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„Es geht um Profit auf Kosten unserer Demokratie“

Josephine Ballon ist Absolventin der Uni Potsdam und Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation HateAid

Das Internet bietet uns scheinbar unendlich viele Möglichkeiten der Teilhabe. Wir können uns an Debatten beteiligen, unsere Netzwerke erweitern und uns politisch oder gesellschaftlich engagieren. Doch die Schattenseite dieses Freiraums sind Straftaten im digitalen Raum: von Beleidigung und Bedrohung über sexualisierte Gewalt und Cyberstalking bis hin zu Identitätsmissbrauch oder Hasskriminalität – die Liste ist lang. Josephine Ballon hat an der Universität Potsdam Rechtswissenschaft studiert und ist heute Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation HateAid. Die Organisation hilft Opfern von Straftaten im Netz und setzt sich für eine bessere Umsetzung der Gesetze im digitalen Raum ein. Im Interview erklärt die Juristin, warum das Internet in großen Teilen ein „rechtsdurchsetzungsfreier“ Raum ist, welche Folgen digitale Gewalt für die Opfer hat und wie die Betreiber von Social-Media-Plattformen künftig stärker in die Pflicht genommen werden könnten.

Was ist das Anliegen von HateAid?

Wir sind eine gemeinnützige Organisation, die sich für Menschenrechte im digitalen Raum einsetzt. Unser Ziel ist es, den digitalen Raum sicherer zu machen, sodass alle Menschen eine Chance haben, sich am öffentlichen Diskurs, vor allem in sozialen Netzwerken, aber auch auf anderen Plattformen zu beteiligen. Das machen wir auf verschiedenste Art und Weise. Wir unterstützen Betroffene ganz direkt, indem wir sie beraten und auch Prozesskosten übernehmen. Außerdem leisten wir Aufklärungsarbeit und schulen Polizei und Justiz im Umgang mit digitaler Gewalt und den Betroffenen. Denn es handelt sich nicht um Einzelschicksale, sondern um ein Thema, das uns alle angeht. Deswegen wollen wir auf eine bessere Gesetzgebung hinwirken und stoßen auch Gerichtsverfahren an, die rechtliche Fragen klären sollen, mit denen sich die Justiz bislang nicht befasst hat.

Wie sehen Sie die Funktion der Organisation innerhalb der Demokratie?

Die Bedrohung der Demokratie durch digitale Gewalt ist der Grund, warum HateAid 2018 gegründet wurde. Dahinter stand die Erkenntnis, dass digitale Gewalt den gesamten öffentlichen Diskurs verändert, der sich größtenteils ins Internet verlagert hat. Erstmals zeigte 2017 eine Studie, dass Menschen sich inzwischen auch dann selbst zensieren, wenn sie bislang noch gar nicht von Hassrede, Bedrohung oder anderen Straftaten betroffen waren. Die Hälfte der Befragten gab an, sich seltener an Debatten zu beteiligen. Eines der großen Versprechen des Internets war, dass es die Welt demokratischer machen wird. In Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern ist das Gegenteil eingetreten. Teils extremistische Gruppen bedienen sich der Algorithmen sozialer Netzwerke und setzen sie für ihre Zwecke ein. Sie kapern den öffentlichen Diskurs, drangsalieren Menschen und schüchtern sie systematisch ein, um sie letztlich mundtot zu machen. Sie erwecken strategisch den Eindruck, es handele sich bei ihrer Position um eine Mehrheitsmeinung, doch in der Regel vertreten diese Gruppen eine Minderheitsposition.

Standen 2019 die Themen Flucht und Migration im Mittelpunkt, kann inzwischen nahezu alles zum Reizthema werden. Wir sehen derzeit eine Polarisierung von fast jeder These und ein Zensurnarrativ, das unser Verständnis von Meinungsfreiheit verdreht. Nach dem Motto: „Das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen.“ So wird das Unsagbare wieder sagbar, denn jegliche Einschränkung von vermeintlich freier Rede wird als Zensur deklariert. Meinungsfreiheit können wir aber nur dann gewährleisten, wenn Menschen sich frei von Angst vor Einschüchterung, Repressalien und Gewalt äußern können. Und das ist eben gerade nicht die Situation, die wir im Internet vorfinden.

Mit welchen Fällen haben Sie und Ihr Team zu tun?

Digitale Gewalt hat sehr viele Gesichter und sie verändert sich mit den technologischen Entwicklungen. Wie schon vor 20 Jahren geht es auch heute noch häufig um Beleidigungen in Kommentarspalten. Auch Todes- und Feindeslisten sind verbreitet, auf diese hat der Gesetzgeber inzwischen mit einem neuen Straftatbestand reagiert. Außerdem haben wir es immer öfter mit Deep Fakes zu tun: Beispielsweise mit einem Profilfoto auf LinkedIn fertigen die Tatpersonen mithilfe von KI gefälschte Bilder von Personen an. Das ist kostenlos und innerhalb von Sekunden gemacht. Pornografische Deep Fakes betreffen vor allem weiblich gelesene Personen. Mit einem gefälschten Nacktfoto ist der Ruf sofort und langfristig ruiniert. Und wir haben es mit dem Phänomen von Dickpics zu tun, die vor allem junge Frauen und Mädchen auf Instagram erhalten, was ich sehr besorgniserregend finde. Zudem sehen wir Verleumdungskampagnen, die den Ruf von Einzelpersonen zerstören sollen. Das Worst-Case-Szenario ist das sogenannte Doxing, also das Veröffentlichen von Privatadressen in feindseliger Absicht. Deswegen empfehlen wir allen Nutzer*innen, die potenziell betroffen sein könnten, eine Melderegistersperre einrichten zu lassen.

