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Foto: Uwe Granzow

Urbane Blindheit

Bei der Fahrt mit dem Stadtbus fragen wir in der Regel nicht, was alles organisiert werden muss, damit dieses Busfahren möglich werden kann. Für diese Organisationsabläufe im „Hintergrund“ sind wir gewissermaßen blind – wir sehen sie nicht. Dahinter verbergen sich zwei interessante Aspekte urbaner Komplexität: Erstens brauchen wir diese verdeckten Organisationsabläufe nicht zu verstehen, damit der Bus uns befördert (oder auch nicht). Zweitens wären wir gar nicht in der Lage, alle Details, alle Prozesse, alle Zusammenhänge des ÖPNV zu verstehen – sie würden uns schnell überfordern. Diese Blindheit ist also normal und sie schützt. Dies gilt sowohl für das Agieren einzelner Bürger(innen) als auch für die Praxis der zahlreichen, so sehr unterschiedlich erscheinenden Organisationen des urbanen Raumes.

Stadtverwaltungen, Abfallbetriebe, Forschungs¬einrichtungen, Polizei, Schulen und Unternehmen, sie alle bearbeiten mit eigenen Logiken ganz eigene Aufgabenbereiche. Als Bürgermeister/in, Quartiermanager/in, Präventionsbeauftragte/r Verkehrsplaner/in oder als Bürger/in müssen wir bestimmte Aspekte ausblenden oder nicht genau hinschauen. Und nur weil wir das tun und indem wir der urbanen Arbeitsteilung anonym vertrauen, sie gewähren lassen, ist urbanes Leben in all seiner Vielschichtigkeit möglich.

Diese Blindheit macht aber auch abhängig, sie behindert und löst Unsicherheiten aus. Wenn Routinen unterbrochen werden, Busse z.B. regelmäßig ausfallen, die Polizei scheinbar nicht mehr ausreichend für Sicherheit sorgt, wenn Großprojekte nicht fertig werden oder Wohnbedarfe nicht erkannt und vermeintlich dringend benötigte Spielplätze nicht gebaut werden, erst dann merken wir, dass etwas nicht (mehr) funktioniert und dass Blindheit auch eine Kehrseite hat. Auf dieser Seite stehen Missverständnisse, Aneinander-vorbei-Reden oder Aneinander-vorbei-Planen, Egoismen, Vorurteile und Fehlprognosen.

Blindheit zu erkennen, sie wertzuschätzen, Blindheit bei Bedarf zu erhellen und zu verringern muss also als besondere Fähigkeit im Umgang mit urbaner Komplexität gewertet werden.