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Nahrungstabus und Abstinenzen

Kannibalismus- und Blutverbot, 10.00 Uhr

Dr. Ulrike Kollodzeiski, Religionswissenschaft (Universität Potsdam)

Der Mensch ist, was er ißt. Aber er ißt nicht, was er ist. Der Verzerr anderer Menschen ist eines, wenn nicht das stärkste Nahrungstabu überhaupt. Während die meisten Speiseverbote kulturabhängig sind und stark variieren können, so findet sich fast überall das Verbot, einen anderen Menschen zu töten, mit dem Ziel ihn anschließend zu verspeisen. Zugleich wiegt der Vorwurf des Kannibalismus schwer. Wer als Kannibale betitelt wird, dem wird nicht nur jede Form von Zivilisation, sondern das Menschsein an sich abgesprochen. Während das Verbot, einen anderen Menschen zu töten und zu essen, also eine erstaunliche Konstanz aufweist, so ist jedoch keinesfalls eindeutig, wer unter diesen Schutz fällt. Wer als Mensch bzw. als Person angesehen wird, ist in hohem Maße kulturabhängig. Nicht jeder, den wir heute als Menschen anerkennen, wurde historisch so gesehen. Dies betrifft etwa Frauen, Sklaven und Feinde. Der Status kann zudem auf einen bestimmten Zeitabschnitt begrenzt sein. Er kann, muss aber nicht mit der Zeugung beginnen und dem leiblichen Tod enden. Er ist auch nicht ausschließlich auf die Spezies Mensch begrenzt. In vielen Kulturen gelten (bestimmte) Tiere und sogar Pflanzen als Personen und dürfen deshalb gar nicht oder nur unter besonders strengen Auflagen gegessen werden. Gerade letzteres findet aktuell unter dem Label „New Animisms“ immer stärkere Beachtung. Tatsächlich scheint es besonders der Aspekt der Beseeltheit zu sein, welcher das Kannibalismusverbot bestimmt. Sobald einem anderen eine Seele zugesprochen wird, wird sein Verzerr kritisch. Dies gilt aber nicht nur für exotische Kulturen, sondern auch für die jüdisch-christlich-islamische Tradition. Anhand des Verbots, Blut zu konsumieren, soll für sie untersucht werden, inwiefern nicht auch bestimmten Tieren (solchen mit Blut) der Personenstatus zuerkannt wird und ihr Verzerr deswegen als Kannibalismus begriffen werden kann.

 

Dr. Ulrike Kollodzeiskihat Jüdische Studien, Religionswissenschaft und Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Potsdam studiert. Sie hat an der Goethe Universität Frankfurt a.M. in Religionswissenschaft mit der Arbeit „Die Ordnung der Religionen. Die
Vermittlung von Orient und Okzident im Reisebericht ‚Viaggi‘ von Pietro Della Valle (1586-1652)“ promoviert. Seit 2019 arbeitet sie im Institut für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und forscht zum Thema Speiseverbote im antiken Christentum.

Die Beziehung von Halal und Koscher, 10.45 Uhr

Alles Koscher – Die biblischen Speisegesetze

Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Jüdische Theologie (Universität Potsdam)

Speisetabus kommen in allen Kulturen vor. Sie dienen der Unterscheidung von und in Gesellschaften, Unterschiede, die anlässlich der Kommensalität auch zu Tage treten. Die Jüdischen Speisegesetze stechen nur deshalb hervor, weil die Bibel und ihre Fortsetzungen allgemein verbreitet sind. Stellt man nach Art des Goldenen Zweigs einen Katalog aller Speisetabus zusammen (XXI, 10), dann stellt sich der Eindruck totaler Willkür ein. Aber innerhalb jeder einzelnen Kultur folgen die Speisegesetze einer strengen immanenten Logik, wie z. B. Claude Levi-Strauss in seinen Mythologica zeigt. Das gilt ebenso für die alttestamentlichen Speisegesetze, deren Systematik zuerst Mary Douglas in ihrem berühmten Kapitel Die Greuel des Dritten Buchs Mose zu Lev 11 und Deut 14 entschlüsselt hat. Die großen Levitikus-Kommentare von R. Jacob Milgrom und Thomas Hiecke setzen sich im Detail kritisch mit Mary Douglas Analyse auseinander, aber auch sie bestätigen diese Konzeption der Speisegesetze. „Alles Koscher“ bedeutet für „P“ (=Priesterschrift) ursprünglich nicht in erster Linie, sich durch Verweigerung der Kommensalität vom Rest der Welt absondern, es ist im Gegenteil eine verallgemeinerungsfähige natur- bzw. schöpfungsgemäße Art sich ernähren. Das trifft freilich nur zu, wenn man gewisse kosmologische und zoologische Prämissen teilt, die dem priesterlichen Weltbild eigen sind – wie zu zeigen sein wird.  

