Was ist der Grund für den weltweiten Rückgang von demokratisch regierten Staaten?
Die weltweite Entwicklung von Demokratien ist eine komplexe Angelegenheit, die sich schwer genau erklären lässt. Fakt ist: Nachdem sie lange im Aufwind waren, gibt es mittlerweile einen deutlichen Trend des Rückbaus von Demokratien. Ein wesentliches Merkmal dieser Entwicklung ist, dass zunehmend Grundfreiheiten, Rechte und rechtsstaatliche Prinzipien eingeschränkt oder gar abgeschafft werden. Viele ehemals demokratische Länder zeigen deutliche autoritär-nationalistische Züge; sie gelten noch als Demokratien, sind aber auf einem schwierigen Weg.
Ist das politische System hierzulande in Gefahr?
Auch Deutschland ist nicht immun gegenüber diesen globalen Tendenzen, und es besteht die Möglichkeit, dass sich die Parameter, die uns betreffen, wie Presse- und Wissenschaftsfreiheit, verschlechtern könnten. Tatsächlich würde ich sagen, dass die Verfassungsordnung, wie sie im Grundgesetz verankert ist, derzeit gefährdet ist. Ich denke, ich kann diese Bedrohung durchaus deutlich benennen, ohne dabei des Alarmismus verdächtigt zu werden. Es gibt Kräfte, die aktiv am Abbau pluralistischer Prinzipien und an der Einschränkung der Möglichkeiten zur Entfaltung kultureller Vielfalt arbeiten – Grundpfeiler unserer Demokratie. Diese Kräfte „klopfen“ unser Rechtssystem systematisch ab, um festzustellen, welche Schwachstellen oder Einfallstore es für ihre politischen Ziele innerhalb der bestehenden Ordnungen gibt.
Was ist aktuell die größte Bedrohung für die Demokratie?
Das politische Agieren einer Partei, die ausdrücklich gegen die demokratischen Grundsätze ankämpft. Eine solche Partei, die wir klar benennen sollten, ist die Alternative für Deutschland, die AfD, die aus politikwissenschaftlicher Sicht schon lange als rechtsextrem dominiert gilt. Diese Partei richtet sich gegen die demokratische Ordnung des Grundgesetzes, und diese Tendenz wird durch die Bewertung der Sicherheitsbehörden bestätigt. Der Verfassungsschutz, obwohl er andere und zurückhaltendere Kriterien zur Bewertung hat, geht in die gleiche Richtung. Zudem lässt sich klar beobachten, dass die Prinzipien unserer parlamentarischen Demokratie nicht mehr dieselbe bindende Kraft besitzen wie zuvor. Dies merken wir im politikwissenschaftlichen Diskurs sehr deutlich: Wir müssen davon ausgehen, dass sich unsere parteienbasierte Demokratie wandeln wird, selbst wenn sie nicht unmittelbar gefährdet ist. Diese Transformation ist spürbar und wir stehen vor der Herausforderung, uns zu überlegen, wie die Funktionen, die bislang Parteien übernommen haben, in zukünftigen Strukturen substituiert oder die demokratische Legitimation von Parlamenten und die Vermittlung des Bürgerwillens gesichert werden können. Mir fehlt die Fantasie, um zu sehen, wie wir diese problematischen Entwicklungen aufhalten oder umkehren könnten, um die demokratische Stabilität zu bewahren.
Tatsächlich finden neun von zehn Deutschen Demokratie an sich gut, aber nur rund 42 Prozent die Art, „wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“. Woran liegt das?
In Deutschland besteht seit Jahrzehnten eine breite Zustimmung zur Demokratie als Prinzip. Diese steht jedoch im Widerspruch zur aktuellen Performance der demokratischen Institutionen. Viele Bürger, mich eingeschlossen, spüren eine Unzufriedenheit mit dem Output der Demokratie, da sie sich nicht ausreichend vertreten fühlen. Wenn wir untersuchen, welchen demokratischen Institutionen die Bürger Vertrauen entgegenbringen, zeigt sich, dass dies meist der Justiz und den Exekutivbereichen gilt. Den Parlamenten wird dabei weniger Vertrauen geschenkt, was ich als alarmierend empfinde, denn frei gewählte Parlamente sind der zentrale Ort der Volkssouveränität. Hier zeigt sich deutlich das Misstrauen gegenüber den parlamentarischen Institutionen.
