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Wenn Arbeitslosigkeit krank macht – Wie man Betroffene in besonderen beruflichen Problemlagen zur Nachsorge motivieren kann

Therapie an der Brandenburgklinik. Foto: Brandenburgklinik Berlin-Brandenburg GmbH.
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Therapie an der Brandenburgklinik. Foto: Brandenburgklinik Berlin-Brandenburg GmbH.

Menschen in Arbeitslosigkeit werden eher depressiv als Berufstätige. Mehr als jeder dritte Hartz-IV-Empfänger ist wegen psychischer Störungen in Behandlung. Das belegt eine Studie, die auf Daten von Krankenkassen basiert. Seit etwa zehn Jahren steigt der prozentuale Anteil der Versicherungsleistungen aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit, die durch psychische Störungen verursacht werden. Wie eine Statistik der Deutschen Rentenversicherung von 2013 zeigt, sind psychische Erkrankungen derzeit sowohl bei Frauen (49 Prozent) als auch bei Männern (36,5 Prozent) die häufigste Ursache von Erwerbsunfähigkeitsrenten: noch vor Krankheiten von Skelett-, Muskel- und Bindegewebe sowie Krankheiten des Kreislaufsystems.

Die Brandenburgklinik Berlin-Brandenburg in Bernau geht neue Wege, um Betroffene aus ihrer krankmachenden Situation herauszuführen. Sie setzt auf eine ambulante Nachsorge, die sich an die stationäre Behandlung in der Reha anschließt. Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Potsdam aus dem Department Klinische Psychologie und Psychotherapie unter Leitung von Prof. Dr. Günter Esser untersucht die Klinik bis Ende des Jahres, wie durch eine ganz gezielte Nachsorge der Reha-Erfolg von „Betroffenen in besonderen beruflichen Problemlagen“, also von Erwerbslosen, aber auch Arbeitnehmern mit langen Arbeitsunfähigkeitszeiten oder mit einer stark verminderten Leistungsfähigkeit, verstetigt werden kann.

Grundlage für das Forschungsprojekt ist eine Studie, die derzeit von der Universität Potsdam erstellt wird und in die 233 Patienten der Brandenburgklinik einbezogen sind. 119 von ihnen sind Menschen mit besonderen beruflichen Problemlagen. Ein Viertel von ihnen gehört zu einer Nachsorgegruppe, bei den übrigen 114 Patienten ohne besondere berufliche Problemlagen sind es hingegen 40 Prozent. „Die Gründe für dieses auf den ersten Blick überraschende Ergebnis der Studie gilt es, in der weiteren Auswertung wissenschaftlich differenziert zu bearbeiten“, so der Leiter der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie der Brandenburgklinik, Prof. Tom Alexander Konzag.

Schon die ersten Ergebnisse zeigen also, dass Leute, die im Job sind, die ambulante Nachsorge stärker in Anspruch nehmen als diejenigen, die berufliche Probleme zu bewältigen haben. Doch gerade für sie wäre sie besonders empfehlenswert. Haben diese Menschen bereits resigniert? Glauben sie nicht mehr an sich und an eine Rückkehr ins Berufsleben? „Darüber können wir bislang nur spekulieren. Eine ambulante Nachsorge ist in jedem Fall eine größere Herausforderung als ein Klinikaufenthalt, denn darum muss man sich selber kümmern, sich aus eigenem Antrieb auf den Weg machen“, sagt Günter Esser. Und dieser Weg könne mitunter auch ziemlich lang und anstrengend sein. Innerhalb des Programms der Intensivierten Reha-Nachsorge (IRENA) der Deutschen Rentenversicherung bietet die Brandenburgklinik vor allem das „Curriculum Hannover“ an: eine Form der Gruppenarbeit, die speziell auf die Bedürfnisse der medizinischen Rehabilitation ausgerichtet ist. Die dazugehörige Nachsorge-Einrichtung befindet sich in Berlin-Charlottenburg in der Fasanenstraße. „Wenn also ein Patient aus der Uckermark in die Brandenburgklinik kommt, wird er wohl kaum nach seinem stationären Aufenthalt einmal pro Woche ein halbes Jahr lang nach Berlin reisen, um an der Nachsorge teilzunehmen. Auch solchen unzumutbaren Aufwand berücksichtigen wir in unseren Erhebungen“, so die junge Psychologin Susanne Stein-Müller, die Esser bei diesem Forschungsvorhaben unterstützt. Im Fokus des aktuellen Projekts stehe zwar das „Curriculum Hannover“, zugleich würden andere Möglichkeiten der Nachsorge ebenfalls einbezogen. „Für den einen ist die Gruppensituation das Richtige, andere bevorzugen die Einzeltherapie. Auch das erfassen wir.“

Alle 233 Teilnehmer der Studie werden vier Mal befragt: vor und nach ihrem Aufenthalt in der Klinik, im Anschluss an die Nachsorge und ein halbes Jahr nach der ambulanten Reha. „Bislang gibt es nur die Daten vom Erst- und Zweitmesspunkt. Jetzt müssen wir warten, bis die ersten Probanden aus der Nachsorge kommen. Und dann schauen wir nochmal, ob die Patienten auf eigenen Füßen stehen, und wie es mit der beruflichen Leistungsfähigkeit und der Wiedereingliederung aussieht. Die Analyse erfolgt sukzessive“, betont Susanne Stein-Müller. Dabei wollen die Wissenschaftler auch Paarvergleiche vornehmen: also Personen zueinander in Bezug setzen, die sich innerlich und äußerlich sehr ähneln – in Alter, Geschlecht, Ausbildung, Familienstand und psychischer Belastung. „Wir wollen vergleichen, warum der eine in einer beruflichen Problemlage ist und der andere nicht. Bei den meisten Menschen in Problemsituationen gibt es einen Eigenanteil, warum sie bestimmte Dinge nicht bewältigen“, so Günter Esser.

