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„Das Ergebnis war vorgegeben“ – Die Slavistin Prof. Dr. Brigitte Obermayr über Wladimir Putins Wiederwahl

Moskauer Kreml, Amtssitz des Präsidenten der Russischen Föderation
Prof. Dr. Brigitte Obermayr
Foto : AdobeStock/NL
Moskauer Kreml, Amtssitz des Präsidenten der Russischen Föderation
Foto : Ernst Kaczynski
Prof. Dr. Brigitte Obermayr

Vom 15. bis zum 17. März 2024 fanden die Präsidentschaftswahlen in Russland statt. Der Westen spricht von einer „Pseudowahl“: Der amtierende Präsident Wladimir Putin änderte die Verfassung, um kandidieren zu können, und trat so bereits zum fünften Mal an. Nach ersten Auszählungen kommt er auf 87 Prozent der Stimmen. Brigitte Obermayr, Professorin für Ostslavische Literaturen und Kulturen an der Universität Potsdam und Russland-Expertin, ordnet den Wahlausgang ein.

Der Ausgang der Präsidentschaftswahlen galt als vorhersehbar. Sind Sie trotzdem überrascht über die Ergebnisse?

Der Ausgang war nicht nur vorhersehbar, das Ergebnis war vorgegeben. Die Wahlbeteiligung und die Zustimmung für Putin sollten auf jeden Fall über den Zahlen von 2018 liegen und damit die Botschaft vermitteln, dass das System Putin populärer ist denn je. Man hatte die Wahl 2018 übrigens bewusst auf den 18. März verlegt, den Jahrestag der Annexion der Krym im Jahr 2014. Auch 2024 fand die Wahl also wieder in unmittelbarer Nähe dieses Jahrestages statt. Ich erwähne das, weil der Zuwachs an Zustimmung wohl in erster Linie als Zustimmung zum Krieg gegen die Ukraine verstanden werden will.

Es gab drei Gegenkandidaten ohne nennenswertes Gegenprogramm. Die Kriegsgegner*innen Ektarina Duncova und Boris Nadeždin – gerade letzterer hat sichtbar potentielle Wähler*innen mobilisiert – wurden nicht zur Wahl zugelassen.

Interessanter vielleicht, dass in den Tagen und Wochen vor der Wahl und während der Wahltage so etwas wie ein subkutaner Alarmzustand herrschte. In den zwei Wochen vor der Wahl gab es verstärkt Wohnungsdurchsuchungen, Verhaftungen, Verhöre gegen noch in Russland lebende Aktivist*innen und/oder deren Angehörige. So wurde Leonid Volkov, ein enger Mitarbeiter von Aleksej Naval‘nyj, am 12. März vor seinem Wohnhaus, in seinem Exil in Vilnius, mit einem Hammer attackiert.

Berichtet wurde von weiteren Einschränkungen in der Nutzung des Internets, vor allem im Zugang zu VPN-Netzwerken in Russland. Und natürlich hatten alle mit Spannung darauf gewartet, wie der Aufruf der oppositionellen Kräfte zum „Mittag gegen Putin“ (Polden‘ protiv Putina), also als Zeichen des Protests am Sonntag, um 12 Uhr Ortszeit, zu den Wahllokalen zu kommen, umgesetzt wird.

Wie viel Rückhalt hat Putin in der Bevölkerung wirklich?

Ich bin weder Soziologin noch Politikwissenschaftlerin. Ich kann lediglich zu bedenken geben, dass wir diese Frage nicht vor einem westlichen, zivilgesellschaftlichen Horizont beantworten können. Unter dieser Perspektive setzt ‚Rückhalt‘ die Möglichkeit einer Wahl voraus, die Möglichkeit, sich für die als beste eingeschätzte Option entscheiden zu können. In Russland gibt es weder 2024 diese Möglichkeit, es gab sie auch vorher kaum. Das einzige kulturgeschichtlich in Russland verankerte Modell eines Machtwechsels, die Oktoberrevolution 1917, einst Gründungsereignis der sowjetischen und eben auch russländischen Ideologie, wurde 2005 aus dem Kalender gelöscht. Der Revolutionsfeiertag am 7. November wurde gestrichen, stattdessen gibt es seither am 4. November den „Tag der Volkseinheit“ (Den‘ narodnogo edinstva). Ich finde diese geschichts- und gedächtnispolitische Wende sehr bezeichnend für die Ideologie des zeitgenössischen Russlands, in der sich eine Phobie gegen jede Art von Dissens zeigt.

