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Multitasking im Alter – Eine Studie erforscht den Zusammenhang von Gleichgewicht und Denken

MRT-Scan eines Gehirns. Foto: Fotolia.com/Nomad_Soul.
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MRT-Scan eines Gehirns. Foto: Fotolia.com/Nomad_Soul.

Universität Potsdam, Campus Am Neuen Palais, heiter, 28° Celsius. Ich nehme an einer Studie über "den Zusammenhang von Bewegung und Denken" teil  und bin gespannt. Über zwei Stunden arbeite ich hochkonzentriert Denkaufgaben durch. Zugegeben  bei der letzten Übung gehe ich in den Energiesparmodus über. Wenn auf dem Bildschirm vor mir die Quadrate zwei Mal an derselben Stelle auftauchen, soll ich abwechselnd eine Taste drücken oder "Ja" in ein Mikrofon sprechen. Aber das ist nicht alles. Während die Quadrate vor mir auftauchen, höre ich Töne in drei verschiedenen Frequenzen. Auch hier gilt: Wiederholt sich ein Ton auf einem Ohr, soll ich das mit Tastendruck oder übers Mikrofon anzeigen. Als Probandin muss ich mich also auf zwei verschiedene Phänomene konzentrieren, die zeitgleich ablaufen  und mich selbst zwischen Stimme und Hand entscheiden.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert im Rahmen des Schwerpunktprogramms "Human performance under multiple cognitive task requirements: From basic mechanisms to optimized task scheduling" deutschlandweit 22 Projekte. Eines davon läuft seit Oktober 2015 an der Universität Potsdam und trägt den Titel: "Effects of modality mappings within working memory on postural control, associated neural correlates, and training-induced modulation of dual-task performance in old age". Die Forscher arbeiten an der Schnittstelle von Kognition und Bewegung. "Damit ist es eines der Teilprojekte, die unmittelbar interdisziplinär forschen", sagt Christine Stelzel, Professorin für Allgemeine Psychologie an der International Psychoanalytic University in Berlin. Gemeinsam mit der Psychologin Gesche Schauenburg führt sie die Studie der Universität Potsdam zur Verbindung von Haltungskontrolle und Denken durch, die im Zentrum des Potsdamer DFG-Projekts steht.

Neben Experimenten zu Kognition und Gleichgewicht gehören EEG- und MRT-Messungen zum experimentellen Teil der Studie. Diese will herausfinden, welche Einflüsse die Haltungskontrolle insbesondere bei älteren Menschen stören können. "Bei Menschen über 65 gibt es einen enormen Anstieg von Stürzen", so die Psychologin. Die Sturzgefahr ist besonders hoch, wenn ältere Personen mehrere Dinge gleichzeitig tun: also beim Multitasking. "Im Alter sind auf verschiedenen Ebenen Prozesse im Abbau. Gleichgewicht, Mobilität und Koordination benötigen mehr Aufmerksamkeit als bei jüngeren Menschen." Zugleich ist auf kognitiver Ebene das Arbeitsgedächtnis stärker herausgefordert. Dieses wird mit dem präfrontalen Cortex an der Stirnseite des Gehirns assoziiert und ist besonders wichtig für die flexible Handlungssteuerung.

Sturzprävention also. Für meine Übungen spielt das Gleichgewicht zunächst keine Rolle. Ich bin die erste Probandin des Studenten, der heute die Studienexperimente durchführt. Er testet meine Hörfähigkeit, dann folgt ein Sehtest, wie man ihn vom Optiker kennt. Den "Mini Mental State Test" zur Überprüfung, ob eine Demenz vorliegt, lässt er aus. Schließlich widmet sich der erste Durchlauf den jungen Probandinnen und Probanden im Alter von 18 bis 30 Jahren - als Vergleichsgruppe -, anschließend wird die eigentliche Studie mit der Zielgruppe von 65- bis 80-Jährigen durchgeführt. Nach weiteren Übungen, die mich an Geometrieunterricht erinnern, gehen wir auf den Flur. Hier misst der Student zunächst meine gewöhnliche Schrittgeschwindigkeit. Dann soll ich beim Gehen in Siebener-Schritten rückwärts rechnen - ich brauche für dieselbe Strecke etwa doppelt so lang. In diesem Versuch zeigt sich das Ziel der Studie: Die Wissenschaftler wollen nachweisen, dass "Doppeltätigkeiten" älteren Menschen noch schwerer fallen als jungen - und verstehen, warum das so ist.

