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„Die Menschen sind aufgefordert, sich gegenseitig zu unterstützen“ – Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Roland Verwiebe über die Corona-Pandemie

Zur Corona-Pandemie – Beiträge aus der Universität Potsdam

Prof. Dr. Roland Verwiebe im Interview. | Foto: Kaya Neutzer
Photo : Kaya Neutzer
Prof. Dr. Roland Verwiebe im Interview
Man könnte meinen, Gesundheitskrisen wie die aktuelle Corona-Pandemie machten vor niemandem halt. Doch die existenzielle Bedrohung durch Jobverlust und finanzielle Einbußen, aber auch die Belastungen durch Kinderbetreuung und Einsamkeit trifft manche Menschen sehr viel härter als andere. Prof. Dr. Roland Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit an der Universität Potsdam, beschreibt die Auswirkungen für Menschen, die sozial schlechter dastehen.

Herr Verwiebe, die sozialen Auswirkungen des Corona-Virus sind enorm, stehen doch mit der Eindämmung des wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Geschehens ganze Existenzen auf dem Spiel. Wer ist von der Krise aus gesellschaftlicher Perspektive besonders betroffen?

Die aktuelle Krise erinnert mich persönlich an die Zeit kurz vor und nach der Wiedervereinigung, in der in Ostdeutschland und in den osteuropäischen Staaten innerhalb kürzester Zeit Millionen Menschen arbeitslos wurden. Gleichzeitig wurden in dieser Phase auch sehr viele Lebensbereiche völlig neu organisiert. Dies betraf die Verwaltung, den öffentlichen Nahverkehr, die Frage was Menschen wie konsumieren, bis hin zu dem Verhältnis der Generationen untereinander und wie Familien in Krisenzeiten funktionieren können und müssen. All das finden wir aktuell wieder. Vielleicht hilft es Deutschland auch, dass wir den Transformationsschock der 1990er Jahre noch erinnern können. Momentan wird zum Beispiel viel massiver die Wirtschaft unterstützt, als das damals der Fall war. Aber der Auslöser ist natürlich ein ganz anderer, jetzt ist es eine globale Gesundheitskrise und damals war es der Zusammenbruch der SED-Herrschaft.

Aktuell sind verschiedene Gruppen betroffen:

- Familien mit Kindern, im besonderen Alleinerziehende. Letztere können die Betreuung von Kindern und gleichzeitiges Arbeiten in der Fabrik, Verwaltung oder Home Office nicht oder nur sehr schwer schaffen.

- Alte Menschen in den Heimen und zu Hause, die schon jetzt und in den kommenden Wochen und Monaten wenig oder gar keinen sozialen Kontakt mit ihren Familien haben werden. Das ist extrem schwer für diese Menschen, denn die Gesundheit der Hochaltrigen hängt in sehr großem Maße von sozialen Interaktionen ab. Das wird viel zu wenig thematisiert im Augenblick. Wir hören nur, dass wir die Gruppe nicht gefährden dürfen. Aber das reicht nicht. Großbritannien empfiehlt sogar die Selbstisolation der über 70-Jährigen. Das ist meines Erachtens verheerend.

- Kleine Unternehmen und Selbständige sind in ihrer wirtschaftlichen Existenz durch die Bank weg bedroht. Aber auch größere Unternehmen werden schnell in Schieflage geraten können, weil Lieferketten und Absatzmärkte zusammenbrechen. Dies betrifft alle Branchen von Gastronomie, Hotelwesen, Fluglinien, über Handel, Bauwirtschaft, der Industrie bis hin zum Handwerk. Alle deutschen Automobilhersteller haben ihre Fabriken in Deutschland geschlossen. Das ist nur ein Beispiel.

- Positiv privilegiert sind die Angestellten, die ggf. von zu Hause arbeiten können und die Beamten der öffentlichen Verwaltungen.

Sie sind Experte für soziale Ungleichheiten. Welche Rolle spielen diese in Krisen?

Bisher kann man in Deutschland bei sehr, sehr vielen Menschen Vernunft, gegenseitige Rücksichtnahme und Solidarisierung beobachten. Eine ziemliche Gelassenheit angesichts des Ausmaßes der Krise. Es gibt gegenteilige Medienberichte, die aus meiner Sicht aufbauschend sind. Über die Millionen von Menschen, die alles versuchen, was machbar ist, wird nicht berichtet. Das kann ich nicht nachvollziehen.

Wie stark die Krise soziale Ungleichheiten verschärft, hängt von mehreren Faktoren ab: Für wie lange sind die normalen sozialen und wirtschaftlichen Abläufe stark gestört – reden wir über drei Wochen oder über fünf Monate? Wie viele Menschen bleiben gesund? Wie gut können Familien diese Störungen mit ihren Ersparnissen abfedern? Und wie stark greifen die Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen? Wie effektiv sind diese und was kommt bei den Bürgerinnen und Bürgern sowie betroffenen Firmen letztlich an?

Wie geht es jetzt weiter?

Die Situation der sozialen Schwachen wird sich ggf. weiter verschlechtern, denken Sie an Obdachlose, Hartz-4-Empfänger, Geflüchtete usw. Besonders problematisch finde ich die Situation der berufstätigen Alleinerziehenden. Der Wegfall der Schulen und Kinderbetreuung trifft diese sehr hart. Diese Gruppe sollte man speziell unterstützen. Man muss diese Personen finanziell und sozial unterstützen, durch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, aber auch Nachbarn, Freunde und Bekannte können helfen. Der Staat kann nicht alles leisten. Die Menschen sind in der aktuellen Situation auch aufgefordert, sich gegenseitig zu unterstützen. Dies ist angesichts des Kontaktverbots, welches die Bundesregierung erlassen hat, ein Gebot der Stunde. Letztlich hängt vieles, vor allem auch die soziale Situation der Menschen davon ab, ob die getroffenen Maßnahmen greifen, die Krankenhäuser weiter arbeiten können und genügend medizinisches Equipment und Corona-Tests, an denen es derzeit mangelt, verfügbar bleiben. 

 

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