Skip to main content

Was kostet ein Verbrechen? – Wirtschaftswissenschaftlerin Anna Bindler über den Zusammenhang von Kriminalität und Ökonomie

Viele Menschen verfolgen gespannt den sonntäglichen Tatort – um nach 90 Minuten abzuschalten und das Verbrechen Verbrechen sein zu lassen. Opfer von Straftaten können das nicht. Sie haben oft sehr lange mit deren Folgen zu tun. Viele sind nicht mehr arbeitsfähig, müssen körperliche Schäden behandeln lassen oder eine Psychotherapie machen, weil das Erlebte sie nicht mehr loslässt. Das Leid, das Verbrechen bewirken, ist schwer messbar. Die finanziellen Folgen für die Betroffenen durchaus, wie Prof. Dr. Anna Bindler weiß. Sie ist seit 2024 gemeinsam berufene Professorin für Angewandte Mikroökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und an der Universität Potsdam. Mit ihrer Arbeit, die sich mit den ökonomischen Ursachen und Folgen von Kriminalität beschäftigt, macht Anna Bindler ein hierzulande noch wenig bekanntes Forschungsfeld publik – die Economics of Crime.

Mit Nadine Ketel von der Vrije Universiteit Amsterdam haben Sie eine Studie zu den wirtschaftlichen Folgen von Kriminalität durchgeführt, die viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Was macht die Studie besonders?

Wir hatten beobachtet, dass sich die Forschung vor allem mit der Frage beschäftigt, wodurch sich Kriminalität effektiv eindämmen lässt. Um diese Frage zu beantworten, sollten wir wissen, was uns sozial- und sicherheitspolitische Maßnahmen gegen Kriminalität kosten und ob sie tatsächlich helfen. Die Ausgaben für solche Maßnahmen sind relativ gut zu berechnen. Wir wissen, wie viel Geld wir beispielsweise für Videoüberwachung oder einen Polizeieinsatz aufwenden müssen. Ihr Nutzen ist dagegen viel schwerer zu erfassen. Und hier liegt gewissermaßen die Quadratur des Kreises: Wir wollen herausfinden, was uns Kriminalität kostet, die niemals stattgefunden hat – weil wir sie verhindert haben. Damit stehen wir vor zwei Herausforderungen. Erstens: Wie misst man verhinderte Kriminalität? Und zweitens: Wie misst man die Ausgaben für verhinderte Kriminalität? Hier haben wir angesetzt um herauszufinden, was Kriminalität aus ökonomischer, gesellschaftlicher und individueller Sicht kostet. Für die Studie haben wir Daten der niederländischen Polizei aus den 2000er Jahren mit Arbeitsmarktdaten verknüpft. So konnten wir für Menschen, die Opfer von Kriminalität wurden, nachvollziehen, wie sich ihre Karrieren innerhalb der ersten Jahre nach der Tat fortsetzten – oder eben nicht. Was passierte mit ihren Einkommen? Benötigten sie Sozialleistungen? Wie hoch waren die Ausgaben für medizinische Behandlungen, die nach der Straftat nötig wurden?

Was haben Sie herausgefunden?

Die Einkommen sanken, die Opfer waren häufiger auf Sozialleistungen angewiesen und hatten höhere medizinische Behandlungskosten als vor der Straftat. Besonders betroffen sind übrigens Menschen, die schon vorher prekär beschäftigt waren. Die Folgen der Tat hängen dabei auch von deren Form ab. Wir haben vier Kategorien untersucht: Körperverletzung, Androhung von Gewalt – was auch Stalking einschließt –, Raubüberfälle und Einbrüche mit und ohne Gewalt. Die Studie zeigt, dass die finanziellen Folgen von Gewaltverbrechen schwerer sind. Außerdem sind die Effekte bei weiblichen Opfern noch etwas stärker ausgeprägt als bei männlichen. Frauen verdienen monatlich bis zu 12,9 Prozent weniger, bei Männern sind es 8,4 Prozent. Weibliche Opfer beziehen im Schnitt sechs Prozent mehr Sozialleistungen als vor dem Verbrechen, männliche bis zu fünf Prozent. Beziehen wir häusliche Gewalt ein, sind die Einbußen von Frauen noch gravierender.

Wie erklären Sie diese Unterschiede?

