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Immer in Bewegung – Die Juristin Susanne Hähnchen möchte den Menschen das Recht und seine Geschichte näherbringen und blickt dabei über den Tellerrand der Universität

Prof. Dr. Susanne Hähnchen
Mohamad Soliman
Fabienne Paasch
Photo : Kevin Ryl
Prof. Dr. Susanne Hähnchen ist seit Oktober 2020 Professorin für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte an der Universität Potsdam.
Photo : Kevin Ryl
Mohamad Soliman arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Potsdam.
Photo : Kevin Ryl
Auch Fabienne Paasch arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte.

Schon seit ihrem Studium ist Susanne Hähnchen fasziniert von der Rechtsgeschichte – nicht nur, weil sie sich für die Rechtsordnungen der Antike, des Mittelalters oder des vergangenen Jahrhunderts interessiert, sondern auch, weil sich damit in gewisser Weise in die Zukunft schauen lässt. Wie entsteht Recht und wie entwickelt es sich? Welche Bedeutung hatten und haben Juristinnen und Juristen in einer Gesellschaft? Wie können Hochschulen künftig gute Fachkräfte ausbilden? Diese Fragen beschäftigen die Wissenschaftlerin, die seit 2020 Professorin für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Potsdam ist. Für Susanne Hähnchen stehen die Menschen im Mittelpunkt: in der Ausbildung junger Juristinnen und Juristen ebenso wie in der Forschung oder auch in der Beratung von Menschen mit rechtlichen Problemen. Von der Universität Bielefeld, wo sie zuvor Professorin war, hat sie einige Projekte mitgebracht. Und die bringen frischen Wind in das oftmals verstaubt anmutende Fach.

Nach Potsdam gekommen ist Susanne Hähnchen auch, weil sie nicht mehr nach Ostwestfalen pendeln wollte. Die in Ost-Berlin geborene Rechtswissenschaftlerin lebt seit langem im Nordosten Brandenburgs. Gleichzeitig bietet die brandenburgische Landeshauptstadt ihr die Chance, sich mit anderen Kapiteln der Vergangenheit zu befassen. „Potsdam ist ein historisch reicher Ort, ob es um die preußische Rechtsgeschichte oder die der DDR geht.“ Schließlich liegt ihr Büro in einem Gebäude, das im Nationalsozialismus errichtet wurde und in dem später die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften beheimatet war. „Ich bin in der DDR geboren. Weil die Nähe so groß war, habe ich lange gezögert, mich mit ihrer Rechtsordnung auseinanderzusetzen. Aber je länger ich hier bin, desto mehr interessiert sie mich. Und ich stelle fest, dass es den Studierenden auch so geht.“

Rechtskunde als Lebensvorbereitung

Die Lehrveranstaltungen im Grundlagenschwerpunkt der Rechtsgeschichte von Susanne Hähnchen sind sowieso gut besucht. Die Professorin glaubt, dass die Studierenden das geltende Recht besser verstehen lernen, wenn sie dessen Entstehung und Hintergründe kennen. „Zu allen Zeiten hat es ähnliche Probleme gegeben, aber sie wurden bzw. werden unter Umständen anders gelöst“, erklärt Hähnchen. Recht und Herrschaft sind aus ihrer Sicht eng verknüpft. „Es steht im Gesetz, also ist es so: Diese Ansicht ist weit verbreitet. Dabei ist Recht nichts Gottgegebenes, an dem man nichts ändern könnte, sondern es ist immer in Bewegung.“

Susanne Hähnchen hat an der Freien Universität Berlin promoviert und sich habilitiert, seit 2010 war sie Professorin in Bielefeld. Dort hat sie mit Studierenden eine Rechtsberatung gegründet, die bis heute besteht. Später kam die Caritas auf sie zu, um mit ihrer Unterstützung ein weiteres Angebot für psychisch und sozial bedürftige Menschen einzurichten. „Ich liebe es zwar, tiefe Verstrickungen juristischer Art zu durchdenken, aber man sollte auch den Kontakt zum Alltag nicht verlieren“, sagt sie. Deswegen schrieb sie auch gemeinsam mit Kollegen ein Rechtslexikon für die Bundeszentrale für politische Bildung: „Das würden viele gar nicht machen, weil es nicht die hehre Wissenschaft ist. Die Vermittlung des Rechts ist aber wichtig, das habe ich von meinem Doktorvater Uwe Wesel gelernt.“