 

R. Prof. em. Dr. Dr. h. c. Daniel Krochmalnik, geb.: 19. April 1956 in München, Studium der Philosophie an der Hochschule für Philosophie SJ und der Judaistik in München, 1988 Promotion. Bis 2018 Lehrstuhl Jüdische Religionslehre, - pädagokik und  - didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Seit 2018 Lehrstuhl Religion und Philosophie (Altertum und Mittelalter) und seit 2020 Geschäftsführender Direktor der School of Jewish Theology der Universität Potsdam.  Seit 2022 emeritiert. Forschungsschwerpunkte: Jüdische Theologie und Jüdische Aufklärung (Haskala). Mitherausgeber der Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften Moses Mendelssohns (JubA), sowie der Werke Elie Wiesel (EWW). Bücher zur Bibel (Auswahl): Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament, Pentateuch, 3 Bde. 2000-03; Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, 2006.  

 

Die islamischen Speisegesetze – Alles ḥalāl oder ḥarām?

Imam Kadir Sanci, Islamwissenschaft (Universität Potsdam)

Unter den islamischen Nahrungsvorschriften erfahren das Schweinefleisch- und Alkoholverbot eine hohe Prominenz. Beide haben ihren Ursprung im Koran (Schweinefleisch, Q 2:173, 5:3, 6:145, 16:115; Alkohol, Q 5:90-91), wobei das Schweinefleischtabu sich stets als der Star aller Verbote halten konnte. Der Anthropologe Marvin Harris (gest. 2001) versucht dies historisch soziologisch zu begründen. Demzufolge müsste dieses Verbot aufgehoben werden, wenn sich die Umstände verändern bzw. die technologischen Fortschritte es erlauben. Die Islam-Gelehrten möchten aber weiterhin an einer theologisch-gottesdienstlichen Begründung (taʿabbudī) festhalten und unterscheiden somit die Universalität dieses Verbotes. Folglich wird es wichtig sein, die Gründe von Schweinefleisch- und Alkoholverbot bzw. dessen Allgemeingültigkeit zu hinterfragen. Zugleich dürfen weitere Nahrungsvorschriften über beispielsweise das nach islamischen Regeln geschächtete Fleisch nicht in den Schatten der Prominenz gestellt werden. Je nach Frömmigkeit und Islam-Kenntnis der Musliminnen und Muslime erfährt die Frage nach dem ḥalāl-Fleisch unter den zum Verzehr erlaubten Tieren eine hervorgehobene und herausfordernde Relevanz. Denn im Falle von Schweinefleisch- und Alkoholverbot gibt es eine gewisse Klarheit, die in der intransparenten, unüberschaubaren ḥalāl-Fleischindustrie nicht zu erkennen ist. Viele Firmen bzw. Metzgereien bieten zwar ḥalāl-Fleisch in Deutschland an, werben ihre Kunden aber oft über Vertrauen bzw. über die Mundpropaganda von Vertrauen erweckenden Multiplikatoren der Gesellschaft. Die meisten Firmen orientieren sich aber an Schächtungsvoraussetzungen, die vor mehreren Jahrhunderten in fiqh-Büchern, in Werken der islamischen Normenlehre, formuliert wurden – eine Zeit, in der es keine Massentierhaltungen und die daraus resultierenden Probleme gab. Die Fleischindustrie unserer Zeit löst jedoch eine Reihe von Fragen über Tierrechte, Umweltschutz und Gesundheit aus, welche in der Denkweise vieler ḥalāl-Fleischproduzenten unberücksichtigt bleiben. Der Karlsruher Hadithwissenschaftler und islamische Religionspädagoge Karagedik beschäftigt sich in diesem Kontext mit der Speiseethik und plädiert auf eine zeitgemäße neue Definition des Begriffes ḥalāl, welcher einer natur- bzw. schöpfungsgemäße Art der Ernährung gerecht wird. Somit steht neben Judentum auch der Islam vor der Herausforderung die islamischen Speisegesetze weiter zu denken.

