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Brandenburg 1717 – Thomas Fischbacher erweckt eine 300 Jahre alte Landesbeschreibung zu neuem Leben

Auschnitt einer Karte Des Churfürstenthums Brandenburg
Dr. Thomas Fischbacher im Interview. Das Foto ist von Sandra Scholz.
источник : Jacob Paul von Gundling
Land-Charte Des Churfürstenthums Brandenburg von Jacob Paul von Gundling, 1724
Photo : Sandra Scholz
Dr. Thomas Fischbacher

Thomas Fischbacher kommt derzeit viel herum. Er fährt mit Zug und Fahrrad quer durch Brandenburg – in die vielen kleinen Städte der Mark, von Ziesar bis Falkenburg und von Strasburg bis Peitz. Nicht selten steht er auf Erhöhungen außerhalb der Ortschaft und schaut, eine alte Ansicht von ihr in der Hand, auf die Stadtsilhouette. „Manchmal klingle ich auch bei Leuten und frage, ob ich mal einen Blick aus ihrem Dachfenster werfen darf“, sagt er lachend. „Die meisten sind sehr freundlich und hilfsbereit.“ All das im Dienste der Wissenschaft. Thomas Fischbacher ist Historiker an der Universität Potsdam und arbeitet an der Edition einer der frühesten umfassenden und illustrierten Beschreibungen Brandenburgs – vom Wetter bis zur Stadtgeschichte – aus dem Jahr 1717.

Geschichte, zumal die von ganzen Ländern, findet sich oft verstreut in zahlreichen Archiven. Daten über Besitzverhältnisse, geografische und demografische Entwicklungen, Wirtschaftsprozesse oder historische Ereignisse – sie füllen Hunderte Regalmeter, verstreut über das ganze Land. Gerade für länger zurückliegende Epochen wie die Frühe Neuzeit wird eine Zusammenschau dadurch mühsam. Umso kostbarer sind sogenannte „Landesbeschreibungen“ wie jene, die Dr. Thomas Fischbacher derzeit bearbeitet. Im Projekt mit dem Titel „Brandenburg 1717. Topografie eines Landes in Wort und Bild im frühen 18. Jahrhundert“ bereitet er eine der frühesten umfassenden Beschreibungen der Mark Brandenburg so auf, dass sie nun erstmals erscheinen kann – und zwar in traditioneller Buchform, aber auch in zeitgemäßer Gestalt als Datenbank, die Forschenden verschiedenster Disziplinen die darin enthaltenen Schätze erschließt.

Landesbeschreibungen waren Bilderalben herrschaftlicher Besitztümer

„Landesbeschreibungen waren – schon seit Jahrhunderten – ein beliebtes Instrument der Herrschenden, sich einen Überblick über ihre Reiche zu verschaffen“, erklärt Thomas Fischbacher. Insofern hätten sie einen ganz praktischen Nutzen: „Anhand der gesammelten Informationen ließ sich sehr gut ablesen: Wie sieht das Land aus? Was habe ich? Wo fehlt es? Was kann ich wo verbessern?“ Für die oft sehr umfangreichen Dokumentationen wurden zu sämtlichen Ortschaften des Herrschaftsgebietes Daten gesammelt. Dazu zählten natürlich die wichtigsten Kennzahlen, wie Name, Alter, Einwohnerzahl, Wappen und Entstehung, aber auch Beschreibungen der Stadtstruktur: Gibt es eine Kirche, ein Rathaus, eine Stadtmauer mit Toren, ein Waisenhaus und ein Lazarett? Außerdem wurden die wichtigsten öffentlichen Personen – wie Bürgermeister und Geistliche – und die prägenden Ereignisse der Ortsgeschichte – wie Brände, Auswirkungen von Kriegen oder Krankheitswellen – erfasst. Gleichzeitig dienten Landesbeschreibungen meist auch einem repräsentativen Zweck. Aufwendig illustriert, gedruckt und gebunden, waren sie eine Art Aushängeschild, ein Bilderalbum der Besitztümer, Symbol der Macht. „Die mit den Texten entstandenen Stadtansichten, sogenannte Veduten, deuten darauf hin, dass die Veröffentlichung genau diese Aufgabe mit übernehmen sollte. Man wollte zeigen: Schaut, wie schön – mein – Brandenburg ist!“

