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„Kindern etwas beibringen – vielleicht ist das überall auf der Welt gleich“ – Die syrische Lehrerin Entisar Karkokli unterrichtet an einer Grundschule in Wittenberge

Zum Anfang ein Spiel. Entisar Karkokli fächert Karten in ihrer Hand, hebt sie hoch über den Kopf. „Wer will zuerst ziehen?“ Die gestreckten Finger schnellen in die Luft. Die Lehrerin geht durch die Reihen, hält den Kindern die bunten Plastikkarten hin, auf deren Rückseite sie Malaufgaben geschrieben hat. Neunmal achtzig, vierhundert mal drei, siebenmal sieben. Entisar Karkokli drückt aufs Tempo. Sie will die Lösungen hören. „Schnell, schneller!“ Jetzt kein langes Nachdenken. Zu oft haben sie das schon geübt. Mit ihren dunklen, blitzenden Augen feuert sie die kleinen Rechner an. Und die spielen mit, rufen ihre Ergebnisse in den Raum. Doch plötzlich stockt es. „Siebenmal sieben?“, wiederholt die Lehrerin fragend. Ungläubig schaut sie das Mädchen an, das die Karte gezogen und nun den Blick gesenkt hat. „Das kannst du doch, sag mal, siebenmal sieben!“ Es bleibt still. Karkokli schaltet um: „Saba tarb saba“. Als noch immer keine Antwort kommt, stellt sie sich neben die Bank des Mädchens und fragt leise: „Was ist los?“ Dann zählt sie mit ihm die Malfolge durch, bis sie bei der 49 angekommen sind.

Später wird die Lehrerin das schmale, blassgesichtige Kind an die Tafel holen und schriftlich eine der schwierigsten Aufgaben lösen lassen. Alle werden sehen können, dass das Mädchen rechnen kann wie kein anderes in dieser vierten Klasse. Entisar Karkokli ist zufrieden. Zu genau weiß sie, wie es sich anfühlt, in einer Sprache denken zu müssen, die nicht die eigene ist und deren Worte manchmal einfach davonfliegen, wenn die Gedanken woanders sind. Vielleicht bei der Familie zu Hause, dem neuen Zuhause in der deutschen Stadt Wittenberge an der Elbe. Vielleicht aber auch zu Hause in Syrien, in der fast völlig zerstörten Stadt Deir ez-Zor am Euphrat.

Entisar Karkokli war Anfang zwanzig, als sie an der Universität ihrer Heimatstadt das Lehrerstudium für die Grundschule abgeschlossen und in einem kleinen Dorf ihre erste Klasse übernommen hatte. Die Kinder, die sie mit großen Augen anschauten, diesen einen ersten Moment, in dem sie verstand, jetzt verantwortlich zu sein, sie wird ihn nicht vergessen. Dieses ehrliche, völlig offene, ganz und gar unverstellte Gefühl zwischen ihr und den Kindern. Wo immer sie vor einer Klasse steht, erinnert sie sich daran und spürt das große Glück, sich für den richtigen Beruf entschieden zu haben.

Von Syrien nach Wittenberge

Wohl deshalb führte sie, als sie 2015 am Endpunkt ihrer langen Flucht vor dem Krieg in Syrien im brandenburgischen Wittenberge ankam, ein direkter Weg in die Schule. „Ich wollte mich nützlich machen, sprach mit den syrischen Eltern, die ihre Kinder zum Unterricht brachten, und übersetzte vom Englischen ins Arabische.“ Als Karkokli den Hinweis bekam, sich an der Universität Potsdam zu bewerben in einem ganz neuen Qualifizierungsprogramm für geflüchtete Lehrkräfte, zögerte die junge Lehrerin keine Sekunde. Mit einem deutschen Abschluss würde sie vielleicht wieder in ihrem Beruf arbeiten können. Nichts interessierte sie mehr als das.

Täglich fuhr sie nun mit dem Zug von Wittenberge nach Potsdam, drei Stunden hin und drei zurück, paukte sich im Intensivkurs die fremden Vokabeln ein und hörte in Seminaren, worin sich das deutsche Schulsystem vom syrischen unterscheidet und was hierzulande pädagogisch anders gemacht wird. In ihrem beruflichen Handwerk fühlte sich die junge Lehrerin keine Minute fremd. Psychologisch fand sie sich in Syrien sogar etwas gründlicher ausgebildet. „Kindern etwas beizubringen, auf sie einzugehen, zu erspüren, wie man sie gut unterstützen kann, ist universell“, sagt sie, „und vielleicht überall auf der Welt gleich.“

In nur drei Uni-Semestern hob sie ihr Sprachniveau von Null auf B2, absolvierte parallel alle pädagogischen Kurse, die sie für das Zertifikat brauchte, um als Assistenzlehrkraft an die Friedrich-Ludwig-Jahn-Grundschule in Wittenberge zurückkehren zu können. Über 50 Mädchen und Jungen, wie sie selbst geflüchtet, saßen dort in deutschen Klassen und verstanden kein Wort. Entisar Karkokli fand das völlig unsinnig. Mit Mazen Houkan, einem syrischen Kollegen, und einer Fachkraft für Deutsch als Zweitsprache bildeten sie ein Team, teilten die Kinder in drei Gruppen und unterrichteten sie in Mathe und Musik, Englisch und Kunst, Sport und Deutsch. „Für einige war es das erste Mal, dass sie überhaupt eine Schule besuchen konnten“, berichtet Karkokli und erzählt von einem elfjährigen Jungen aus Afghanistan, der weder lesen noch schreiben konnte.

