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Nomade mit Weltgeltung

Prof. Dr. Ottmar Ette über die Erschließung der amerikanischen

Reisetagebücher Alexander von Humboldts

Amerikanische Tagebücher, Tagebuch VIIbb/c, 410r. © Staatsbibliothek zu Berlin – PK/Fotostelle
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Amerikanische Tagebücher, Tagebuch VIIbb/c, 410r. © Staatsbibliothek zu Berlin – PK/Fotostelle

Für Ottmar Ette ist es das große Ereignis am Ende des vergangenen Jahres gewesen: der Erwerb der amerikanischen Reisetagebücher Alexander von Humboldts durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Ein von ihm geführtes internationales Team will sie in Kooperation mit der Staatsbibliothek Berlin nun vollständig erschließen. Das Bundesforschungsministerium stellt für das gesamte Projekt über drei Millionen Euro zur Verfügung, davon fließen eine Million Euro direkt an Ettes Lehrstuhl, der Großteil des Geldes ging in den Rückkauf der Originale. Petra Görlich sprach mit dem Professor für französisch- und spanischsprachige Literaturen der Uni Potsdam.

Herr Prof. Ette, welchen Stellenwert besitzt dieses Projekt für Sie?
Ich arbeite mittlerweile seit mehr als 30 Jahren zu Alexander von Humboldt. Das jetzige Projekt wird sicherlich einen Höhepunkt darstellen, gar keine Frage. Die Arbeit in unserem internationalen Forschungsteam wird zu einem neuen Schub, vielleicht sogar auch einem weiteren Durchbruch in der Humboldt-Forschung führen. Es könnte ein ganz neues Humboldt-Bild entstehen und auch ein neues Bild davon, wie sich die moderne Wissenschaft entwickelt hat.

Sie bezeichnen Humboldt nicht als Universalgelehrten. Warum nicht?
Nach meiner Ansicht wäre das eine falsche Zuordnung. Der Begriff des Universalgelehrten meint eine sehr lange Tradition der Vergangenheit. Man denke an Leonardo da Vinci und andere, die sich vor dem Paradigma der modernen Wissenschaft ansiedeln lassen. Alexander von Humboldt ist aber kein Repräsentant dieses zu Ende gehenden Zeitalters, sondern er entwickelte etwas ganz Neues: die Verbindung zwischen den Disziplinen. Seit den 1790er Jahren arbeitete er transdisziplinär. Humboldt bezeichnete sich selbst als „Nomade zwischen den Wissenschaften“. Dieses nomadische Denken ist für ihn ganz entscheidend. Es ist auf die Zukunft gerichtet, auf die Strukturierung von Wissenschaften in einem zu seiner Zeit noch völlig unbekannten Maße.

Den Reisetagebüchern geht der Ruf voraus, Zeugnis der Geburtsstunde der modernen Wissenschaft zu sein. Bisher allerdings sind die Aufzeichnungen weitgehend unerschlossen. Wie geht das zusammen?
Nur gut 20 Prozent der Reisetagebücher sind bisher veröffentlicht worden. Für diejenigen innerhalb der Humboldt-Forschung, die sie wie ich bereits in ihrer Gesamtheit kennen, steht jedoch außer Frage, dass man in ihnen die Herausbildung der Moderne im wissenschaftsgeschichtlichen Bereich erkennen kann. Alexander von Humboldt hat von einer „glücklichen Revolution“ gesprochen. Und das kann man sowohl auf naturwissenschaftlichem Gebiet – die Tagebücher halten etwa Feldforschung im modernen Sinne fest – als auch im Hinblick auf die Kulturwissenschaften nachvollziehen. Bei der Untersuchung von indigenen Kulturen vor Ort werden beispielsweise ganz neue Maßstäbe gesetzt.

Ihr Team wird die Reisetagebücher multiperspektivisch untersuchen. Die Spanne reicht von der Literaturwissenschaft über die Geografie bis hin zur Wissenschaftsgeschichte. Welches ist Ihr ganz persönlicher Ansatz?
Ich verstehe die Reisetagebücher zum einen als Lebenswerk. Es ist die Reise durch ein ganzes Leben, die hier zum Ausdruck kommt. Mich berührt und fasziniert die Frage, inwieweit dies nacherlebbar gemacht wird.
Die zweite Dimension, die mich stark beschäftigt, ist die der Kunst. Die Ästhetik der Reisetagebücher ist beeindruckend. Alexander von Humboldt hat zum Beispiel über ein halbes Jahrhundert lang Kommentare und Korrekturen mit anderer Handschrift hineingesetzt oder Zeichnungen und Texte ikonotextuell miteinander verwoben. Man kann die Tagebücher durchaus als Kunstwerk verstehen. Eines, an dem er fast sein ganzes Leben lang gearbeitet hat.

Alexander von Humboldt war sehr mit Potsdam verbunden. Inwiefern schließt sich da ein Kreis?
Ja, er hat mehr als ein Vierteljahrhundert in Potsdam gelebt. Deshalb ist es natürlich schön, wenn er heute wieder Teil der Wissenschaftslandschaft der Stadt ist. Potsdam und seine Universität haben lange gebraucht, ihn für sich wiederzuentdecken. Auch vor diesem Hintergrund ist es für uns von großem Interesse, ein neues Humboldt-Bild zu entwickeln. Und das auf internationaler Ebene.

Mehr Infos zum Projekt:

In seinen Tagebüchern zeichnete Alexander von Humboldt auf rund 3.500 Seiten seine von 1799 bis 1804 unternommene Reise durch die Karibik, Mittel- und Südamerika nach. An der Expedition nahm auch der französische Arzt und Botaniker Aimé Bonpland teil.

Das Projekt können Sie in Kürze im Web verfolgen:
www.uni-potsdam.de/romanistik/ette/avhumboldt.html

Text: Petra Görlich, Bearbeitung: Silvana Seppä