Besagte Landesbeschreibung stammt aus der Feder von Johann Christoph Bekmann, einem Gelehrten der Universität in Frankfurt/Oder, der 1707 vom erst wenige Jahre zuvor gekrönten preußischen König Friedrich I. den Auftrag erhalten hatte, die Mark Brandenburg zu „porträtieren“. Bekmann war Staatswissenschaftler und hatte Erfahrung mit derartigen Mammutprojekten; immerhin hatte er gerade erst eine siebenbändige „Historie des Fürstenthums Anhalt“ abgeschlossen. Mit 66 Jahren bereits recht betagt, übernahm er die Herausforderung. Dabei umfasste die Mark ein gewaltiges Gebiet, das sich damals mit der Alt- und der Neumark viel weiter nach Osten und Westen ausdehnte als das heutige Brandenburg. Zwar bestand ein großer Teil seiner Arbeit darin, Fragebögen an die Verwaltungen aller erfassten Ortschaften zu verschicken und auszuwerten. Doch schon dies erwies sich als schwierig. „Bekmann war wie der königliche Hof reformierten Glaubens, während das Land weiterhin überwiegend lutherisch war“, erklärt Fischbacher. „Deshalb ließen viele Stadtvorderen den königlichen Beamten quasi ‚am ausgestreckten Arm verhungern‘, antworteten verspätet, spärlich oder gar nicht.“ So reiste Bekmann in den folgenden Jahren quer durchs Land, begutachtete die Orte selbst, holte die nötigen Informationen persönlich ein, sprach mit Bürgermeistern, Ortsvorstehern, Kirchenvertretern. Und ließ sie zeichnen: Rund 90 Stadtansichten fertigten die beiden Zeichner, die Bekmann zur Seite gestellt worden waren, im Laufe der Zeit. „Für viele Städtchen war es das erste Mal, dass sie erfasst, beschrieben und abgebildet wurden“, erklärt Thomas Fischbacher.

Doch 1717, noch ehe er seine Arbeit beenden konnte, verstarb Bekmann. Da er im Auftrag des Landesfürsten tätig gewesen war, verschwanden seine Manuskripte in den königlichen Archiven. Ein Großneffe, Bernhard Ludwig Bekmann, machte sich daran, das Werk zu vollenden, und veröffentlichte knapp 40 Jahre später zwei Bände – den ersten als Überblick zu Natur und Geschichte der Mark, den zweiten als detaillierte Beschreibung der Altmark. Doch auch er übernahm sich an der Aufgabe, weshalb das Gros des Manuskripts bis heute unveröffentlicht blieb. 1.100 Seiten – das Lebenswerk eines fleißigen Historikers und Ergebnis jahrelanger Recherchen, Notizen, Dokumentationen und Reisen quer durchs Land. Nach einer Odyssee befindet sich das Ursprungsmanuskript heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, während die Illustrationen in der Staatsbibliothek aufbewahrt werden. Thomas Fischbacher will sie wieder zusammenführen und veröffentlichen. Wenn man ihn fragt, ist das Werk ein wichtiges Dokument und unverzichtbare Quelle für Historiker aller Art. „Kunst-, Landes- und Militärhistoriker – sie alle werden darin fündig“, sagt der Forscher. Aber auch für ganz andere Disziplinen könne die Darstellung von Interesse sein. „Jemand, der sich um Umweltfragen kümmert, kann beispielsweise wertvolle historische Daten finden – im bereits erschienen Überblicksband gebündelt für das ganze Land und in unserer Edition dann für die einzelnen Ortschaften aufgeschlüsselt.“

Brandenburg 1717 als Datenbank und Buch

Dabei will Fischbacher, der ein Faible für historische Stadt- und Landesbeschreibungen hat, das Werk nicht nur in der Form zum Abschluss bringen, wie es Bekmann vor Augen gehabt haben mag. Vielmehr will er es ohne Umwege ins 21. Jahrhundert holen. „Wir haben das Projekt von Beginn an vom Ergebnis aus gedacht: als Datenbank, in der Ursprungstext, Kommentare, Personen- und Ortsregister sowie Literatur verknüpft sind und ganz individuell genutzt werden können.“ Dadurch erschließt Fischbacher das Mammutwerk denen, die es einfach nur lesen wollen – ganz oder nur in Auszügen –, ebenso wie jenen, die ganz spezifische Fragen mithilfe des Textes beantworten wollen oder einzelne Fakten suchen.

