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„Wir brauchen ein komplexeres Bild ökologischer Prozesse“ – Warum ein Paradigmenwechsel hin zu einer individuenbasierten Ökologie nötig ist

Illustration ökologischer Prozesse
Prof. Dr. Damaris Zurell und Prof. Dr. Florian Jeltsch im Interview.
источник : Andreas Töpfer
Photo : Tobias Hopfgarten
Prof. Dr. Damaris Zurell und Prof. Dr. Florian Jeltsch im Interview.

Die Welt ist in der Krise. Doch nicht nur der Klimawandel sorgt für Alarmstimmung unter Forschenden, auch die Biodiversitätskrise hat bedrohliche Ausmaße angenommen. Noch gibt es schätzungsweise zehn Millionen Tier-, Pflanzen und Pilzarten auf der Welt. Doch über zwei Millionen von ihnen sind vom Aussterben bedroht. Genau lässt sich das aber kaum beziffern. Der Großteil der Arten ist noch gar nicht erforscht und die komplexen ökologischen Systeme, in denen die Lebewesen miteinander existieren, sind vielerorts noch kaum verstanden. Um letzteres zu ändern, wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Potsdamer Ökologie- und Biodiversitätsforschung einen Paradigmenwechsel anstoßen – hin zu einer individuenbasierten Ökologie. Matthias Zimmermann sprach mit der Makroökologin Prof. Dr. Damaris Zurell und dem Naturschutzökologen Prof. Dr. Florian Jeltsch über gewachsene Expertise, wichtige Netzwerke und die Frage, was der Blick aufs Detail fürs große Ganze bringen kann.

In welcher Hinsicht ist die Potsdamer Ökologie- und Biodiversitätsforschung einzigartig?

Jeltsch: Das sind vor allem drei Dinge: Erstens unsere spezifische Ausrichtung auf eine quantitative, prozessorientierte Ökologie. Schon lange arbeiten mehrere Arbeitsgruppen des Instituts für Biologie und Biochemie an einem besseren Verständnis komplexer ökologischer Zusammenhänge. Insbesondere die konsequente Anwendung quantitativer Methoden zur Erforschung ökologischer Mechanismen und Prozesse zeichnet unsere Arbeit aus.

Zurell: Tatsächlich hat die quantitative Forschung in Potsdam stetig an Bedeutung gewonnen. Dabei hat sich die ökologische Modellierung in den vergangenen 20 Jahren einen exzellenten Ruf aufgebaut. Ich konnte das aus der Ferne beobachten, denn ich habe meine ersten Schritte als Forscherin in Potsdam gemacht und bin 2020 hierher zurückgekommen. In den vergangenen zehn Jahren hat die quantitative Komponente zudem einen besonderen Spin bekommen – dank neuer und weiterentwickelter Sensortechnologien wie GPS-Sendern, Kamerasystemen und Methoden zur automatisierten Aufnahme von Biodiversität. Zum Markenzeichen wurde dabei die gekonnte Verknüpfung dieser experimentellen und empirischen Forschung mit mathematischer und computerbasierter Prozess-Modellierung.