Das ist die große Frage! Es ist möglich, dass sich diese Ungleichheit durch das unterschiedliche Arbeitsmarktverhalten von Frauen und Männern erklärt: Ihre Karrieren gestalten sich anders, Frauen haben im Schnitt geringere Verdienste. Die Ursache könnte aber auch in den Daten selbst liegen. Denn hier sind nur Fälle erfasst, in denen die Betroffenen zur Polizei gegangen sind – und die Bereitschaft, einen Vorfall zu melden, mag bei Frauen und Männer verschieden sein.

Sie haben sich auch damit beschäftigt, ob Männer und Frauen von der Justiz gleichbehandelt werden.

In einer Studie mit historischen Daten haben wir Fälle an einem Londoner Gericht vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts untersucht, um herauszufinden, wie sich die Verurteilungsraten für Männer und Frauen entwickelten. Über den gesamten Zeitraum wurden Frauen seltener verurteilt als Männer, die für das gleiche Verbrechen vor Gericht standen. Wir sprechen hier von positiver Diskriminierung. Dahinter scheint ein paternalistischer Mechanismus zu stecken: ein gesellschaftlicher Zweifel, ob Frauen überhaupt zu einer Straftat fähig sind.  

Nun haben wir bereits über die finanziellen Folgen für die Opfer von Straftaten gesprochen. Die Ausgaben für Polizei, Gerichte und Gefängnisse werden aber von allen getragen. Was kostet Kriminalität die Volkswirtschaft?

Bisherige Schätzungen haben vor allem direkte Ausgaben etwa für Strafverfahren, Polizeieinsätze oder Eigentumsschäden erfasst. Bezieht man jedoch indirekte Kosten wie Einbußen auf dem Arbeitsmarkt ein, fallen diese Schätzungen um zehn Prozent zu niedrig aus. Die Einkommensverluste in den Niederlanden im ersten Jahr nach einer Viktimisierung betragen etwa 72 Millionen Euro. Das ist mehr als das Doppelte von dem, was zu der Zeit für Kompensationszahlungen von Tätern an Opfer gezahlt wurde. Und unsere Daten zeigen, dass die Opfer auch vier Jahre später ihr ursprüngliches Einkommen noch nicht wieder erreicht haben.

Welche Konsequenzen sollte die Politik aus diesen Erkenntnissen ziehen? Halten Sie es etwa für sinnvoll, das Strafmaß zu erhöhen, um potenzielle Täter*innen abzuschrecken?

Aus meiner Sicht ist ein Dreiklang wichtig. Erstens die Prävention, bei der es darum geht, zu verhindern, dass Menschen kriminell werden. Bildung ist hier eine der besten Maßnahmen. Zweitens die Repression: Wie können Polizei und Justiz Straftaten besser aufklären? Drittens brauchen wir eine effektive Opferhilfe, die Betroffene etwa mithilfe von Gewaltschutzgesetzen besser unterstützt.
Ich denke, wir haben einen sinnvollen Strafkatalog, aber dieser kann nur ausgeschöpft werden, wenn Täter vor Gericht kommen. Wichtiger und effektiver als Strafen zu erhöhen, ist es deswegen aus meiner Sicht, an deren Umsetzung anzusetzen – also Aufklärungsquoten zu erhöhen und Täterinnen und Täter dem existierenden Strafkatalog entsprechend zu bestrafen.

Wer sind eigentlich die Opfer von Verbrechen – lässt sich das statistisch beantworten?

Jein. Wir haben uns die Durchschnittseinkommen in den niederländischen Polizeiberichten angeschaut und sie mit einer zufälligen Stichprobe aus der Bevölkerung verglichen. Menschen, die Opfer von Gewalt werden, gehören statistisch gesehen eher zu benachteiligten Bevölkerungsgruppen: Sie haben im Durchschnitt geringere Einkommen, sind häufiger arbeitslos und beziehen Sozialleistungen. Sie arbeiten öfter in prekären Beschäftigungsverhältnissen, also mit befristeten Verträgen beziehungsweise bei Leih- und Zeitarbeitsfirmen. Damit sind sie arbeitsrechtlich weniger geschützt.

In einer anderen Studie haben wir uns die Altersverteilung angesehen, ebenfalls in den Niederlanden: Junge Menschen haben demnach ein höheres Risiko Opfer zu werden als ältere Menschen.