Schulleiterin Kerstin Schulz freute sich über die Assistenzlehrerstellen, die das Bildungsministerium für zwei Jahre finanzierte. Noch mehr aber freute sie sich, die beiden syrischen Lehrkräfte im Unterricht einsetzen zu können, denn die Zahl der Kinder mit Migrationsgeschichte nahm weiter zu. „Es ist so wichtig, dass jemand da ist, der ihre Sprache spricht, der ihnen hilft, sich in der fremden Kultur zurechtzufinden, der die Sorgen der Eltern versteht und Missverständnisse aufklären kann.“ Zum Beispiel, dass die Kinder während des Zuckerfestes nicht einfach zu Hause bleiben können, sondern dafür eine Schulbefreiung beantragt werden muss. Oder dass es gut wäre, wenn sie während des Ramadans ein wenig essen und trinken, um sich im Unterricht besser konzentrieren zu können. Die syrischen Lehrkräfte fanden dafür immer die richtigen Worte.

Endlich ein fester Vertrag

Umso unverständlicher war es, dass nach den beiden Jahren Schluss sein sollte. „Die Finanzierung der Stellen lief aus. Ich durfte nur noch als pädagogische Hilfskraft arbeiten.“ Entisar Karkokli wurmte das. Ein Rückschlag, den sie nicht einfach hinnahm. Als ihr die Schulbehörde erklärte, dass sie für eine Anstellung als vollwertige Lehrkraft das Sprachniveau C1 vorweisen muss, es dafür aber in Wittenberge keine Kurse gab, brachte sie sich die schwierige Grammatik, das umfangreiche Vokabular selbst bei. „Aber auch dieser Prüfungsnachweis reichte noch nicht“, erinnert sich Karkokli. Obwohl sie in ihrer Heimat ein Lehramtsstudium absolviert, sich in Potsdam für den deutschen Schuldienst qualifiziert und nun schon einige Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte, schickte man sie noch einmal zu pädagogischen Seminaren für Berufsquereinsteiger. Als auch das geschafft war und alle Abschlüsse auf dem Tisch lagen, hätte es keinen ersichtlichen Grund mehr geben dürfen, sie nicht fest einzustellen. „Stattdessen arbeitete ich befristet in zwei verschiedenen Schulen. Das zerrte an den Nerven.“ Die junge Frau begann energischer aufzutreten, meldete sich in öffentlichen Diskussionen zu Wort, verschaffte sich Gehör in der Politik. Mit nachhaltiger Wirkung. Endlich. Ein fester Vertrag.

2021 übernahm Entisar Karkokli von einer Kollegin eine vierte Klasse, die sie zuvor schon als Assistenzlehrkraft begleiten durfte. Schulleiterin Schulz traute es ihr zu, befürchtete jedoch, dass es Einwände bei den deutschen Eltern geben könnte. Aber ganz im Gegenteil. So wie sie vom ersten Augenblick das Herz und das Vertrauen der Kinder gewann, so spürten auch die Eltern, dass hier eine Pädagogin klug und versiert ihren Beruf ausübt. Wie sie forderte, ohne Druck auszuüben, wie sie anspornte und vorantrieb, ohne jemanden zurückzulassen, verschaffte ihr Respekt.

Mit dieser Beharrlichkeit bewältigte Karkokli im vergangenen Jahr auch ihre bislang größte Herausforderung: den Übergang ihrer Klasse in die weiterführenden Schulen. „Ich musste Gutachten schreiben, mich mit dem Lehrerkollegium abstimmen und den Eltern die Empfehlungen erläutern.“ Sie atmet tief ein und pustet noch einmal geräuschvoll aus, als sie davon berichtet. Im Kulturhaus der Stadt habe sie auf der Bühne gestanden, eine Rede gehalten und ihre ersten Abschlusszeugnisse übergeben. „Die Eltern applaudierten und die Kinder schenkten mir ein Bild, auf dem jedes von ihnen als fleißige Ameise gezeichnet war.“ Die Lehrerin schlägt die Hände zusammen. Und dann erzählt sie, wie sie auf der Straße jenen Jungen aus Afghanistan wiedersah, der mit elf Jahren noch kein Wort lesen und schreiben konnte und den sie, gleich nach seiner Ankunft, unterrichtet hatte. Er lerne jetzt an der Oberschule und habe in Mathe eine Drei, rief er ihr zu. Und: „Das haben Sie gemacht!“

Entisar Karkokli ist Lehrerin. Einer der wichtigsten Berufe, wo auch immer auf der Welt. Sie steht in einem deutschen Klassenzimmer und schreibt Zahlen an die Tafel, die arabisch genannt werden. In ihrer Klasse sitzen sieben Kinder mit Migrationsgeschichte. Eines davon ist erst seit einem Jahr hier. Ein Mädchen aus Syrien, das an manchen Tagen jemanden braucht, der „saba tarb saba“ sagen kann. Nur für einen Moment der Rückversicherung, um dann die nächsten Schritte umso leichter gehen zu können.

Im Frühjahr 2025 erhielt Entisar Karkokli, inzwischen deutsche Staatsbürgerin, als erste Absolventin des Refugee Teachers Program der Universität Potsdam die Urkunde einer Beamtin der Bundesrepublik Deutschland.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.