Jeltsch: Diese Verknüpfung, unserer zweiten Stärke, ermöglicht es, detaillierte empirische und experimentelle Ergebnisse zu verallgemeinern und somit auf diverse (Umwelt-)Bedingungen und größere Skalen anzuwenden. Beispielsweise widmet sich die Arbeitsgruppe Ökologie und Ökosystemmodellierung vor allem dem Verständnis der Dynamiken in aquatischen Lebensgemeinschaften und komplexen Nahrungsnetzen. Unter Leitung von Ursula Gaedke untersucht das Team des DFG-Schwerpunktprogramms „DynaTrait“ Plankton und Biofilme als empirische Modellsysteme, in denen sich zahlreiche Räuber- und Beutearten wechselseitig anpassen können. Die Kombination von Laborexperimenten und Freilanddaten vom Bodensee mit mathematischen Modellen erlaubt, die Forschungsergebnisse zu abstrahieren, um allgemeine Regeln von Interaktionen in Ökosystemen abzuleiten. Die Gruppe von Anja Linstädter erforscht, wie die biologische Vielfalt durch Landnutzungsänderungen, Klimawandel und andere menschliche Einflüsse, insbesondere in Agrarlandschaften, beeinträchtigt wird. Auch hier bilden quantifizierende, prozessbasierte Untersuchungen – in diesem Fall von Pflanzenmerkmalen – einen Schwerpunkt. Ein Forschungsschwerpunkt meiner eigenen Arbeitsgruppe ist die Bewegung von Organismen – ein Schlüsselmechanismus, der die biologische Vielfalt durch die Verteilung von Genen, Ressourcen, Individuen und Arten in Raum und Zeit beeinflusst. Dafür nutzen wir modernste sensorische Technologien wie GPS-Telemetrie mit internen Beschleunigungssensoren, die wir mit fortschrittlichen statistischen Analysen und räumlich-expliziten, individuenbasierten Modellierungsansätzen kombinieren. Das ermöglicht es uns, die Ursachen und Folgen von veränderten Bewegungsmustern in dynamischen, anthropogenen Landschaften für Wildtierpopulationen und die Dynamik der biologischen Vielfalt zu untersuchen, z.B. im Rahmen unseres Graduiertenkollegs „BioMove“. Auch in den Gruppen von Jana Eccard und Damaris Zurell spielt die quantifizierende Untersuchung von Prozessen eine zentrale Rolle.

Was Potsdam, drittens, auszeichnet, ist die einzigartige Dichte und Vielfalt der Forschungslandschaft in der Biodiversitätsforschung …

Zurell: Diese starke Vernetzung der Potsdamer Forschung spiegelt sich auch in der Vielfalt der untersuchten Systeme. Beispielsweise betrachten wir diverse Ökosysteme nicht nur einzeln, sondern verknüpfen unsere Erkenntnisse, etwa aus aquatischen und terrestrischen Untersuchungen miteinander. Unsere Forschung beschäftigt sich mit Städten als ökonomisch-sozial-ökologischer Einheit ebenso wie mit sich wandelnden Agrarlandschaften, Trockengebieten und aquatischen Lebensgemeinschaften. Dabei umfassen unsere Forschungssubjekte Mikroorganismen, Pflanzen und Wildtierpopulationen gleichermaßen. Gestärkt wird diese Vernetzung durch die Zusammenarbeit mit den vielen außeruniversitären Forschungseinrichtungen der Region, die ihren institutionellen Rahmen im Berlin-Brandenburgischen Institut für Biodiversitätsforschung (BBIB) gefunden haben.

Was macht die Potsdamer Ökologie- und Biodiversitätsforschung so erfolgreich?

Jeltsch: Lange Zeit ging ökologische Forschung der Einfachheit halber von Populationen aus, die aus identischen Individuen bestehen, basierte also auf Mittelwerten, ohne individuelle Unterschiede und deren Verteilung zu berücksichtigen. Das genügt nicht mehr! Insbesondere im Hinblick auf Herausforderungen durch globale Veränderungen brauchen wir ein genaueres, teils komplexeres Bild ökologischer Prozesse. Daher verfolgen wir den Ansatz, Individuen und deren Wechselwirkungen in den Mittelpunkt unserer Forschung zu stellen. Wir betrachten einzelne Lebewesen als kleinste natürliche Einheit, die auf Umweltwandel reagieren. Nur auf dieser Basis können Veränderungen auch in Populationen und Artengemeinschaften verstanden werden.

Zurell: In Potsdam wurde schon früh begonnen, individuenbasierte Modelle als starkes theoretisches Hilfsmittel zu etablieren. Letztendlich reagiert nicht eine ganze Population oder Lebensgemeinschaft gleichgesteuert auf Umweltveränderungen, sondern Individuen reagieren und die unterschiedlichen Reaktionen aller Individuen ergeben dann die Systemantwort. Das können mittelwertbasierte Ansätze nicht gut erfassen. Mittlerweile kommen wir an den Punkt, dass wir daraus Vorhersagemodelle entwickeln und zukünftige Biodiversitätstrends abschätzen können.