 

Kadir Sanci, M.A., geb. 1978 in München. 2005-2010 Studium der Islamischen, Jüdisch-Christlichen Religionswissenschaft und Pädagogik (Goethe-Universität/Frankfurt). 2010-2011 Studienjahr in Istanbul. Seit 2011 Imam des Berliner Forum Dialog. 2011-2020 interreligiöse Tätigkeiten im Forum Dialog. 2011-2021 Vorstandsmitglied im Trägerverein des House of One. 2011-2013 Lehrbeauftragter, seit 2013 akademischer Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam. Seit 2016 Stiftungsratsmitglied der Stiftung House of One. Seit 2017 Vorstandsmitglied des universitären Netzwerks Forum der Religionen im Kontext. Seit 2020 Stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Forum Dialog. Seit 2021 Stiftungsratsvorsitzender des House of One. Seit 2021 Gründungsmitglied von Runder Tisch Berliner Imame. Seit 2021 Vorstandsmitglied der Islamischen Akademie für Bildung und Gesellschaft.

Fasten und Hungern als Körper- und Selbsttransformation, 11.45 Uhr

JProf. Dr. Bernadett Bigalke, Religionswissenschaft (Universität Leipzig) 

Seit dem 18. Jh. vervielfältigen sich in Westeuropa und Nordamerika die sozialen Orte, Begründungen und Typen von Menschen, von denen gesagt wurde, dass sie temporär oder gar dauerhaft auf Nahrung verzichteten. Ursprünglich eine asketische Praxis, die man in den mittelalterlichen Klöstern verortete, findet man sie nun in der Öffentlichkeit, z.B. in der Unterhaltungskunst, dem Kraftsport und in sozialen Bewegungen wieder, ohne dass sie in religiösen Kreisen verschwinden würde. Im Gegenteil, bestimmte katholische Frömmigkeitstraditionen, die in der post-napoleonischen Zeit wachsen, kultivieren diese Praxis neben anderen. Dies ging mit Irritationen der unmittelbaren Umwelt einher, gar mit Aufruhr oder aber (un-)gläubigem Staunen und Bewunderung, manchmal auch mit staatlichen oder medizinischen Interventionen. In dem Vortrag werden einige Protaginist:innen und ihre Motivationen vorgestellt und diskutiert, welche Rolle religiöses, medizinisches, ernährungswissenschaftliches und psychologisches Wissen bei der Aushandlung dieser Praxis als legitime oder illegitime gespielt hat.

 

Dr. Bernadett Bigalke ist Juniorprofessorin für Religionswissenschaft an der Universität Leipzig und forscht zur Religionsgeschichte Europas vom 18. bis zum 19. Jh. Ihre Schwerpunkte liegen in der Esoterikforschung sowie im modernen Katholizismus.

Woher wir wissen, was (noch) als essbar gilt. Bedeutungsträger und -konstrukteure im gegenwärtigen Ernährungsalltag, 14.00 Uhr

JProf. Dr. Tina Bartelmeß, Ernährungssoziologie (Universität Bayreuth) 

