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Schritt für Schritt – Warum Sporttherapie bei Depressionen helfen kann

Dr. Andreas Heißel
Photo : Kaya Neutzer
Dr. Andreas Heißel

Sport hält nicht nur fit, er kann auch heilen – und zwar Körper und Geist. Auf welche Weise Sporttherapie zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden kann, untersucht die Studie STEP.De, an der Forschende der Universität Potsdam maßgeblich beteiligt sind.

Depression ist eine Volkskrankheit. Schätzungen zufolge sind allein in Deutschland mehr als fünf Millionen Menschen betroffen, jährlich erkranken ein bis zwei Prozent der Bevölkerung erstmals daran. Doch es gibt einen fatalen Engpass bei der Versorgung psychischer Erkrankungen: Schon auf einen Termin beim Psychiater wartet man wochenlang. Bis ein Platz für eine Therapie frei wird, können sogar vier bis sechs Monate vergehen. In denen nichts passiert. Um das zu ändern, untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eines Konsortiums aus Krankenkassen und Forschungseinrichtungen derzeit, inwieweit Sporttherapie die Versorgungslücke schließen kann. Ein grundlegender Vorteil von Sporttherapie und Gesundheitssport ist die Verfügbarkeit. Es gibt deutschlandweit ein sehr gut ausgebautes Netz von Gesundheitssportvereinen, Physiotherapiepraxen und Reha-Zentren, in denen auch kurzfristiger Termine zu bekommen sind.

Bewegung macht auch die Seele gesund

Hinter der Idee steckt eine simple Wahrheit: „Bewegung besitzt eine große Heilkraft. Neben der positiven Wirkung auf Herz-Kreislauf, Muskeln und Gehirn eben auch auf die psychische Gesundheit. Dabei funktioniert oftmals Ausdauer- und Kraftsport ebenso wie Yoga“, erklärt Dr. Andreas Heißel. Der Sport- und Gesundheitswissenschaftler und Bewegungstherapeut forscht an der Uni Potsdam gemeinsam mit dem Sozial- und Präventivmediziner Prof. Dr. Michael Rapp schon länger zu den Einsatzmöglichkeiten von Sporttherapie. In der vorausgegangenen SPeED-Studie haben die Forscher untersucht, ob eine Psychotherapie bessere Ergebnisse erzielt, wenn Patienten zuvor eine Sporttherapie absolvieren. Die Wirksamkeit von Sport bei Depression ist bereits in vielen Studien belegt. Inzwischen gibt es sogar einige Studien, in denen die Effekte von Sport- und Psychotherapie verglichen wurden – mit dem Ergebnis, dass beide wirksam sind, sich aber kaum Unterschiede messen lassen.

Dies bedeute beileibe nicht, dass Sporttherapie die Psychotherapie ersetzen könne, betont Andreas Heißel. Vielmehr sollten sie Hand in Hand arbeiten, damit die Betroffenen frühzeitig Hilfe bekommen und beide Ansätze optimal zur Behandlung beitragen. Wie das in der regulären Versorgung umsetzbar ist, wollen die Forscher in der aktuellen Studie „STEP.De“ herausfinden. „Mit einer Sporttherapie könnte die Wartezeit auf eine Psychotherapie überbrückt werden. Im Idealfall hilft sie aber auch einem Teil der Patienten bereits so sehr weiter, dass sie anschließend keine Psychotherapie mehr brauchen.“

480 Patienten mit einer leichten bis mittleren Depression sollen an der Studie teilnehmen und entweder Sport- oder Psychotherapie erhalten. „Wir gehen davon aus, dass am Ende herauskommt, dass es keinen Unterschied gibt, aber beide helfen“, sagt Andreas Heißel. Denn dann wären beide Behandlungen von Beginn an die bestmöglichen. Wichtig ist: Auch die Sporttherapiegruppe wird von Psychotherapeuten begleitet. Diese sichern zum Anfang die Diagnose, melden sich alle vier Wochen und legen in einem Abschlussgespräch mit den Patienten fest, wie es weitergeht, ob eine anschließende Psychotherapie nötig ist oder nicht.