Dafür müssen wir viele komplexe Prozesse verstehen: Wie weit werden sich bestimmte Arten durch den Klimawandel nach Norden ausbreiten, wie ändern sich dadurch die biotischen Interaktionen, und sind heimische Arten in der Lage schnell genug darauf zu reagieren? Wie schränkt die menschliche Landnutzung Tiere und Pflanzen ein und wie interagieren diese mit der sich wandelnden Umwelt? Diese Fragen treffen auf eine intensive öffentliche Debatte, weil die Folgen des Klimawandels inzwischen für viele Menschen sicht- und spürbar werden. Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung der Biodiversität und geeignete Managementstrategien kann unsere Forschung einen Unterschied machen.

Jeltsch: Im Graduiertenkolleg „BioMove“ etwa untersuchen wir Bewegungsmuster unterschiedlicher Arten, z.B. Fledermäuse, Hasen, Wildschweine oder auch verschiedene Vogelarten – und schauen, wie diese sich durch Landnutzung, etwa auf landwirtschaftlichen Flächen, verändern. Diese Änderungen von Bewegungsmustern können wiederum Konsequenzen für andere Arten haben, und so letztlich höhere Ebenen wie etwa die Zusammensetzung von Artengemeinschaften beeinflussen. Andere Projekte wie „DynaTrait“ nehmen die evolutionären Eigenschaften von Individuen in den Blick. Die Abkehr von mittelwertbasierten Ansätzen sehen wir bei vielen Vorhaben. So haben wir in Kooperation mit Bayer CropScience die Effekte von Herbiziden auf Nicht-Zielpflanzen untersucht und dafür individuenbasierte Graslandmodelle entwickelt. Mit deren Hilfe können wir beschriebene Herbizideffekte und Wechselwirkungen zwischen einzelnen Pflanzen dann auf ganze Graslandsysteme hochskalieren. Dieses methodische Vorgehen hat uns in den vergangenen Jahren erfolgreich gemacht.

Welche Rolle spielen besondere methodische Zugänge?

Zurell: Biodiversität und die Prozesse, die sie beeinflussen, sind enorm komplex. Wir müssen auf die Arten bzw. Artengemeinschaften schauen, darauf, wie sich ihre Umwelt verändert, wie Individuen verschiedener Arten miteinander interagieren, und auch, wer welche Möglichkeiten zur Anpassung hat. Dafür müssen wir unsere Ansätze verfeinern und diese an verschiedenen Orten einsetzen können, um Gemeinsamkeiten und Besonderheiten verschiedener Ökosysteme zu verstehen. Wir müssen Details untersuchen, um zu verstehen, wann die Variabilität von einzelnen Individuen eine entscheidende Rolle spielt und in die Modelle für das Gesamtsystem aufgenommen werden muss – und wann nicht.

Jeltsch: Unser Ansatz eines ökologischen Paradigmenwechsels hin zu einer individuenbasierten Ökologie erfordert eine bessere, individualisierte Datenerfassung. Wechselwirkungen zwischen Individuen zu erfassen, ist enorm aufwendig, aber möglich. Zum Beispiel gibt es neue Methoden, bei denen sich mithilfe von Sendern die Bewegung, das Verhalten und auch die Physiologie von Tieren gut erfassen lassen. Diese sind in einigen unserer Projekte im Einsatz. Aber auch andere (z.B. akustische) Sensoren werden immer feiner und die Auswertungsmethoden immer präziser. Sensoren werden aber nicht nur zur Untersuchung von Tieren genutzt, sondern auch zur Beobachtung von Pflanzen und ihrer Interaktionen. Ein Feld, das sich rasant entwickelt. Ein anderes Beispiel sind neu entwickelte Experimente zum individuellen Verhalten, wie sie in der Arbeitsgruppe von Prof. Jana Eccard eingesetzt werden.

Zurell: Um Erkenntnisse einzelner Individuen erfolgreich auf große Skalen und Zusammenhänge anwenden zu können, brauchen wir aber zum Einen Daten von sehr vielen Individuen und zum Anderen Expertise, diese richtig zu verarbeiten. Hunderttausende Individuen und abiotische Faktoren zusammenzubringen, braucht Big-Data-Expertise. Da liegt noch einiges an Arbeit vor uns, aber wir sind auf einem guten Weg.