Russland hat sich von der Autokratie Richtung Diktatur entwickelt. Unter diesen Bedingungen ist es staatsbürgerliche Pflicht, für den Machthabenden zu stimmen. Solcherart ist wohl auch Putins „Rückhalt“. Dieser ist kein Resultat eines offenen Entscheidungsprozesses. Man lebt in einem sich stabil zeigenden System, und hat Angst, dieses zu verlieren. Von diversen Manipulationen im Wahlvorgang abgesehen: Einerseits fiel der erste Wahltag auf einen Arbeitstag, wodurch Behörden und Betriebe zumindest an der Wahlbeteiligung als solcher ‚mitarbeiten‘ konnten, das vielfach angebotene Online-Wahlsystem ließ ähnliches zu.

Kurz vor den Wahlen, am 16. Februar 2024, verstarb einer der wenigen politischen Kontrahenten Putins, Alexej Naval’nyj, aus ungeklärten Gründen in der Strafkolonie. Hat dieses Ereignis Einfluss auf die Wahlen genommen?

Zunächst kann man feststellen: Das Todesdatum Naval‘nyjs liegt genau einen Monat vor dem Wahltermin. So gesehen könnte es sich um einen ‚symbolischen Mord‘ handeln, mit symbolischem Datum. Dann wäre Naval’nyjs Tod seine Art Drohung des Systems an alle, die dagegen sind. Dazu müsste man aber feststellen, dass diese ‚Maßnahme‘ durchaus taktische Fehler hatte. Naval’nyj, und damit die Idee einer ‚Opposition‘ wurden damit eher aktualisiert denn begraben. Viele Teilnehmer*innen der Trauerfeier in Moskau, aber auch der spontanen Kundgebungen in anderen Teilen Russlands berichteten davon, das erste Mal seit langem wieder das Gefühl gehabt zu haben, nicht allein zu sein mit einer kritischen Einstellung. Es waren Parolen zu hören, wie sie bei von Naval’nyj veranstalteten Kundgebungen skandiert wurden: „Russland ohne Putin“ (Rossija bez Putina), oder „Unser Präsident!“ (Naš Prezident!, auf Naval’nyj bezogen).

Apropos ‚veritable Gegner‘: Manche Kommentator*innen holen nicht ganz zu Unrecht noch weiter aus, und führen an, dass der einzige reale Gegner Putins, der Kommandeur der Söldnertruppe ‚Vagner‘, Evgenij Prigožin, nach dem im Juni 2023 versuchten Putsch durch ‚Absturz‘ seines Flugzeuges genau zwei Monate nach dem gescheiterten Aufstand ausgeschaltet wurde.

Was bedeutet der Ausgang der Wahlen für andere Länder der ehemaligen Sowjetunion und für den Krieg gegen die Ukraine?

Einerseits waren die Monate vor den Wahlen von einer Eskalation der Aggression gekennzeichnet – das war zu erwarten. Und es kamen neue Bedrohungsszenarien dazu: am konkretesten wahrscheinlich für Transnistrien und damit die Republik Moldau, mit der ominösen ‚Bitte um Unterstützung‘ aus Transnistiren an Russland. Und dann natürlich immer wieder die NATO-Außengrenzen, das Baltikum. Der nächste mögliche Wendepunkt wird wohl die US-Präsidentschaftswahl sein.

Wenn Putin eine weitere sechsjährige Amtszeit im Kreml beendet, wäre er länger an der Macht als Josef Stalin, der die Sowjetunion 29 Jahre, bis zu seinem Tod 1953, führte. Welchen Status genießt Putin Ihres Erachtens in dem Land?

Den wesentlichen Teil der Antwort gab ich schon oben, als Sie nach dem ‚Rückhalt‘ Putins in der Bevölkerung fragten. Putin ist ein Diktator, der für das System steht. Für den Systemerhalt und somit für eine auf prekäre Angst gründende ‚Stabilität‘, oder eher Erstarrung. So sehr eine Ablösung Putins ein erster Schritt zu einer Veränderung, einem Systemwechsel wäre: Es stellt sich die Frage, wie ein solcher vonstattengehen würde, in einer Gesellschaft, die wenig politische Gegenentwürfe zur Verfügung hat. Ich will damit nicht sagen, dass der ‚erste Schritt‘ nicht dringlich wäre. Aber neben der Frage „wer?“ muss man vor allem die Fragen nach dem Was, nach dem System stellen.