Woran könnte das liegen?

Was die Perspektive der Opfer betrifft, sagen Theorien aus der Soziologie: Kriminalität findet statt, wenn es Gelegenheit dazu gibt, also potenzielle Opfer und potenzielle Täter aufeinandertreffen. Wenn sie sich nicht begegnen, findet sie auch nicht statt. Wir interessieren uns dafür, welche Faktoren die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Straftat geschieht. Dazu müssen wir uns anschauen, was bei den Menschen zu Hause, auf der Arbeit und in der Freizeit geschieht. 18- bis 20-Jährige gehen im Schnitt öfter aus, besuchen Clubs und trinken Alkohol. Sie begegnen potenziellen Risiken daher häufiger als Menschen mit Mitte 30 oder 40, die vielleicht das Wochenende zu Hause oder mit ihren Kindern verbringen. Wenn Jugendliche mit der Volljährigkeit Grundrechte bekommen, verändern sich ihre Gewohnheiten. Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, steigt dann sprunghaft an. In den Niederlanden wurde vor einigen Jahren das Mindestalter für den Alkoholkonsum und den Besuch von Clubs und Bars von 16 auf 18 Jahre erhöht. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Straftaten zu werden, verringerte sich dadurch bei den Jugendlichen. Das heißt aber nicht, dass der Clubbesuch verboten werden sollte – schließlich ist das Ausgehen ja etwas Schönes. Doch man sollte überlegen, wie Straftaten hier eingedämmt werden könnten, etwa durch Informationsmaßnahmen zum Alkoholkonsum oder auch durch persönliche Vorsichtsmaßnahmen.

Das Risiko in die Kriminalität einzusteigen ist ebenfalls in jungen Jahren am höchsten, in vielen Ländern mit Anfang 20. Das war schon im 19. Jahrhundert so, wie historische Gerichtsdaten zeigen. Aus psychologischer, soziologischer und ökonomischer Sicht ist das ein Zeitpunkt, an dem sich Vieles entscheidet: Die Schullaufbahn geht zu Ende und das Berufsleben beginnt.

Was bräuchte es, um junge Menschen vor einem kriminellen Weg zu schützen?

Es gibt einen Zusammenhang zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität. Deswegen sind gute Startchancen wichtig. In einer Studie haben wir das untersucht. Vereinfacht gesagt haben wir dabei die Lebenswege von zwei Personen verglichen: Eine von ihnen trifft nach der Schule auf einen guten Arbeitsmarkt und findet bald einen Job. Die andere macht den Abschluss zu einem ungünstigen Zeitpunkt und bleibt arbeitslos. Die Wahrscheinlichkeit, dass letztere kriminell wird, ist größer als bei der ersten Person. Das bedeutet aber nicht, dass jeder Mensch, der Arbeitslosigkeit erfährt, kriminell wird.

Ihre Forschungsperspektive gilt in Deutschland als einzigartig. Wie sind Sie dazu gekommen?

Das Forschungsfeld wächst im internationalen Raum sehr stark, in Deutschland ist es tatsächlich noch ein kleiner Bereich. Ich kam am University College in London darauf, wo ich im Rahmen meines strukturierten Doktorandenprogrammes Kurse besuchte. Mein späterer Doktorvater hat in einer Vorlesung zu „Economics of Crime“ gelehrt. Ich fand das total spannend und entwickelte Ideen für meine Dissertation. Mir ist es wichtig, das wissenschaftliche Arbeiten mit einem gesellschaftlichen Wert zu verbinden.

Diese Verbindung spiegelt sich auch darin wider, dass Sie 2023 mit dem „Wissenschaftspreis Opferschutz“ von WEISSEM RING und Bundeskriminalamt ausgezeichnet wurden.

Darüber habe ich mich riesig gefreut. Es ist eine große Ehre, über den engen Zirkel der Wissenschaft hinauswirken zu können. Ich freue mich, dass die Ergebnisse nicht nur zum wissenschaftlichen Diskurs beitragen, sondern in der Praxis den Mehrwert haben, den ich wir uns erhoffen.


Anna Bindler ist seit 2024 gemeinsam berufene Professorin für Angewandte Mikroökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und an der Universität Potsdam.
 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.