Jeltsch: Immer wichtiger wird auch die Erforschung der evolutionären Seite der Biodiversität. Wir bewegen uns längst parallel auf verschiedenen Zeitskalen und schauen sowohl auf kurzfristige Anpassung als auch auf längere Zeiträume. Daher sind wir froh, mit Ralph Tiedemann einen Evolutionsbiologen an Bord zu haben. Dies gilt auch für die aktuell laufenden gemeinsamen Berufungen von Christian Voigt vom Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) und Lynn Govaert vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), die beide an der Schnittstelle von Ökologie und Evolution arbeiten. Und natürlich auch für die bereits gemeinsam berufenen Kollegen Hans-Peter Grossart vom IGB und Joerns Fickel vom IZW, die ebenfalls an solchen wichtigen Schnittstellen forschen.

Zurell: Tatsächlich ist für ökologische Forschung essenziell, auf welcher Skala die Experimente stattfinden. Denn neben der zeitlichen spielt auch die räumliche Dimension für uns eine zentrale Rolle. So beeinflussen sich Pflanzenarten in Landschaften mal kleinräumig, mal über große Entfernungen. Um diese Verbindungen zu vermessen, haben wir unter dem Dach des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Biodiversitätsforschung (BBIB) die ScapeLabs entwickelt und etabliert. Experimentalplattformen, in denen wir Biodiversitätsforschung auf die Ökosystem- und Landschaftsebene ausdehnen können. Also vom einzelnen Individuum bis auf die regionale Ebene. Mit den AgroScapeLabs, den CityScapeLabs und den LakeScapeLabs verfügen wir über solche Mehrzweck-Landschaftslabore für Agrarflächen, urbane Räume und Süßwassersysteme. Das ist einzigartig in der ökologischen Forschung. In meiner Arbeitsgruppe für Makroökologie gehen wir noch darüber hinaus und benutzen Beobachtungsdaten aus aller Welt, um allgemeingültige Zusammenhänge und Besonderheiten zu erkennen.

Welche Rolle spielen Vernetzungen mit anderen Disziplinen innerhalb der Uni oder auch Einrichtungen außerhalb der Hochschule?

Zurell: Wie wichtig die Vernetzung für die Biodiversitätsforschung ist, zeigt sich beispielsweise an einem bemerkenswerten Fakt: 2022 hat der Weltklimarat seinen sechsten Sachstandsbericht herausgegeben, der Weltbiodiversitätsrat 2019 gerade mal seinen ersten. Biodiversität ist so wahnsinnig komplex und wir sind auf dem Weg zu einer Disziplin, die Vorhersagen machen kann, noch ganz am Anfang. Es gibt rund zehn Millionen Arten und 200 oder mehr Ökosysteme auf der Welt, die durch den globalen Wandel bereits erheblich Schaden genommen haben. Um diese vor weiterem Schaden zu bewahren oder ihren Zustand zu verbessern, brauchen wir fachübergreifendes Wissen und Methodiken. Dazu zählen verschiedenste Bereiche der Ökologie, Evolutionsforschung und Mikrobiologie wie auch die Datenwissenschaften. Künstliche Intelligenz kann zum Beispiel nicht nur bei der Datenaufnahme und -auswertung helfen, sondern auch in Werkzeugen zur Entscheidungsfindung eingesetzt werden, z.B. zur Optimierung von Managementstrategien.

Jeltsch: Mit dem erwähnten Berlin-Brandenburgischen Institut für Biodiversitätsforschung (BBIB) gibt es schon länger eine Plattform von Institutionen, die in der Region zur Biodiversität forschen. Das BBIB ist unser Dach, ein Konsortium aus vier Universitäten und fünf außeruniversitären Forschungseinrichtungen, das uns hilft, im Großraum Berlin vorhandene Kompetenzen in den ökologischen, evolutionären, sozialen und politischen Wissenschaften zu bündeln. Dass das gelingt zeigt sich an Großprojekten wie „DynaTrait“, „BioMove“ oder auch „BIBS –Bridging in Biodiversity Science“. Letzteres schaffte – wie der Name schon sagt – bereits erfolgreich den Brückenschlag zwischen einer Vielzahl von Disziplinen, um unser Verständnis der Biodiversität zu verbessern. Ich denke, es zählt zu den besonderen Stärken unserer Region, dass fachliche Vernetzung in verschiedenen Konstellationen etabliert ist und gut funktioniert. Dabei helfen die zahlreichen Institutionen mit den unterschiedlichen Schwerpunkten. Mit vielen davon gibt es gemeinsame Berufungen. Darunter sind das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) mit dem Fokus auf Arktis und Antarktis, das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), wo Volker Grimm intensiv zu ökologischer Modellierung forscht, das Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB) in Bornstedt und das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg mit ihrer Expertise zu agrarischen Landschaften, das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), das Deutsche Entomologische Institut Senckenberg in Müncheberg und das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW). Zusammen mit den Berliner Universitäten und der Universität Potsdam ist das Netzwerk ungewöhnlich gut aufgestellt.