Auf Grundlage der Studie sollen dann differenzierte Nachsorgekonzepte erstellt werden. „Wir wollen die Effektivität der psychosomatischen Nachsorge im Sinne einer langfristigen Stabilisierung des stationären Rehabilitationserfolges und die Integration in das Erwerbsleben zielgerichtet optimieren“, betont Esser. Die Effektivität der psychosomatischen Nachsorge sei bereits in Studien belegt. Bislang ungeklärt sei indes, welche Einflussfaktoren bei Rehabilitanden mit beruflichen Problemlagen wirksam werden und wie die Nachsorge für diese Gruppe besser angepasst werden könne.

Patienten, die während eines Klinikaufenthalts psychotherapeutisch behandelt wurden, hätten nach der Entlassung oft Schwierigkeiten, das Erlernte im Alltag umzusetzen. „Für den Langzeiterfolg einer Therapie ist es aber einfach unerlässlich, dass die Patienten die Techniken und Fähigkeiten anwenden, die sie sich in der Therapie angeeignet haben – sonst drohen Rückfälle. Nachsorge zielt auf Nachhaltigkeit“, betont der Wissenschaftler. Menschen mit besonderen beruflichen Problemlagen kämen zumeist aus schwierigen Situationen und litten unter großen psychischen Problemen, die sie daran hinderten, einen Job zu finden. „Schon allein Bewerbungen zu schreiben und dann eventuell ein Bewerbungsgespräch zu führen, überfordert sie oft. Psychische Probleme können Ursache oder Folge von Arbeitslosigkeit sein“, so der Psychologe.

Das „Curriculum Hannover“, das 2003 an der Medizinischen Hochschule Hannover speziell für die psychosomatische Reha-Nachsorge entwickelt wurde, soll den oft recht labilen Menschen dabei helfen, ihren Alltag stabiler zu meistern. Es umfasst 27 Termine in sechs Monaten. Während der 90-minütigen Gruppensitzungen werden eingeschränkte Fähigkeiten verbessert, um in der Klinik Gelerntes im Alltag umzusetzen. Vor allem sollen Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein wachsen und Depressionen und Ängste weiter abgebaut werden. „Nur so lassen sich die Pläne und Vorsätze zu Veränderungen des Verhaltens und Lebensstils umsetzen. Das Curriculum Hannover hat ein bisschen den Charakter einer Selbsthilfegruppe“, so Günter Esser.

Die Psychologen erhoffen sich durch ihr Forschungsprojekt Antworten auf unterschiedliche Fragen: Warum nehmen die Menschen mit besonderen beruflichen Problemlagen die Nachsorge nicht so gut an? Wie kann die Klinik die Therapieplanung noch verbessern, um auf anschließende Maßnahmen hinzuführen? Günter Essers Augenmerk richtet sich dabei auf eine noch differenziertere Diagnostik und eine Behandlung, die auf den jeweiligen Patienten genau zugeschnitten wird. Doch mit Prognosen ist er zurückhaltend. Fest steht: „Die Reha ist nur das Vorspiel, der langfristige Erfolg manifestiert sich in der ambulanten Nachsorge. Man kann aber niemanden zu einer Nachsorge zwingen, sondern nur schauen, wie man die Menschen am besten dazu motiviert“, betont Esser.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Günter Esser studierte an der Universität Gießen Psychologie und arbeitete an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Frankfurt. 1976 wechselte er an das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Seit 1995 ist er Professor für Klinische Psychologie/Psychotherapie an der Universität Potsdam.

Kontakt

Universität Potsdam
Department Klinische Psychologie und Psychotherapie
Karl-Liebknecht-Str. 24–25
14476 Potsdam
E-Mail: gesseruni-potsdamde

Susanne Stein-Müller ist seit 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Department Klinische Psychologie/Psychotherapie an der Universität Potsdam. Sie promoviert im Projekt „Prädiktoren psychosomatischer Nachhaltigkeitseffekte bei besonderen beruflichen Problemlagen“.

Kontakt

E-Mail: steinsuni-potsdamde

Das Projekt

Prädikatoren psychosomatischer Nachhaltigkeitseffekte bei besonderen beruflichen Problemlagen
Laufzeit: bis Dezember 2015
Förderung: Deutsche Rentenversicherung Bund (Berlin)

Die Brandenburgklinik Bernau
Die Abteilung für Psychosomatik der Brandenburgklinik umfasst 140 Betten, die in fünf Stationen gegliedert sind. Es werden Patienten mit depressiven Störungen, Angststörungen, Traumafolgestörungen und mit somatoformen Störungen behandelt. Im Jahresverlauf werden in der Abteilung über 1.000 Patienten stationär behandelt. Mit sechs Prozent der Patienten wird die Teilnahme an einer Nachsorgetherapiegruppe vereinbart.

Prof. Dr. med. Tom Alexander Konzag studierte Humanmedizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2007 ist er Chefarzt der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie der Brandenburgklinik in Bernau.

Kontakt

Brandenburgklinik Berlin-Brandenburg GmbH
Brandenburgallee 1
16321 Bernau Waldsiedlung
E-Mail: konzagbrandenburgklinikde

Text: Heidi Jäger
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde