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Im Halten liegt die wahre Kraft

Minimal geöffnetes Glasfenster mit Klebefolie in Blau und Aufschrift Potsdam Transfer
Foto : Wiebke Heiss

Mit neuartigen Messgeräten wollen Laura Schaefer und Frank Bittmann individualisierte Therapiezugänge wissenschaftlich erschließen. In der Anwendung zeigen sich bereits gute Erfolge bei Long-COVID-Patienten

Jede Geschäftsidee kriegt drei Minuten. Fünf angehende Start-ups dürfen sich in Golm auf der Jahreskonferenz des Potsdam Science Parks präsentieren. Gerun- gen wird um Investoren, Unterstützer, neue Einsichten. Die sucht auch Dr. Laura Schaefer. Gespannt wie eine Sprungfeder sitzt sie im Publikum. „Ich wollte mir das längst mal anschauen“, flüstert sie. Die habilitierte Sportphysiologin führt in Lehre und Forschung die Arbeit fort, die sie vor zwölf Jahren mit ihrem damaligen Professor Frank Bittmann begonnen hat. Drei gemeinsame Erfindungen sollen neue Wege in Diagnostik und Therapie eröffnen. „Es geht mir nicht ums Geldverdienen!“, sagt Schaefer. „Eigentlich will ich, dass wir eine Firma finden, mit der wir unser Handheld zur Marktreife führen können.“

Das Gerät wirkt unscheinbar: Gehäuse aus schwarzem Plastik, so groß wie eine 250-ml- Creme-Dose, 265 Gramm schwer. Eine Seite ist sattelförmig gerundet. „Wir brauchen wirklich dringend einen Namen dafür“, überlegt Schaefer, als sie später zur Demonstration das Tablet dazu einschaltet. Das Gerät soll helfen, die Schwäche bei Long-COVID-Patienten zu diagnostizieren, individuelle Therapieansätze zu identifizieren und so die Menschen buchstäblich wieder auf die Beine zu bringen. Was sich anhört wie eine Yellow-Press-Story, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung, berichtet Frank Bittmann. Der inzwischen pensionierte Professor für Regulative Physiologie und Prävention ist Sportbiologe, Heil- praktiker, Manualtherapeut. 1993 hat er den Brandenburgischen Verein für Gesundheitsförderung e.V. an der Universität Potsdam mitgegründet, samt dazugehöriger Akademie für Gesundheit und Sporttherapie, in der er Fachkräfte fortbildet. Laura Schaefer hat bei Bittmann promoviert und habilitiert, ist in seine Praxis für Integrative Medizin eingestiegen und hält an der Uni die Vertretungsprofessur für Gesundheitserziehung im Sport. Ihre Begegnung war „ein absoluter Glücksfall“, sagen beide. Denn Schaefer brachte mit ihrem glasklaren Zahlenverständnis neue Impulse in die Datenanalyse.

In ihren gemeinsamen Forschungen geht es um neuromuskuläre Steuerungs- und Regel- prozesse – und die Frage, wodurch sie gestört werden. Funktioniert ein Muskel nicht mehr so, wie er sollte, obwohl keine organischen Schäden zu sehen sind, liegt der Fehler womöglich in der Steuerung. „Quasi durch Störeinflüsse im Gehirn“, so die Sportwissenschaftlerin. „Unsere Forschung schließt eine Lücke im Theorie-Gebilde der Bewegungswissenschaft. Wir alle müssen uns buchstäblich auf Schritt und Tritt an einwirkende Kräfte, etwa das eigene Körpergewicht, anpassen. Aber nicht mit der maximal möglichen Kraft, sondern abgestimmt an die jeweilige Anforderung, wie etwa beim Treppablaufen.“ Diese genau angepasste Reaktion auf äußere Kräfte haben Bittmann und Schaefer erstmals wissenschaftlich beschrieben. Sie nennen diese Fähigkeit „Adaptive Kraft“. Gemeint ist damit die Stabilität eines Muskels gegenüber einem sich verändernden Widerstand. „Eine völlig andere Kraft als beim Druck-Ausüben“, sagt Bittmann. Bei Störungen, etwa durch – oft unterschwellige – Schmerzsignale oder psychische Belastung, kann diese Stabilität massiv einbrechen.

Doch wie misst man dies objektiv? Frank Bittmann positioniert zur Demonstration das Handheld zwischen seiner Handfläche und Laura Schaefers Arm. Dann drückt er mit zunehmender Kraft darauf. Sie darf nur halten. Das Gerät erfasst, bis zu welchem Kraftniveau die Halteposition stabil bleibt.

Ihre Arbeit haben Laura Schaefer und Kolle- gen inzwischen international publiziert, auf Kongressen diskutiert und demonstriert. Besonders interessant ist ihre Studie an Long-COVID-Patienten, denn alle Betroffenen zeigen massive Einbrüche in der Muskelstabilität. Deutschlandweit sind Zehntausende dauerhaft krankgeschrieben. Eine Therapie ist nicht in Sicht. Doch die Muskelsteuerung reagiert unmittelbar auf störende Einflüsse ebenso wie auf helfende, erklären Schaefer und Bittmann, die diesen Effekt in der Praxis zur individualisierten Therapieableitung nutzen. „Einem Großteil der Patienten können wir spürbar helfen.“ Mehr als 60 Long-COVID- Erkrankte aus ganz Deutschland hatten sich nach einem RBB-Bericht an sie gewandt. „Nicht selten reichen wenige Sitzungen!“, berichtet Schaefer. Wie bei dem kleinen Jungen, den seine Eltern im Rollstuhl brachten. „Er kann jetzt wieder laufen“, erzählt sie und zeigt, wie eine Gänsehaut über ihren Arm kribbelt. Auch in der Früherkennung von Parkinson könnte das Gerät eingesetzt werden. Das lassen die Ergebnisse einer von der Parkinson-Gesellschaft geförderten Pilotstudie vermuten, bei der muskuläre Oszillationen gemessen wurden. Ideen für ein Trainingsgerät wurden entwickelt und zum Patent angemeldet. Nun werden Anschlussfinanzierungen benötigt.

Um weiter forschen, mehr Fachkräfte unterrichten und mehr Patienten helfen zu können, brauchen Schaefer und Kollegen neue Verbündete: „Unsere Prototypen müssten weiterentwickelt und marktreif gemacht werden“, so die Wissenschaftlerin. Den Grundstein dafür hat Potsdam Transfer gelegt, das als zentrale Einrichtung für den Wissens- und Technologietransfer an der Universität eine Schnittstelle zwischen Forschung und Wirtschaft bildet. Dort hat Dr. Sascha Gohlke die Patentanmeldungen für die Erfindungen eng begleitet. Der Prozess ist kompliziert, langwierig, teuer. Inhaberin der Patente bleibt die Universität, im Verwertungsfall erhalten die Erfinder aber 30 Prozent des Bruttoerlöses. „Finanziell lohnt sich das für die Uni vor allem mittelbar“, sagt Gohlke. „Patente sind für Start-ups oft essenziell, generieren Außenwirksamkeit und helfen dabei, Fördermittel einzuwerben.“ Die brauchen auch Bittmann und Schaefer. Vielleicht bauen sie ja jetzt ihren eigenen Pitch ...

Dieser Artikel ist erschienen im Universitätsmagazin Portal Transfer 2024.

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Josephine Arnold