Dazwischen liegt die Sporttherapie, 32 Einheiten in vier Monaten. In verschiedener Intensität geht es um Ausdauer und Kraft, aber auch Stressabbau und Entspannung. Alle Teilnehmenden erhalten vorab eine Eingangstestung, aus der ein individueller Trainingsplan abgeleitet wird. Dieser berücksichtigt zum Beispiel, ob die Betroffenen Schmerzen haben, was bei Depressionen nicht selten vorkommt. Vor allem aber habe die Sporttherapie eine eigene psychotherapeutische Komponente, betont der Wissenschaftler: „Das Verhältnis der Patienten zum Therapeuten und den anderen in der Gruppe ist enorm wichtig. Sich aufgenommen und unterstützt zu fühlen und gemeinsam mit Menschen, denen es ähnlich geht, Sport zu treiben, kann für die Heilung sehr förderlich sein.“ Genau genommen könnte die Rolle des Sporttherapeuten sogar noch wichtiger sein, als bislang angenommen, so Heißel.

Auch die Therapeuten lernen den Umgang mit Depressionen

Aus diesem Grund absolvieren alle teilnehmenden Sporttherapeuten eine spezielle Schulung, neben der Grundqualifikation, die sie als Sportwissenschaftler oder Physiotherapeuten bereits mitbringen. Andreas Heißel hat sie entwickelt: Zwei Wochenenden lang werden sie fit gemacht, um für Depressionspatienten mehr zu sein als nur Fitnesstrainer. In einem ersten Block erfahren sie alles Nötige über Krankheitsbild, Behandlung und Medikation. Außerdem erhalten sie das kommunikative Rüstzeug für den Umgang mit Patienten: aktives Zuhören, Transaktionsanalyse oder Vier-Ohren-Modell, sämtlich darauf angepasst, in der Sporttherapie angewendet zu werden. Am zweiten Schulungswochenende schließen sich weitere Übungen, vor allem zur Gruppensupervision an. „Das bereitet die Therapeuten optimal auf die Betreuung der Patienten vor. Zum Beispiel mit ihnen darüber zu sprechen, was sie sich von der Therapie versprechen – und wie sie dieses Ziel erreichen.“ Aber auch die Therapeuten profitierten erkennbar von der Schulung, so Heißel. „Es ist wichtig, dass sie ihre eigenen Umgangsmuster erkennen und reflektieren. Das macht sie nicht nur besser, sondern auch zufriedener. Wir sind überrascht, wie sehr die Therapeuten das Angebot annehmen, sich öffnen und einbringen.“

Die Potsdamer Forschenden haben aber nicht nur die Therapeutenschulung erarbeitet. Sie begleiten die Teilnehmenden auch über die Studie hinweg. So befragen studentische Assessoren die Patienten anhand eines Fragebogens vor dem Start der Therapie – zu ihrer Arbeitsfähigkeit, Ängsten, Lebensqualität und vielem mehr. Weitere Befragungen gibt es in der Mitte, zum Ende und zwei, sechs sowie zwölf Monate nach der Therapie. In Zusammenarbeit mit Prof. Stephan Heinzel von der FU Berlin werden sie außerdem gebeten, über die vier Monate hinweg mithilfe einer App immer wieder Auskunft zu geben über körperliche Aktivität, Emotionsregulation, Selbstwirksamkeit und -motivation. Dank der modernen Sensortechnologie, die in den meisten Smartphones steckt, kann die App zudem Informationen zum allgemeinen Aktivitätsverhalten sammeln. Da sich Depressionspatienten häufig zurückziehen, lassen sich daraus wertvolle Rückschlüsse auf die Entwicklung der Krankheit ziehen.