Zurell: Für den synthetisierenden Blick aufs Ganze, der die vielen experimentellen Daten zusammenbringt, hat in den vergangenen Jahren die Modellierung einen immer größeren Stellenwert erlangt. Das spiegelt sich auch in unseren Netzwerken wider. Was die Integration der Data Science angeht, haben wir zum Glück an der Uni Potsdam sehr gute Kollegen, etwa Ralf Metzler aus der Theoretischen Physik, dessen methodische Kompetenz uns sehr hilft.

Die Potsdamer Biodiversitätsforschung will in der kommenden Runde der Exzellenzinitiative einen Antrag für ein Exzellenzcluster einreichen. Warum ist Potsdam der richtige Ort dafür? Warum jetzt?

Jeltsch: Durch unsere langjährige Erfahrung im Bereich der individuenbasierten Ökologie und bei der Verknüpfung quantitativer Daten mit skalenübergreifender Modellierung sind wir für die Erforschung des Themas sehr gut aufgestellt. Dazu kommt unser weitreichendes Netzwerk mit seiner hohen Dichte an Forschungseinrichtungen, die eine Vielzahl von Kompetenzen, und eine große und interdisziplinäre thematische Bandbreite garantiert. Es gibt hier also enorm viel Erfahrung und Kapazitäten in Sachen Biodiversitätsforschung.

Zurell: Warum jetzt? Weil es drängt! Die Biodiversitätskrise ist da und wir müssen schnellstens so viel wie möglich investieren, um den Biodiversitätswandel besser zu verstehen, Vorhersagen zu ermöglichen, und ein besseres Management der menschlichen Einflüsse auf Ökosysteme zu initiieren. Die Methoden dafür gibt es, aber sie müssen zusammengeführt werden. Damit fangen wir an. Am besten mit einem Exzellenzcluster.

Wie möchten Sie im Cluster junge Forschende einbinden und fördern?

Jeltsch: Das Graduiertenkolleg „BioMove“, das bereits seit 2016 sehr erfolgreich läuft und 2019 verlängert wurde, kann uns dafür als hervorragende Blaupause dienen. Es zeigt uns, welche Innovationskraft junge Forschende mitbringen. Insofern würde ich sagen, dass ein solches Kolleg nicht nur dazu dient, jungen Forschenden etwas beizubringen, sondern dass es einen Austausch mit Mehrwert für beide Seiten bringt. Und ehrlich gesagt geht das schon auf dem Bachelor- und Masterlevel los, wo das Engagement der Studierenden eine enorme Bereicherung für unsere Forschung bedeutet. Sie bringen eine Kreativität mit, die man in jedem möglichen Rahmen fördern muss. Insofern ist es an uns, die nötige Freiheit und Sicherheit zu schaffen, dass junge Wissenschaftler*innen entdecken und gestalten können. Das ist die Grundlage für innovative Forschungsansätze, -projekte und -ideen.

Zurell: Diese Kreativität ist besonders wichtig für uns, weil Biodiversitätsforschung mit immenser Geschwindigkeit digitaler wird. Und gerade unsere individuenbasierte Agenda wird durch neue digitale Möglichkeiten bereichert. Da hilft es natürlich enorm, dass die jungen Generationen an Forschenden und Studierenden „digital natives“ sind und Impulse aus verschiedensten Bereichen einbringen können. Diesbezüglich zeigt sich noch einmal ein besonderer Standortvorteil, denn wir profitieren von der quantitativ orientierten Ausbildung in unserem Master „Ecology, Evolution and Conservation“ – mit den statistischen Methoden der Bewegungsökologie und dem Fokus auf Modellierung.