Wächst die Gewalt im Netz?

Wir können das Internet nicht „messen“ – aber wir können etwas über die Wahrnehmung digitaler Gewalt in der Bevölkerung sagen. Der Studie „Lauter Hass, leiser Rückzug“ zufolge, die wir 2024 mit herausgegeben haben, haben 80 Prozent der Befragten den Eindruck, dass digitale Gewalt in den vergangenen Jahren zugenommen habe. Außerdem geben mehr und mehr Menschen in Studien an, betroffen zu sein oder wenden sich an uns. Das hat natürlich auch etwas mit dem wachsenden Bewusstsein für die Problematik zu tun.

Das Internet ist – eigentlich – kein rechtsfreier Raum. Doch obwohl sich seit der Gründung von HateAid vieles verbessert hat, ist es bis heute ein „rechtsdurchsetzungsfreier“ Raum. Nicht nur diejenigen, die digitale Gewalt verbreiten, wähnen sich in der Gewissheit, dass ihnen nichts passieren wird. Auch die Betroffenen wissen teilweise gar nicht, dass Bedrohung, Beleidigung oder die Zusendung von Dickpics Straftaten sind. Wer will schon glauben, in einem Rechtsstaat regelmäßig Opfer von Gewalt zu sein, ohne dass jemand etwas dagegen unternimmt?

Im Netz scheinen Menschen Hemmungen, die sie im persönlichen Kontakt durchaus haben, zu verlieren. Was wissen wir denn über die Täter*innen?

50 bis 70 Prozent der Tatpersonen werden nicht identifiziert. Es gibt also ein sehr großes Dunkelfeld. Diejenigen, die professionell agieren, wissen, wie sie ihre Identität verschleiern können. Die Bandbreite ist jedoch sehr groß. Das geht von der Besitzerin eines Hundefrisiersalons bis zum Rentner, die sich gewissermaßen hinreißen lassen und im Nachhinein gar nicht wissen, wie das passieren konnte. Aber natürlich hat digitale Gewalt auch eine strategische politische Komponente. Wir haben größere Shitstorms analysiert und orchestrierte strategische Angriffe beobachtet, wobei hinter 100 Accounts in der Regel nur 20 Menschen stehen. So entstehen mehrere Tausend Kommentare, für die nur 100 Nutzerkonten verantwortlich sind. Sie erwecken gezielt den Eindruck, dass sich viele gegen einen einzigen wenden. Die Accounts interagieren dann miteinander, wobei ihnen die Algorithmen der sozialen Netzwerke viel Sichtbarkeit verschaffen.

Ich gehe also nicht davon aus, dass ganz Deutschland hasserfüllt ist und am Laptop seiner Wut auf die Politik freien Lauf lässt. Es handelt sich in den meisten Fällen um politisches Kalkül. Zahlen des Bundeskriminalamtes und des Verfassungsschutzes zeigen, dass digitale Gewalt vor allem von rechtsextremen Akteuren ausgeht. Auch die linksextreme Gewalt ist seit Beginn des aktuellen Nahost-Konflikts angestiegen. Die Zahlen liegen aber noch weit unter denen von Straftaten aus dem rechtsextremen Milieu. Doch auch die Vorfälle digitaler Gewalt, die politisch nicht zuordenbar ist, nimmt zu. Da kann es um unterschiedlichste Themen gehen, von der Impfung bis hin zur Gasversorgung.

Mit welchen Problemen kommen Betroffene zu Ihnen, was sind die Folgen digitaler Gewalt?

Digitale Gewalt macht mit allen etwas, auch mit Menschen, die beruflich ganz bewusst in der Öffentlichkeit stehen. Gerade in der Politik werden Menschen systematisch entmenschlicht und dienen nur noch als Projektionsfläche. Die psychischen Folgen können Zustände von Angst und Unruhe, Depressionen oder Schlafstörungen sein. Viele, deren private Adresse öffentlich gemacht wurde, werden knallhart mit neuen Realitäten konfrontiert, müssen ihren Namen ändern, die Arbeitsstätte wechseln, umziehen. Die Erfahrung zieht auch Verhaltensänderungen nach sich. Betroffene bildbasierter Gewalt werden etwa kein LinkedIn-Profil mehr anlegen. Und die Angst, von der neuen Partnerin oder vom neuen Arbeitgeber gegoogelt zu werden – auch wenn letzteres nicht erlaubt ist – bleibt.

Welche juristischen Schritte sind aus Ihrer Sicht nötig, um Hass im Internet entgegenzuwirken?