Wie kommt es also bei älteren Menschen zu Stürzen? Die Hypothese ist, dass diese für ihre Haltungskontrolle mehr Aufmerksamkeit benötigen. So können sie Informationen, die zusätzlich auf sie einströmen, schwerer verarbeiten. Steht beispielsweise eine ältere Person im Einkaufszentrum und hört: "Bring bitte noch einen Einkaufskorb mit!", muss das Arbeitsgedächtnis entscheiden, wie sie darauf reagiert. Das kann verbal erfolgen, durch eine Antwort, oder in Form einer motorischen Reaktion, indem sie etwa nach einem Korb greift. Dieser Entscheidungsprozess gehört zu den Aufgaben des Arbeitsgedächtnisses. Die Forscher nehmen an, dass das Gleichgewicht bei älteren Menschen abnimmt, sobald eine solche kognitive Aufgabe hinzukommt. Das heißt, Multitasking fällt ihnen schwerer.

Hier kommt der Ton-Quadrat-Test ins Spiel: Die Forscher gehen davon aus, dass einige Reize mit bestimmten Reaktionen stärker verschaltet sind. Nehmen wir also einen auditiven Reiz wahr, fällt es uns verhältnismäßig leicht, darauf verbal zu reagieren. Werden wir mit einem visuellen Reiz konfrontiert, reagieren wir eher motorisch. "Manuell auf eine auditive Information zu reagieren und verbal auf eine visuelle, ist dagegen weitaus schwieriger", erklärt Stelzel. Insofern ist die Aufgabe, auf den visuellen Reiz des Quadrats mit "Ja" zu antworten und bei einem Ton motorisch mit Tastendruck zu reagieren, besonders herausfordernd. In eben solchen Situationen verlieren vor allem ältere Menschen das Gleichgewicht, wie Stelzel erläutert.

Universität Potsdam, Campus Am Neuen Palais, regnerisch, 17° Celsius. Heute findet die Elektroenzephalografie-Messung statt. Eine Dreiviertelstunde benötigen die zwei Studierenden, um die EEG-Kappe auf meinem Kopf zu installieren und dabei die elektrische Spannung an jeder Ableitstelle unter fünf Kilo-Ohm zu bringen. Wenn ich schlucke, blinzle oder spreche, schlagen die Messkurven der elektrischen Strömung in meinem Kopf aus; ich kann sie auf einem vor mir liegenden Tablet-PC verfolgen. Dann geht es los. Wieder gilt es, auf angezeigte Quadrate und Töne mit Tastendruck oder einem "Ja" zu reagieren. Anders als beim ersten Termin mache ich diese Übung zuerst entspannt im Sitzen und anschließend auf einer Kraftmessplatte im Tandemstand, bei dem der linke Fuß etwas weiter vorn steht und beide Füße sich berühren. Auch für mich gilt: Nicht aus dem Gleichgewicht kommen! Während die Studentin die Übungen auf dem Desktop koordiniert, beobachtet ihr Kommilitone mein Gleichgewicht auf der Kraftmessplatte. Das EEG zeichnet derweil auf, wie mein Gehirn diese Aufgaben reguliert. Nach rund drei Stunden Training für Körper und Geist sind ausreichend Daten gesammelt.

"Wir wissen, dass das Arbeitsgedächtnis auch bei älteren Menschen trainierbar ist", sagt Stelzel. Daher nehmen die älteren Probanden im Anschluss an die Studie an einem Training teil, bei dem sie Gleichgewicht und Kognition gleichzeitig üben. "Mit den neurowissenschaftlichen Parametern aus dem EEG und dem MRT hoffen wir, vorhersagen zu können, welche kognitiven Aufgaben das Gleichgewicht stören", erläutert die Psychologin. Während Stelzel die Auswertung des MRT übernimmt, fokussiert Gesche Schauenburg die Datensätze der EEG-Messung. Die Kraftmessplatte, auf der die Probanden stehen, misst kontinuierlich den Kraftangriffspunkt der beiden Füße auf der Platte. Sie zeichnet genau auf, wenn der Proband schwankt. Die Forscher nehmen einen Zusammenhang zwischen dem Schwanken und der Schwierigkeit der kognitiven Aufgabe an. Multitasking ist aber für niemanden leicht. Manche Theorien gehen sogar davon aus, dass es prinzipiell nicht möglich ist, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun: Zwar kann man mehrere Reize aufnehmen, doch um zu entscheiden, wie man darauf reagiert, muss man eine Aufgabe unterbrechen - zumindest ganz kurz.