Jeltsch: Ein wichtiges Pfund in der Nachwuchsförderung ist auch die Potsdam Graduate School (PoGS), die seit vielen Jahren Promovierende aller Fächer unterstützt und wesentlichen Anteil am Erfolg von BioMove hat. Darauf können wir aufbauen.

Zurell: Die PoGS bietet wichtige individuelle Programme rund um Forschung und Lehre, aber auch darüber hinaus, wie etwa Mentoring oder Karriereberatung. Und das beginnt auch nicht erst mit der Promotionsphase. Tatsächlich profitieren schon etliche unserer Masterstudierenden sehr von diesen Programmen.

Wie sollen die Forschungsergebnisse in die Gesellschaft getragen werden?

Jeltsch: Der Biodiversitätswandel interessiert viele Menschen, auch solche, die nicht in der Wissenschaft aktiv sind. Insofern trifft unsere Forschung ganz sicher auf offene Ohren! Zum Glück gibt es in Berlin-Brandenburg etablierte Schaufenster dafür, etwa die Naturkundemuseen in Berlin und Potsdam oder die Botanischen Gärten, mit denen wir unsere Zusammenarbeit noch weiter verstärken wollen. Außerdem gibt es Überlegungen, gemeinsam mit der Biosphäre Potsdam unsere Themen stärker in die Öffentlichkeit zu bringen.

Zurell: Gemeinsam mit Kolleginnen aus der digitalen Bildungsforschung wie Katharina Scheiter und Ulrike Lucke arbeiten wir zudem daran, nicht nur unsere Ergebnisse, sondern auch die Forschung selbst erlebbar zu machen – beispielsweise mit multimedialen Anwendungen, Apps oder Spielen. Auf diesem Weg können wir etwa ökologische Modelle, die Was-wäre-wenn-Szenarien testen, erlebbar machen und visualisieren. Die Digitalisierung bietet also nicht nur für unsere Forschung, sondern auch für deren Vermittlung ganz neue Möglichkeiten. Wir können den Menschen zeigen, wie sich unsere Umwelt im Zuge des Klimawandels verändert. Was passiert, wenn wir diese oder jene Maßnahmen umsetzen? Wie kann man Arten unterstützen? Wie sieht wirkungsvoller Naturschutz aus? Wir haben damit bei Veranstaltungen wie dem Potsdamer Tag der Wissenschaften bereits erste Erfahrungen gesammelt – und wollen das ausbauen. Außerdem dient unser Masterstudiengang dazu, die Ergebnisse unserer Forschung auf kürzestem Weg in die Ausbildung des akademischen Nachwuchses zu integrieren, was einen sehr wirkungsvollen Wissenstransfer bedeutet.

Jeltsch: Zu guter Letzt fließen unserer Erkenntnisse im Idealfall auch in politische Entscheidungsprozesse ein. Politikberatung auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertise ist ein immer wichtiger werdendes Feld, das hat die Corona-Pandemie gezeigt. Und Formate wie die UN-Artenschutzkonferenz COP 15, die im Dezember 2022 in Montreal stattfand, sind wichtige Plattformen dafür. Ein Exzellenzcluster würde dafür natürlich die ideale Ausgangsposition bieten.

Weitere Informationen:
https://www.uni-potsdam.de/de/individuen-basierte-oekologie/

Die Forschenden

Prof. Dr. Florian Jeltsch studierte Physik und Theoretische Ökologie in Marburg und ist seit 2000 Professor für Vegetationsökologie und Naturschutz an der Universität Potsdam.
E-Mail: florian.jeltschuni-potsdamde

Prof. Dr. Damaris Zurell studierte Geoökologie an der Universität Potsdam. Nach Stationen in Zürich und Berlin ist sie seit 2020 Professorin für Ökologie/Makroökologie an der Universität Potsdam.
E-Mail: damaris.zurelluni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2023 „Exzellenz (PDF).