstruktivität jeder Sinnproduktion folgt. Diese Kontingenzbearbeitung ist realisiert im Rahmen eines interindividuell verbindlichen Wirklichkeitsmodells, also im Rahmen von Gesellschaft, und das Programm für die kommunikative Thematisierung dieser Bearbeitung wird hier gesehen als Kultur, die eine Gesellschaft charakterisiert und ihre Identität (bzw. Nicht-Identität) ausmacht. Es geht also nicht um eine Opposition Kultur vs. Gesellschaft, sondern um den „Vollzug von Gesellschaft“ gemäß dem Programm Kultur im Format von kollektiven wie individuellen Sinnkonstruktionen.
  • In verschiedenen Sozialsystemen sind Institutionen entstanden, die sich auf besondere Programmteile spezialisiert haben (Kunstmuseen, Akademien, Universitäten, Theater und so weiter). Für Kultur selbst kann es keine Institution geben. Wohl ist die Kultur angewiesen auf die Kontinuität von relevanten Programmanwendungen und auf eine nicht abbrechende Akkulturation, das heißt auf Kompetenzerwerb zur Anwendung des Programms sowie auf die ständige Kommunikation dieses Programms.
  • Da Programm und Applikation bzw. Anwender in der Logik dieses Theorieangebots deutlich voneinander unterschieden werden müssen, entsteht für den (äußeren wie inneren) Beobachter verständlicherweise der Eindruck, dass „die Kultur“ immateriell und „geistig“ ist und jenseits der Individuen existiert. Wie jedes Programm materialisiert sich auch das Programm Kultur nur in seinen Anwendungen durch Aktanten, aber – wie gesagt – es erschöpft sich nicht darin.
  • Wenn Kultur als Programm zum „Vollzug von Gesellschaft“ konzipiert wird, dann muss dieses Programm (nicht aber einzelne Programmanwendungen, das heißt kulturelle Manifestationen) die Lebenszeit des einzelnen Individuums überdauern.
  • ‚Kultur‘ kann also konzipiert werden als das sozial verbindliche und sozialisatorisch reproduzierte Programm zum Abgleich individuell erzeugter Wirklichkeitskonstrukte, wobei in diesem Tuning die Kriterien der Wirklichkeitsgeltung entwickelt, erprobt und legitimiert werden. Insofern verkörpert Kultur das grundlegende Prinzip der Selbstorganisation allen Lebens, Denkens und Kommunizierens. Es geht also keineswegs um eine Opposition Kultur versus Gesellschaft oder Kultur versus Individuen (Aktanten), sondern um den realen Vollzug von Gesellschaft in/durch Aktanten gemäß dem Programm Kultur im Format von kognitiven wie kommunikativen Handlungen.
Autor Siegfried J. Schmidt
Zeitraum Juni 2013