Berlin Center for Advanced Neuroimaging Charité, 25° Celsius, sonnig. Der letzte Teil der Studie steht bevor: In der Berliner Charité löse ich Aufgaben im Magnetresonanztomografen (MRT). Zunächst erklärt mir eine Mitarbeiterin das Vorgehen: Ich darf kein Metall am oder im Körper tragen, die Schuhe muss ich ausziehen. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, kann ich einen Notfallknopf drücken, denn wer unter Platzangst leidet, fühlt sich in der Röhre nicht wohl. Den Kopf darf ich während der Untersuchung nicht bewegen, er wird mit zwei Polstern stabilisiert. Über meinem Kopf befindet sich ein Bildschirm, der die Übungen zeigt. Stelzel und ihre Kollegin können mich im Tomografen während der Aufgaben nicht hören. Nur in den Pausen kommunizieren wir über eine Sprechanlage. Im MRT ist es laut, deswegen erhalte ich Ohrstöpsel und schalldämpfende Kopfhörer. Die brauche ich auch, denn ich soll einen "Zielton" und ein "Zielquadrat" wiedererkennen und mit Tastendruck bestätigen. Anschließend folgen erneut viele Durchgänge der Ton-Quadrat-Aufgabe - anderthalb Stunden liege ich still in der Röhre. Wieder draußen: Meine Finger sind etwas kalt geworden, die Beine leicht eingeschlafen, der Nacken ist etwas verspannt. Ansonsten fühle ich mich gut. Zum Abschied erhalte ich noch ein Bild meines Gehirns aus dem MRT.

"Die funktionelle Magnetresonanztomografie ist eine räumlich gut auflösende Methode", erklärt mir Christine Stelzel. "Sie stellt den Sauerstoffverbrauch im Gehirn dar und damit Aktivitätsveränderungen in den einzelnen Hirnregionen." Denn wenn eine Aufgabe besonders schwierig ist, benötigt ein Areal viel Sauerstoff. Das EEG dagegen sei eine zeitlich hochauflösende Methode, die elektrische Veränderungen in Millisekunden aufzeichne. Die beiden Methoden können also die Schwierigkeit der Aufgaben sichtbar machen. Das MRT zeigt jedoch auch die sogenannte Konnektivität zwischen den Gehirnregionen an und macht damit sichtbar, welche Areale bei welchen Aufgaben zusammenarbeiten. Am Ende wollen die Forscher beide Datensätze für jeden Probanden zusammenbringen. Denkbar wäre, dass besonders schwierige Aufgaben zu auffälligen Ausschlägen der elektrischen Spannung (EEG) und hoher Aktivität in bestimmten Gehirnarealen (MRT) sowie zu einem verstärkten Schwanken auf der Kraftmessplatte geführt haben. Daraus könnte sich ableiten lassen, welche kognitiven Aufgaben das Gleichgewicht stören. Und es ließe sich ein passendes Trainingsprogramm (ein sogenanntes "Multitask Gleichgewichtstraining") entwickeln, das letztendlich das Risiko eines Sturzes senken würde.

Das Projekt

Im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms "Human performance under multiple cognitive task requirements: From basic mechanisms to optimized task scheduling" untersuchen Forscher der Universität Potsdam und der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) seit Herbst 2015 den Zusammenhang von Denken und Haltungskontrolle. Das Projekt "Effects of modality mappings within working memory on postural control, associated neural correlates, and training-induced modulation of dual-task performance in old age" soll in der praktischen Anwendung der Sturzprävention im Alter dienen. Es läuft zunächst bis Ende 2018 und findet unter Leitung von Prof. Dr. Urs Granacher (Trainings- und Bewegungswissenschaft), Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Rapp (Sozial- und Präventivmedizin) und Dr. rer. nat. Stephan Heinzel (Juniorprofessor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Freien Universität Berlin) statt.

Die Wissenschaftlerinnen

Prof. Dr. Christine Stelzel studierte Psychologie an der Philipps-Universität Marburg und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zurzeit ist sie Professorin für Allgemeine Psychologie an der International Psychoanalytic University in Berlin sowie Mitarbeiterin im Potsdamer DFG-Projekt.

International Psychoanalytic University Berlin gGmbH
Stromstr. 1
10555 Berlin
E-Mail: christine.stelzelipu-berlinde

Dipl.-Psych. Gesche Schauenburg studierte Psychologie an der Universität Hamburg, promoviert an der Freien Universität Berlin. Derzeit ist sie Mitarbeiterin an der Professur Trainings- und Bewegungswissenschaft der Uni Potsdam sowie im Potsdamer DFG-Projekt.
E-Mail: gesche.schauenburguni-potsdamde

Text: Jana Scholz
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsadamde

Diesen und weitere Beiträge zur Forschung an der Universität Potsdam finden Sie im Forschungsmagazin „Portal Wissen“. http://www.uni-potsdam.de/up-entdecken/aktuelle-themen/universitaetsmagazine.html