Die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung in Bezug auf die Demokratie muss differenziert betrachtet werden. Es gibt Menschen, die mit dem demokratischen Output unzufrieden sind und andere, bei denen das Verständnis von guter Demokratie abweicht. Einige wünschen sich weniger repräsentative Demokratie und mehr identitäre Demokratie, die als Einheit von Führern und Geführten funktioniert, oft in Form einer plebiszitären Demokratie. Aus politikwissenschaftlicher
Sicht halte ich dies für schädlich, da Volksabstimmungen oft nur Ja/Nein-Antworten zulassen und leicht durch populistische Akteure beeinflusst werden können. Zudem besteht die Gefahr, dass Ergebnisse verfälscht werden, da sie stark von einem bestimmten Zeitpunkt abhängen. In einer plebiszitären Demokratie werden oft Minderheiteninteressen ignoriert oder überfahren, obwohl diese schützenswert und wichtig sind.
Unsere Demokratie bietet die Möglichkeit, notwendige gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu gestalten. Diese sollen nicht von oben oktroyiert werden, sondern aktiv unter Beteiligung der Bevölkerung entstehen, um möglichst viele Interessen aufzunehmen und in Kompromisse zu integrieren. So werden die notwendigen gesellschaftlichen Reformen erst möglich.
Was müsste man tun, damit sich dieses negative Urteil in der Bevölkerung ändert?
Es gibt viele Aspekte, die wir nicht vollständig steuern können, da einige der Herausforderungen aus der aktuellen Performance unserer demokratischen Systeme entstehen. Das führt uns deutlich vor Augen, dass Demokratie letztlich ein gefährdetes Experimentieren darstellt. Deshalb ist es dringend erforderlich, demokratische Fantasie zu entwickeln, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken und pessimistisch anzunehmen, dass sich alles nur verschlimmern wird. Es ist jedoch entscheidend, gleichzeitig die Möglichkeiten antidemokratischer Kräfte einzuschränken. Dies betrifft besonders die Meinungsbeeinflussung, wie sie in der Vergangenheit durch monopolistische Großkonzerne ausgeübt wurde und heute noch mehr durch die unregulierte Welt der sozialen Medien. Hier besteht dringender Bedarf an Regelungen und Steuerungsmechanismen. Gleichzeitig müssen wir unsere Demokratie aktiv verteidigen – insbesondere gegen parteiförmige Akteure, die versuchen, sie zu untergraben. Es geht darum, die Grundlagen unserer demokratischen Ordnung zu schützen und zu stärken, um die Prinzipien, die sie tragen, bewahren und weiterentwickeln zu können.
Wie wehrt sich die Demokratie?
Die erste Frage ist, wie man die Bürger schützen kann. Auf individueller Ebene funktioniert das meist recht gut, jedoch ist der Schutz vor kollektiver Verfolgung weniger zuverlässig. Ein Beispiel hierfür ist die Sarrazin-Debatte, bei der eine Bevölkerungsgruppe, hier die Türken, kollektiv diffamiert wurde. Der Internationale Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang Staatsversagen festgestellt. Dieser Schutzmechanismus ist schlecht ausgestattet und es sollte Anpassungen geben, doch bislang sind sie nicht erfolgt. Das ermöglicht die Herabsetzung und Abwertung einer Gruppe ohne wirkliche Abwehrmöglichkeiten. Ein weiterer Aspekt betrifft die Rechts- und Verfassungsordnung: Wie kann man den demokratischen Staat vor Übergriffen schützen, die aus dem gesellschaftlichen Bereich kommen, ähnlich wie es in der Weimarer Republik geschah? Die Schutzmechanismen der Demokratie, die sowohl den Staat als auch die Bürger verteidigen sollen, sind derzeit geschwächt. Beispiele dafür sind die gescheiterten Verbotsverfahren gegen die NPD und gewisse Interpretationen der Pressefreiheit, wie im Compact-Urteil. Ein weiteres Beispiel ist die Fünf-Prozent-Hürde, die eigentlich dazu dienen soll, die Verfassungsordnung zu bewahren. Aber wenn eine verfassungsfeindliche Kraft sicher über die Fünf-Prozent-Hürde kommt, während die oppositionellen Kräfte stark zersplittert sind, wird es gefährlich. In Brandenburg ist die AfD stark, während gleichzeitig 14 Prozent der Stimmen nicht im Landtag abgebildet sind, mit Parteien wie der Linken, den Grünen, Volt und anderen, die sich oft im politisch linken oder mittleren Spektrum bewegen. Die Fünf-Prozent-Hürde stellt so ein Problem dar, da sie die Repräsentation von Minderheiten oder fragmentierten Parteien behindern kann.
