Dank Anja Tschiersch könnte das für kommende Generationen anders aussehen. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam arbeitet im Rahmen ihrer Promotion an Augmented-Reality-Konzepten für den Unterricht. Dabei werden virtuelle Elemente in die Aufnahme der realen Umgebung eingeblendet. Im Gegensatz zur Virtual Reality, bei der die ganze Umwelt digital ersetzt wird, geht es hierbei um die Ergänzung von dem, was man real wahrnimmt. „Es sieht eigentlich so aus, als würden Sie mit der Kamera ein Foto machen wollen. Dann bewegen Sie die ja auch und sehen über den Bildschirm die reale Welt“, erklärt Anja Tschiersch. Nur eben mit hinzugefügten digitalen Elementen, wie etwa einem Molekülmodell. Das bekannteste Beispiel für Augmented Reality dürfte das Spiel „Pokémon GO“ sein. Dabei können User*innen mit Smartphone oder Tablet digitale Pokémon im alltäglichen Stadtbild finden.
Beim didaktischen Einsatz geht es nun darum, Lehrinhalte für Schüler*innen zu veranschaulichen. Dies kann wie im Beispiel von Tschiersch geschehen, indem Experimentieraufbauten mit einem 3D-Modell überlagert werden, sodass die Lernenden die sonst nicht sichtbaren Strukturen sehen. Dabei rückt ein Bereich in den Fokus, bei dem Schüler*innen häufig Verständnisprobleme haben: Lehrerinnen und Lehrer gehen im Unterricht nach einem Experiment meist sofort auf die abstrakte Ebene der Gleichungen und Formeln über. „Aber was passiert denn da jetzt im Experiment?“, fragt Anja Tschiersch „Warum zum Beispiel reagiert Eisen mit Sauerstoff zu Eisenoxid?“ Was die Chemikerin als didaktische Lücke formuliert, dürfte auch vielen Lernenden durch den Kopf gehen – und sie demotivieren. Denn es fehlt ihnen die Teilchenebene. Zu dieser gehört die Vorstellung davon, wie chemische Stoffe in Atomen und Molekülen aufgebaut sind. Sie bildet also das Bindeglied zwischen dem, was man in der Realität beim Experiment beobachten kann, und der abstrakten Formelschreibweise. Doch selbst wenn der räumliche Aufbau der Moleküle behandelt wird, bleibt er in zweidimensionalen Modellen schwer verständlich. Durch die 3D-Modelle der von Tschiersch erforschten Augmented-Reality-App könnten die Strukturen und Wechselwirkungen der Teilchen jedoch zugänglicher werden.
Das alles wird freilich nichts verändern, wenn es bei guten Ideen bleibt. Tschierschs Ergebnisse müssen auch wirklich in den Schulen ankommen. Daher veranstaltet die Wissenschaftlerin immer wieder Fortbildungen für Chemielehrer*innen. „Ich arbeite sehr eng mit Lehrkräften zusammen. Ich möchte ihre Sichtweise aufnehmen. Sie sollen an dieser Entwicklung teilhaben.“ Ziel ist es vor allem, die Teilnehmenden zur Gestaltung eigener AR-Lehrmaterialien zu befähigen und die Akzeptanz für deren Einsatz zu vergrößern. Zugleich kann die Forscherin mit dem Feedback ihre Prototypen stetig verbessern. Schließlich kommt es von den Menschen, die am Ende mit den Materialien arbeiten werden und ihren Anwendungsbereich – den Chemieunterricht – am besten kennen. „Ich würde mir wünschen, dass die Lehrerinnen und Lehrer das Gefühl haben, mitgewirkt zu haben.“
Einige sind dabei zunächst skeptisch. „Ein älterer Kollege meinte, es gebe schon so viele Tools fürs Klassenzimmer und jetzt solle das nächste kommen.“ Nachdem er sich dennoch auf Tschierschs Anwendung eingelassen hatte, war aber selbst dieser Lehrer überzeugt von der tatsächlich neuen Idee. Und das ist es, worum es der Forscherin in erster Linie geht: Sie möchte die Lehrer*innen für einen didaktisch sinnvollen Einsatz von AR begeistern – für mehr Durchblick im Chemieunterricht.
Die Autorin Luise Westphal studiert an der Universität Potsdam.
Der Text entstand in dem Seminar „Schreiben über die Zukunft – Texten für Journalismus und PR“, das von Luisa Agrofylax und Dr. Jana Scholz in Studiumplus angeboten wurde. Weitere Artikel von Studierenden finden Sie rechts oben über die graue Menüleiste.