Wir haben ein Interesse daran, dass diejenigen, die strafbaren Hass ins Internet schreiben, bestraft werden. Doch die Identifikation ist wie gesagt schwierig. Und wir haben es mit sozialen Netzwerken zu tun, die behaupten, sie wären eine passive Leinwand. Aus meiner Sicht müssen die Betreiber der Social-Media-Plattformen viel mehr in die Pflicht genommen werden. Wenn die Plattformen eine aktive Rolle übernähmen, hieße dies, dass sie Daten an die Polizei weitergeben oder dass die Registrierung auf sozialen Plattformen nur noch gegen Vorlage des Ausweises möglich ist. Dafür bräuchte es allerdings eine europäische Lösung. Zwar gibt es inzwischen den Digital Services Act auf europäischer Ebene, doch dessen Umsetzung ist noch nicht da, wo wir sie gerne hätten. Die Plattformen profitieren seit über einem Jahrzehnt von sehr umfangreichen Haftungsprivilegien, die ihnen ihr Geschäftsmodell überhaupt erst ermöglichen. Sie müssten deutlich mehr Transparenz zulassen.

Gleichzeitig sehen wir noch rechtliche Lücken: Das nicht einvernehmliche Anfertigen von Deep Fakes zum Beispiel ist nicht strafbar, die Verbreitung hingegen schon. Das ist ein Riesenproblem, denn vor allem gegen Frauen sind Deep Fakes eine sehr effektive Waffe.

Das gesellschaftliche Miteinander scheint bedroht, Kontroversen werden dagegen immer heftiger ausgetragen. Sind soziale Netzwerke dafür mitverantwortlich?

Ob diese Entwicklung direkt auf die Diskurse im Netz zurückzuführen ist, lässt sich nicht abschließend klären. Wir können aber eine zeitliche Korrelation bei der Polarisierung und der Verbreitung von Social Media beobachten. Zum Teil ist die Spaltung unserer Gesellschaft sicherlich der Funktionsweise sozialer Netzwerke geschuldet. Die Betreiber der Plattformen wollen, dass wir interagieren: nicht nur stundenlang Videos schauen, sondern auch liken, kommentieren und Werbung ansehen. Und oftmals sind es leider nicht die Katzenvideos, die geklickt werden, sondern extreme Inhalte. Auch die Presse macht bei dieser Emotionalisierung der Debatten mit. Aus meiner Sicht können wir dem nur über die Regulierung von Plattformen begegnen. Sie sind eben nicht die Heilsbringer der Demokratie. Sie sind sehr manipulationsanfällig und tun nichts dagegen, weil sie profitabhängig sind. Gerade die emotional erhitzten Debatten bringen ihnen das meiste Geld. Es geht also um Profit auf Kosten unserer gesellschaftlichen Diskurse und unserer Demokratie. Daran ließe etwas ändern, wenn man gleiche Spielregeln für alle schaffen würde.

Mit welchen Herausforderungen sehen Sie sich als gemeinnützige Organisation derzeit konfrontiert? Man denke etwa auch an die Kleine Anfrage der CDU vom Februar 2025, die die Finanzierung einer ganzen Reihe von NGOs infrage gestellt hat.

HateAid zählt nicht zu den betroffenen Organisationen. Weil wir öffentliche Förderung für Betroffenenberatung erhalten, hören wir jedoch regelmäßig den Vorwurf fehlender parteipolitischer Neutralität. HateAid ist jedoch parteipolitisch neutral und ruft auch nicht zu Demonstrationen auf, das ist nicht unser Gesellschaftszweck. Die kleine Anfrage der CDU ist aus meiner Sicht Ausdruck einer Skepsis gegenüber gemeinnützigen Organisationen, die die breite Öffentlichkeit erreicht hat. Ich erkenne hier das besorgniserregende Narrativ des „Schattenstaates“ wieder, das aus den USA kommt, aber auch in Deutschland Form annimmt. Doch NGOs übernehmen wichtige Aufgaben des Staates: Der Begriff „Gemeinnützigkeit“ kommt aus dem Steuerrecht. Das Finanzamt entscheidet darüber und gewährt so Steuervergünstigungen, weil der Staat sonst eigene Strukturen einrichten müsste, die Geld kosten würden. Die Idee des „Schattenstaates“ ist so gefährlich, weil sie zivilgesellschaftliches Engagement insgesamt angreift.

 

Josephine Ballon studierte Rechtswissenschaft an der Universität Potsdam und wurde 2018 als Rechtsanwältin zugelassen. Ab 2019 war sie Head of Legal bei HateAid und leitet die Organisation seit 2023 gemeinsam mit Anna-Lena von Hodenberg. Josephine Ballon war mehrfach als Sachverständige, etwa im Rechtsausschuss und im Ausschuss für digitale Agenda des Deutschen Bundestages, sowie im Europäischen Parlament geladen und nahm dort zu Fragen der Strafverfolgung von Hasskriminalität im Internet, geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt und der Plattformregulierung Stellung.

Zur gemeinnützigen Organisation HateAid: https://hateaid.org/

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin  Portal - Zwei 2025 „Demokratie“.