Sporttherapie erreicht andere Patienten

Noch bis Mitte 2020 werden neue Patienten in die Studie aufgenommen. Angesichts der bisherigen Ergebnisse und vor dem Hintergrund der SPeED-Studie ist Andreas Heißel bereits jetzt vom Erfolg des Projekts überzeugt. „Es gibt nur Gewinner – die Patienten, die Psycho- und die Sporttherapeuten und die Krankenkassen.“

Die Kassen seien schon länger daran interessiert, Depressionspatienten schnellstmöglich zu behandeln, so der Forscher. Denn die Folgekosten unbehandelter Depressionen seien immens. Daher wundert es nicht, dass sie als Konsortialpartner zu den Initiatoren des Projekts gehören. Sport- wie Psychotherapeuten würden neue Patienten gewinnen. Anders als manch einer befürchten würde, gingen auch den Psychologen keine Patienten „verloren“, denn der sporttherapeutische Ansatz erreiche ein ganz neues Klientel: „Es zeigt sich, dass wir an Menschen herankommen, die sich nicht aktiv auf eine Psychotherapie einlassen würden – auf den Sport aber schon.“ Es seien vor allem Männer zwischen 40 und 65, die sich einer Psychotherapie häufig verweigern, auf Sporttherapie bislang aber ausgesprochen positiv reagieren. „Und die möglicherweise anschließend bereit sind, sich einem Psychotherapeuten gegenüber zu öffnen.“

Die eigentlichen Gewinner des Kombi-Modells von Sport- und Psychotherapie wären freilich die Patienten, wie Andreas Heißel betont. „Wir erwarten, dass rund die Hälfte von ihnen nach der Sporttherapie keine Psychotherapie mehr braucht.“ Viele wollten nach Abschluss der Behandlung eine weitere Sporttherapie machen, die meisten sogar in der Einrichtung oder gar beim selben Sporttherapeuten bleiben – auch auf eigene Kosten. „Diese Verbindlichkeit ist ein großer Schritt für die Erkrankten. Das war gar nicht das Ziel der Studie, ist aber ein Indiz für die nachhaltige Wirkung der Therapie.“ Nicht zuletzt könne auf diese Weise Sport ein wirksames Instrument dagegen sein, dass relativ viele Betroffene Rückfälle erleiden. Die Remissionsrate liegt bei Depression bei rund 50 Prozent. Untersuchungen hätten aber gezeigt: Wer es schafft, länger als ein Jahr bei einer Aktivität, etwa einem Sportkurs, zu bleiben, hat gute Chancen, ihn dauerhaft in seinen Alltag zu integrieren. „Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man lange weitermacht – und könnte so einem Wiederauftreten von Depressionen entgegenwirken.“

Wenn die Studie die hohen Erwartungen tatsächlich erfüllen kann, dürfte es nicht lange dauern, bis auch andere Krankenkassen das Modell aufgreifen. Und Andreas Heißel kann sich gut vorstellen, dass das Programm auch für weitere Erkrankungen geöffnet wird. Immerhin findet die Sporttherapie in der Gruppe statt und die spezifische Erkrankung des Einzelnen steht nicht explizit im Vordergrund.

Das Projekt

Mit der „STEP.De (Sport-/Bewegungstherapie bei Depression)-Studie“ untersuchen die Forschenden, ob Sporttherapie als Therapieoption in der Regelversorgung als eine von Ärzten und Psychotherapeuten mögliche zu verordnende Leistung eingesetzt werden kann. Dazu soll die Wirksamkeit und Kosteneffizienz von Sporttherapie mit der regelhaften Verfahrensform, Psychotherapie, bei der Behandlung von Depression verglichen werden.

Beteiligt: BKK VBU, BAHN-BKK, BMW BKK; BKK GILDEMEISTER SEIDENSTICKER; CONVEMA Versorgungsmanagement GmbH; Freie Universität Berlin; Universität Potsdam; Sport-Gesundheitspark Berlin e.V.
Laufzeit: 2018–2021
Förderung: Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss

Der Wissenschaftler

Dr. Andreas Heißel studierte Sportwissenschaft, Politik, Psychologie und Pädagogik in Potsdam, Berlin und Sydney. Seit 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Sozial- und Präventivmedizin an der Universität Potsdam.
E-Mail: andreas.heisseluni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2019 „Daten“.