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Kartographie der Aufklärung auf dem Virtuellen Stadtplan von Tartu

Der virtuelle Stadtplan "Saksa Tartu / Deutsches Dorpat" - Hintergrund und Konzept

Der virtuelle Stadtplan Saksa Tartu – Deutsches Dorpat erwuchs aus einer vielseitigen und langjährigen Beschäftigung mit der deutschen Kulturgeschichte der altehrwürdigen Universitätsstadt, die im 19. Jahrhundert als Standort einer namhaften deutschsprachigen Universität ihre Glanzzeiten erlebt hatte. Das Projekt ermöglichte das Zusammenführen und Präsentieren des schon vorhandenen Wissens beider Seiten – dem Stadtmuseum Tartu und der Tartuer Germanistik – und befasste sich somit mit der Popularisierung des akademischen Wissens mit den Mitteln der aktuellen Museumspädagogik. Der entstandene Stadtplan ist zweisprachig (Deutsch und Estnisch) und umfasst mehr als 150 Texte von mehr als 40 deutsch(baltischen) Autoren. Die Bandbreite der Textauszüge reicht von Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts über studentische Memoiren und Belletristik bis zu Dorpat-Anekdoten und -Gedichten. Die meisten Texte erscheinen erstmals in estnischer Übersetzung und sind von Reet Bender für den virtuellen Stadtplan übersetzt worden. Eine Besonderheit bildet dabei die Eigenart des baltischen Deutsch, die auf der langjährigen Beschäftigung mit dieser sprachlichen Varietät und der Arbeit am Deutschbaltischen Wörterbuch beruht (vgl. z. B. Bender 2009, Arold 2019).

Jeder Text ist auf dem Stadtplan lokalisiert und per Klick darauf abrufbar. Möglich ist eine Autorensuche wie auch eine Stichwortsuche nach Hauptthemen, Spielorten, Gattungen, Jahreszeiten etc. Die Autoren werden durch Kurzannotationen und Bildmaterial vorgestellt.

Virtueller Stadtplan Saksa Tartu

Der virtuelle Stadtplan lässt sich auch auf dem Smartphone, etwa auf Stadtspaziergängen, verwenden. Er richtet sich gleichermaßen an alle stadthistorisch Interessierten wie an Touristen.

Personen, Quellen und Orte der Aufklärung

Im Rahmen des Erasmus+ Projekts „Medienpraktiken der Aufklärung“ wurde Tartu/Dorpat auf dem Virtuellen Stadtplan als eines der Zentren der Aufklärung in den Baltischen Provinzen Russlands sichtbar gemacht. Es wurde eine spezifische Kartographie entwickelt, die für das Aufklärungszeitalter relevante Personen, Quellen und Orte markiert. Das 18. Jahrhundert war für die Stadt ein unglückliches Jahrhundert (siehe Stichwort: 18. Jh). Der Nordische Krieg (1700-1721) zwischen Russland und Schweden hatte für Tartu verheerende Folgen: 1708 wurde die Stadt nach der Einnahme durch russische Truppen komplett zerstört, die deutschen Bürger nach Russland deportiert. Das Aufleben der Stadt geschah erst langsam und dreimal – 1755, 1763 und 1775 – vernichteten Brände das Aufgebaute. Besonders verheerend war der letzte Brand, dem fast die ganze Stadt zum Opfer fiel. Erhalten blieben nur die Straßenzüge um die Johanniskirche herum, wo der Vater des Sturm-und-Drang-Dichters J.M. R: Lenz (1751–1792) – der pietistische Geistliche Christian David Lenz (1720 Köslin – 1798 Dorpat) seit 1759 Pfarrer war. Somit ist Tartu auch die Stadt der Jugend des Dichters Lenz gewesen. Seine Familie hatte in Livland Wurzeln geschlagen und viele namhafte Akademiker hervorgebracht, wie den älteren Bruder des Dichters – der Pfarrer Friedrich David Lenz (1745–1809), der u.a. der erste Estnischlektor der Universität Tartu wurde; sein Sohn, Gottlieb Eduard Lenz (1788–1829), wurde Professor für Theologie und sein Enkelsohn, der Physiker Emil Lenz (1804–1865), der als einer der Ersten die Zusammenhänge zwischen Magnetfeldern und elektrischen Feldern erkannte und die die Lenz’sche Regel formulierte. Ende des 18. Jahrhunderts kümmerte sich der Historiker, Jurist und Justizbürgermeister der Stadt Friedrich Konrad Gadebusch (1719 Rügen–1788 Dorpat) um die Geschichte der Stadt. Im Jahre 1789 zog der Buchdrucker Michael Gerhard Grenzius nach Tartu und hat in demselben die erste lokale Zeitung – die Dörptsche Zeitung – gegründet, zusammen mit dem Conrektor der kombinierten Stadt- und Kronsschule Johann Gottfried Findeisen (siehe Stichwort Publizistik). Später ist Grenzius der Universitätsbuchdrucker geworden. Ein richtiges Aufleben für die Entwicklung der Stadt hat allerdings erst die Wiedergründung der Universität 1802 mit sich gebracht. Auf dem virtuellen Stadtplan gibt es dazu eine ganze Auswahl von Texten zur Universität, die nun zentrale Rolle in der geistigen Entwicklung der drei baltischen Provinzen spielte. Die Textauszüge betreffen unterschiedliche Themen wie z.B. Impressionen über die Stadt aus der Feder von Professoren, studentische Rückblicke, aber auch die Frage, wie haben sich die Veränderungen, die der Stadt durch die Neugründung der Universität erlebte, auf das Leben der Stadtbürger ausgewirkt. Die Auswahl betrifft eine Menge von Praktikern, die mitgeholfen haben, aufklärerische Ideen in den baltischen Provinzen zu verbreiten –  wie die Publizistik (siehe Stichwort Publizistik) und Bibliotheken (siehe Stichwort Bibliotheken und Lektüre) bis zu Gesellschaften (siehe Stichwort Vereine und Gesellschaften).