Die Frage danach, warum Menschen essen, was sie essen, ist komplexer als sie scheint. Einerseits eröffnet sie die Frage danach, warum Menschen überhaupt essen, andererseits danach, warum sie nur bestimmte Nahrungsmittel essen. Erstere Frage lässt sich aus der Perspektive der Naturwissenschaften und insbesondere der Biologie beantworten: Menschen essen, weil sie zur Aufrechterhaltung der Körperfunktionen Nahrungsenergie benötigen. Menschen sind rein biologisch betrachtet Omnivore, die in der Lage sind, eine breite Palette pflanzlicher und tierischer Nahrungsmittel zu verzehren, solange sie sich als nicht giftig kategorisieren lassen. Die Frage danach, warum Menschen aus dieser breiten Palette ungiftiger und potentieller Nahrungsmittel dennoch nur Spezifische als essbar kategorisieren, lässt sich aus den Sozialwissenschaften und unter anderem aus der Perspektive der Soziologie angehen: Was als Nahrung und somit als essbar gilt, unterliegt soziologisch betrachtet gesellschaftlichen Definitionsprozessen. In diesen Definitionsprozessen werden Klassifikationskriterien herangezogen, um zu determinieren, was in bestimmten sozialen und kulturellen Zusammenhängen als Nahrungsmittel angesehen wird. Nahrungsmittel werden anhand dieser Kriterien in Kategorien klassifiziert, sie werden mit bestimmten materiellen und ideellen Praktiken verbunden und damit werden ihnen symbolische Bedeutung zugeschrieben. Diese Bedeutungskonstruktionen beinhalten, was wann und wie gegessen wird. Im Verlauf der Sozialisation erlernen Menschen diese Bedeutungen und richten danach ihre Präferenzen aus oder nutzen sie sogar, um bestimmten soziokulturellen Milieus zu entsprechen bzw. ihre Ernährungsidentitäten zu formen. Die Präferenzen, die Klassifikationskriterien, die Kategorisierungen sowie letztlich die symbolischen Bedeutungen sind jedoch nicht statisch, sondern dynamisch. Im lebenslang anhaltenden Sozialisationsprozess und einhergehender wandelnder sozialer Rollen und Erwartungen sowie im Wandel der Gesellschafts- und Naturverhältnisse, können sie sich verändern. Grundlegend für einen solchen Wandel sind Interaktionsprozesse der Menschen in verschiedenen soziokulturellen Kontexten. Durch Interaktion und Kommunikation, werden Erwartungen (re)formuliert, Klassifikationskriterien und Identitäten (re-)definiert und schließlich permanent Kategorisierungen (re)produziert.

Durch Mediatisierung sind heute viele dieser Definitions- und Interaktionsprozesse öffentlich beobachtbar. Insbesondere auf Social Media-Plattformen treten Kommunikator:innen hervor, die als scheinbar deutungsmächtige Konstrukteure Nahrungsmitteln neue Bedeutungen zuschreiben. Gesundheitliche, ethische sowie weltanschauliche Aspekte scheinen dabei Klassifikationskriterien zu dominieren und bestimmte Nahrungsmittel zu Bedeutungsträgern spezifischer mit den Aspekten verbundener Identitäten und Lebensstile zu transformieren. Dieser Tagungsbeitrag führt in soziologische Erklärungen der menschlichen Nahrungsauswahl ein und erläutert anhand von Beispielen der Ernährungskommunikation auf Social Media-Plattformen, wie Nahrungsmittelklassifikationen kommunikativ vorgenommen werden und woher wir heute wissen, was (noch) als essbar gilt.

 

Dr. Tina Bartelmeß ist seit April 2021 Juniorprofessorin für Ernährungssoziologie an der neuen Fakultät für Lebenswissenschaften: Lebensmittel, Ernährung und Gesundheit der Universität Bayreuth. Frau Bartelmeß hat Ökotrophologie (B.Sc.) und Ernährungsökonomie (M.Sc.) an der Justus-Liebig-Universität in Gießen studiert. Im Jahr 2019 schloss sie dort im Fach Ökotrophologie ihre Promotion zu unternehmerischer Ernährungskommunikation und -verantwortung ab. Sie forscht zu gesellschaftlicher Ernährungskommunikation mit besonderem Bezug zu den Themen Gesundheit und Nachhaltigkeit. Schwerpunkte liegen in den Bereichen Organisationskommunikation und Online-Kommunikation, u.a. in sozialen Medien.