Wenn eine Partei darauf ausgerichtet ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu gefährden, gibt es die Möglichkeit, sie zu verbieten. Gemacht wurde das aber zuletzt 1956. Hatte die deutsche Demokratie nie Feinde?
Über einen langen Zeitraum hinweg gab es keine klaren Kriterien für den Umgang mit Parteien, die sich in ihrer Ideologie gegen die demokratische Grundordnung richten. In der frühen Phase der Bundesrepublik wurden beispielsweise 1952 die NSDAP-nahe Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten. Seitdem gibt es immer wieder Diskussionen über Parteiverbote. Aber das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat stets versucht, sich nicht grundsätzlich zur Thematik äußern zu müssen, obwohl es bei Urteilen in anderen Bereichen sehr detailliert geworden ist und die Gelegenheit hatte, die roten Linien auch in diesem Fall aufzuzeigen. Letztlich wurde das „schärfste Schwert der Demokratie“ 2017 scheinbar so tief in die Scheide gerammt, dass wir es jetzt, wo wir es dringend benötigen, nicht mehr ziehen können.
Schon seit 2015, zwei Jahre nach ihrer Gründung, wurde über ein Verbot der AfD diskutiert. Bis heute kam es nicht dazu. Warum?
Das Konzept des Verfassungsschutzes ist komplex und die Behörden, mit ihrer speziellen Struktur, haben lange gezögert, die AfD auch nur als Verdachtsfall einzustufen. Dies wurde zu Beginn sogar aktiv durch den damaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, behindert. Darüber hinaus gab es Bedenken, eine zu voreilige Bewertung vorzunehmen. Diese Umstände haben die Debatte erheblich zurückgeworfen.
Es gibt gute Gründe für ein Verbot der AfD. Ein solches Verbot wäre aber schwer durchzusetzen, was verdeutlicht, wie herausfordernd es ist, mit Mitteln des Verfassungsschutzes oder durch Verbotsverfahren politischen Extremismus zu bekämpfen. Es erfordert eine gründliche und offene Diskussion, wie wir als Gesellschaft und über die politischen und rechtlichen Institutionen hinweg mit der Herausforderung umgehen, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu identifizieren und zu konfrontieren.
Der Verfassungsschutz hat die AfD im Mai 2025 von einem „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ bundesweit zu einer „gesichert rechtsextremistischen“ Partei hochgestuft. Bei der letzten Bundestagswahl erreichte sie über 20 Prozent. Woran liegt das?
Die AfD ist immer dann besonders stark, wenn der gesellschaftliche Diskurs ihre Themen aufgreift und ihnen entgegenkommt, beispielsweise durch das Ins-Zentrum-Rücken des Diskurses gegen Migration und durch Themen, die die notwendigen Maßnahmen gegen Klimaprobleme in den Hintergrund drängen. Das hat dazu geführt, dass der Wunsch der AfD, sich mit ihren Themen zu normalisieren, erfüllt wurde. Eine Mehrheit hält sie immer noch für unwählbar, aber diese Gruppe wird kleiner. Besonders alarmierend ist die sinkende Bereitschaft, der AfD in ihren Kernthemen etwas entgegenzusetzen, etwa in der Migrations-, Gender- oder Klima- und Umweltschutzpolitik. Dies führt dazu, dass der Prozess der Aushandlung von tragfähigen Lösungen und dem Schutz der Minderheitenrechte verloren geht. Wenn man sich die mediale Begleitung der Koalitionsgespräche anschaut, liegt der Fokus oft darauf, welcher „starke Mann“ sich am Ende durchsetzen würde. Diese Herangehensweise riskiert, dass Verfahren, in denen Abwägung und Austausch stattfinden, ignoriert werden, obwohl sie grundlegende, evidenzbasierte Lösungen hervorbringen können. In der Politik finden wir selten vollständige Lösungen, aber es ist durchaus möglich, bessere Zustände zu erreichen, und darauf sollten wir abzielen! Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, was auf dem Spiel steht, wenn wir uns von diesen Prinzipien abwenden und die Diskursfähigkeit verlieren.
Gideon Botsch leitet die Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus (EJGF) am Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ). Seit 2018 ist er außerplanmäßiger Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2025 „Demokratie“.