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Konzept

Die Veranstaltungsreihe„Alternative Welten“ will die Begegnung von Geistes- und Naturwissenschaften befördern. Dies erscheint notwendig, weil in der deutschen Wissenschaftslandschaft die Aufklärung das „Reich der Freiheit“ und das „Reich der Natur“ schärfer getrennt hat als im angloamerikanischen Raum, wo Werte mit Fakten verwoben gedacht werden.

1. Die Selbsttranszendierung der Physik

Als gemeinsames Bezugsproblem der beteiligten Disziplinen wird die Pluralität von Welten gewählt. Die Vermutung, dass es neben der sinnlich erlebbaren Welt noch weitere Welten geben könnte, gehört zu den Grundannahmen der Metaphysik und der europäischen Religionen. Die Zurückweisung dieser Vermutung wiederum gehörte zu den methodischen Selbstbeschränkungen der Exaktwissenschaften, die ihre Gegenstände mit möglichst sparsamen Mitteln und innerhalb des einen, eigenen Weltzusammenhangs zu erklären beanspruchen. Allerdings hat die moderne Physik diese Zurückhaltung aufgeben müssen. Im 20. Jahrhundert wurde eine Fülle von Beobachtungen gemacht, aus denen hervorgeht, dass der bisher beobachtete Bereich von einem unüberwindbaren Ereignishorizont umschlossen ist. Weiterhin sind einige Experimentergebnisse nur unter Rückgriff auf eine Welt erklärbar, die sich in mehr als den bekannten vier Dimensionen erstreckt. Besonders spekulativ, aber theoretisch plausibel sind Modelle, die Überlagerungszustände in der Quantenwelt mithilfe von Multiversen beschreiben. Aus stringtheoretischer und quantenoptischer Perspektive   wird das Verhältnis von empirischen Beobachtungen und theoretischen Beschreibungen entfaltet werden.

 

2. Religionen als Mehrwelten-Entwürfe

Umgekehrt haben Religionen ihre kosmologischen Traditionen lange vernachlässigt. Angesichts des Siegeszuges der Naturwissenschaften haben sie im Laufe der Moderne immer mehr auf Aussagen über die Welt verzichtet und das NOMA-Modell (non-overlapping-magisteria) übernommen. So wurde der Schöpfungsbericht von Genesis 1 als Gleichnis für das Weltverhältnis des Menschen gedeutet und nicht mehr als Gleichnis für die Struktur der Welt. Gleichwohl steht am Beginn aller Religionen die Vermutung, dass die hiesige Welt auf eine weitere Welt bezogen ist. Dies kann unterschiedliche Formen annehmen: die Annahme eines überirdischen Himmels, die Erzählung eines vorgeschichtlichen Paradieses oder eines endzeitlichen messianischen Reiches, die Vorstellung, dass ein Schöpferwesen bereits zu Beginn mehrere Welten geschaffen hat oder die Welt mehrere Zyklen aus Untergang und Neuentstehung durchlaufen. Sowohl das christliche Credo, als auch die Eröffnungssure im Koran wie auch jüdische Auslegungen in der Kabbala setzen die Pluralität von Welt voraus. Experten aus diesen religiösen Traditionen werden die einschlägigen Texte hierzu vorstellen und ihre kosmologischen Konsequenzen für heute darlegen.

 

3. Sprechen über mögliche Welten

Besonders die moderne Philosophie hat sich mit der Modallogik dem Problem zugewandt, wie über Nicht-Faktisches konsistent geredet werden kann. Hierzu wurden eigene Kalküle (Möglichkeits- und Notwendigkeitsoperatoren) entwickelt, die im Alltagssprachlichen mittels konjunktivischer Formen wie Deliberativ, Irrealis oder Konditionalis ausgedrückt werden. „Wenn ich Physik studiert hätte, wäre ich Astronaut geworden.“ Dabei wird stets reflektiert, wie die Welten begrifflich zu trennen sind, ob es transmundane Identitäten geben kann und ob die wirkliche Welt nur eine zufällig verwirklichte Welt aus dem Pool der Möglichkeiten darstellt. Der Theologe Dirk Evers wird die Reichweite von kontrafaktischem Sprechen über mögliche Welten aufzeigen. Vor allem die beiden letzten Reflexionen sind eng verknüpft mit der religiösen Vorstellung der Auferstehung oder Wiedergeburt bzw. mit der Theodizee-Spekulation, warum Gott nur diese und keine andere Welt erschaffen hat. Schlussendlich stellt sich die Frage nach der Einzigartigkeit des Menschen und seines epistemologischen Standpunktes. Ist die wissenschaftliche Betrachtung der Welt ein angezieltes bzw. zufälliges Resultat ihrer Entwicklung (anthropisches Prinzip) Welt oder bedarf es hierzu eines Beobachterstandpunktes von außerhalb der erforschten Welt? Philosophisch arbeitende Naturwissenschaftler werden sich diesen Fragen widmen.

 

4. Fiktionalität

Die Öffnung der Physik ist kein binnendisziplinärer Diskurs geblieben, sondern hat zu einer Fülle von populärwissenschaftlichen Formaten geführt (z.B. TV-Dokus, Spektrum der Wissenschaft, Eine kurze Geschichte der Zeit, Youtube), die sehr breit rezipiert werden. Bei vielen Menschen üben diese Darstellungen eine religionsanaloge Faszination aus: Um die Welt zu verstehen, muss man sie transzendieren.

Die Tagung wird aber auch den künstlerischen Umgang mit alternativen Welten thematisieren. Die Belletristik kennt ein breites Spektrum an Erzählungen von Zivilisationen auf fernen Kontinenten (bis zum Mittelalter) und auf anderen Planeten (ab dem 16. Jahrhundert). Es wird im 20. Jahrhundert um Vorstellungen von Zivilisationen in anderen Universen erweitert. Sie dienen meist als Projektionsfläche für Utopien oder Dystopien, mit denen sich die Gegenwartskultur kritisieren lässt.  Heute sind Kinobesucher, Science-Fiction und Fernsehzuschauer an die Motive von Dimensionsrisse, Paralleluniversen, Wurmlochreisen gewöhnt. Ein Beitrag wird Einblick geben in die Konstruktion „tiefer Welten“ von Fantasy-Serien, in deren Rollen, Requisiten, Sprachen und Stories ein Zuschauer umfassend eintauchen können soll, und dies möglichst nicht nur während der Sendung, sondern als Rollenspiel danach. 

All dies setzt voraus, dass der Mensch eine Fähigkeit besitzt, die ihm nicht nur die Verneinung oder Bezweiflung des Vorfindlichen ermöglicht, sondern darüber hinaus eine Imagination, mit der er kreativ neue Welten entwerfen kann. Sind sie nur Variationen des Bekannten, nur etwas bessere oder schlechtere Alternativen oder scheint in ihnen auch das Unvorstellbare schlechthin auf? Und wie lässt sich davon sprechen, ohne in Unverständlichkeit zu verfallen? Philosophische Ansätze verorten die Leistung produktiver Einbildungskraft innerhalb des menschlichen Geistes.