Für diese Pionierarbeit geschichtswissenschaftlicher Digitalisierung hat sich Thomas Fischbacher eigens ein Team zusammengestellt. Eine wissenschaftliche Hilfskraft unterstützt ihn bei der Digitalisierung des Manuskripts. Damit schon Mitte 2020 begonnen zu haben, hat ihn ein Stück weit gerettet, sagt er selbst. „Als im Herbst 2020 dann die Staatsbibliothek und alle Archive schließen mussten, hatte ich alles schon digital vorliegen.“ Gemeinsam mit einem Informatiker hat der Historiker eine eigene Datenbank für die Landesbeschreibung entwickelt. „Monatelang haben wir uns Datenbanken angeschaut, aber keine hat gepasst.“ Zu speziell seien die Anforderungen, die eine Verknüpfung historischen, aktuellen und geschichtswissenschaftlichen Wissens mit sich bringt. „Unsere ‚hausgemachte‘ Lösung ist super!“ Eine Altphilologin fertigt für die vielen im Manuskript enthaltenen lateinischen Inschriften und Urkunden Übersetzungen an. „Von etlichen Urkunden existieren nur diese Abschriften, weil die Originale verloren sind“, erklärt Fischbacher. „Und die Inschriften sind besonders interessant, weil sie als zeitgenössische Texte zeigen, wie sich das Latein dieser Zeit verändert.“

Fischbacher selbst ist für die eigentliche Editionsarbeit verantwortlich. Er korrigiert den fertigen Text, tüftelt oft stundenlang und vergleicht das Transkript mit Fotografien von vergilbten, ausgerissenen und von Tintenfraß durchlöcherten Manuskriptseiten. Anschließend entscheidet er, zu welchen Begriffen, Orten, Personen oder Stellen Kommentare angelegt werden müssen. So wird der Text nicht nur für Historiker lesbar, die nicht so tief in der Materie stecken wie Fischbacher selbst. Das Werk wächst um das Wissen, das in den mehr als 300 Jahren seit seiner Abfassung hinzugekommen ist. „Ich erkläre schwierige oder inzwischen ungebräuchliche Begriffe, stelle Lebensläufe von wichtigen Personen im Register zusammen, ordne aber auch die dargestellten Entwicklungen in – heute bekannte – historische Zusammenhänge ein. Für mich eine tolle Aufgabe.“

Parallel tüftelt ein Grafiker am Layout des Buches. Denn trotz der Datenbank soll es auch eine gedruckte Landesbeschreibung „Brandenburg 1717“ geben. „Wir machen auf jeden Fall beides“, sagt er und lacht. „Da sind Historiker immer sehr vorsichtig.“ Wie es genau aussehen wird, sei zwar noch nicht klar. Aber da die Publikation die Krönung des Projekts darstellt, dürfen die Beteiligten auch noch ein wenig träumen. „Wir haben ausgerechnet, dass das Buch ‚schlimmstenfalls‘ 15 Zentimeter dick wird …“ Ein echtes Nachschlagewerk eben. Für seine eigenen Ausflüge ins Brandenburgische hat er zwar bislang eher ein paar ausgedruckte Veduten und seinen Laptop dabei. Aber seiner Freude daran tut das keinen Abbruch. „Es ist ein tolles Gefühl, nach einem abgeschlossenen Kapitel einfach dorthin zu fahren und zu schauen, was sich seitdem geändert hat – und was nicht!“

Der Forscher

Dr. Thomas Fischbacher studierte Geschichte und Kunstgeschichte. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Potsdam.
E-Mail: thomas.fischbacheruni-potsdamde

Das Projekt

Brandenburg 1717. Topografie eines Landes in Wort und Bild im frühen 18. Jahrhundert
Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Beteiligt: Prof. Dr. Matthias Asche (Projektleiter), Dr. Thomas Fischbacher
Laufzeit: 2020 – 2023

https://www.uni-potsdam.de/de/hi-fruehe-neuzeit/ projekte/laufende/brandenburg-1717-topografie-eineslandes- in-wort-und-bild-im-fruehen-18-jahrhundert

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).