„Recht kinderleicht“ und „Rechtskunde-Online“ sind zwei weitere Projekte, die aus diesem Anspruch entstanden sind. Warum sind Graffitis Sachbeschädigungen? Haben Tiere Rechte? Und ist geschenkt wirklich geschenkt und wiederholen gestohlen? Solche Fragen beantworten die Rechtswissenschaftlerin und ihr Team Kindern online in einfacher Sprache. „Mich interessieren die Kinderfragen: Wieso, weshalb, warum?“, erklärt die Juristin. Bei „Rechtskunde-Online“ finden Lehrkräfte und Lernende Unterrichtsmaterialien – zum Beispiel zum Bundesgerichtshof, zur Sterbehilfe oder zum Jugendstrafrecht. „In den meisten Bundesländern ist Rechtskunde inzwischen ein Abiturfach, aber es gibt kaum Lehrmaterial dafür“, sagt Mohamad Soliman, der zusammen mit Fabienne Paasch als wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur arbeitet. Deswegen möchten Susanne Hähnchen und ihr Team die Rechtskunde auch in die Lehrkräfteausbildung integrieren und dafür künftig mit dem Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung an der Uni Potsdam zusammenarbeiten. „Ich denke, es handelt sich um ein Fach, das in Grundzügen jedem vermittelt werden sollte“, sagt Susanne Hähnchen. „Früher oder später begegnen ihm alle: ob es um den Untermietvertrag, eine Scheidung oder ein Testament geht. Es gehört in die Schule als Lebensvorbereitung.“ Dort kann es auch Schülerinnen und Schülern eine klarere Vorstellung vom Studienfach vermitteln, bevor sie sich dafür einschreiben. „Wir haben eine schrecklich hohe Abbruchquote“, sagt die Professorin. „Das beschäftigt mich sehr. Viele fangen mit idealistischen Erwartungen an und brechen dann ab, weil sie sich im Studium nicht erfüllen. Andere quälen sich durch und hassen, was sie tun. Wir hätten insgesamt weniger verschwendete Ressourcen, wenn wir jungen Menschen vorher ein klareres Bild vermitteln, was auf sie zukommt.“ Den Bachelor of Laws, den es inzwischen gibt, hält Hähnchen deswegen für sehr sinnvoll. „Es hieß immer, für Juristinnen und Juristen mit diesem Abschluss gebe es keinen Arbeitsmarkt. Doch in der öffentlichen Verwaltung, bei Versicherungen und zunehmend auch in Kanzleien gibt es durchaus Interesse.“

„Jeder braucht mal eine Rechtsberatung“

Für Susanne Hähnchen ist Jura ein anwendungsbezogenes Fach – daher liegt es ihr am Herzen, dass die Studierenden noch vor dem Referendariat praktische Erfahrungen sammeln. Auch deswegen hat sie zum Sommersemester 2022 „Legal-UP“ an der Universität Potsdam gegründet. „Jeder braucht einmal eine Rechtsberatung“, sagt Mitarbeiterin Fabienne Paasch. „Gerade Studierende können sie sich aber oft nicht leisten. Bei uns ist sie kostenlos.“ An Fällen mangelt es dem Team der studentischen Rechtsberatung nicht: Innerhalb eines halben Jahres haben sie bereits 150 Anfragen erhalten. „Die meisten suchen Rat bei familienrechtlichen Problemen“, berichtet Mohamad Soliman. Wer hat das Sorgerecht für ein Kind und wie sieht es mit dem Unterhalt aus? An zweiter Stelle stehen Verträge, etwa mit der Vermieterin oder einem Fitnessstudio. Auch Nachbarschaftsstreitigkeiten sind häufig: Was ist beispielsweise zu tun, wenn das Laub vom Baum auf dem Grundstück nebenan bei mir landet? „Vor kurzem hatten wir außerdem einen spannenden Fall zu einer Amazon-Dokumentation über den Rapper Bushido, bei der sich ein Kellner an uns gewendet hat, der im Film zu sehen war, ohne eine Gage erhalten oder seine Zustimmung gegeben zu haben.“

Nicht nur Studierende und Beschäftigte, auch Menschen außerhalb der Hochschule suchen die Beratungsstelle auf. „Das Angebot muss sich herumgesprochen haben“, sagt Fabienne Paasch. Und das ist auch gewollt. „Zwar sind die Hochschulangehörigen unsere primäre Zielgruppe, aber wir würden gern in die Stadtgesellschaft hineinwirken“, sagt Hähnchen. „Gleichzeitig ist dieser Service ein wichtiger Aspekt für die juristische Ausbildung.“ Die Studierenden erhalten die Möglichkeit, die Rechtsberatung als Schlüsselqualifikation in ihrem Jurastudium durchzuführen. Paasch und Soliman geben hierzu eine Einführungsveranstaltung. Die Teilnehmenden finden sich dort in Zweier-Teams zusammen und erhalten einen ausgewählten Fall. Bei einem ersten Termin lassen sie sich das Problem von den Betroffenen erklären. Anschließend erarbeiten sie die Lösung und legen sie einer Anwältin oder einem Anwalt vor. „Derzeit begleiten neun Anwälte die Studierenden und garantieren, dass etwas Gutes dabei herauskommt“, sagt Paasch. Beim zweiten Termin präsentieren sie den Betroffenen die Lösung. „Nicht immer ist sie ideal“, berichtet Susanne Hähnchen. Doch auch das ist eine wichtige Erfahrung. „Eine große Kunst, die im Studium zu kurz kommt, ist es, einem Klienten ein unangenehmes Ergebnis zu präsentieren.“

„Digitalisierung ist gelebte Rechtsgeschichte“

„Das gesamte System beruht auf der ehrenamtlichen Tätigkeit von Anwältinnen und Anwälten“, sagt Soliman. „Sonst könnten wir das gar nicht leisten.“ Um diese zu gewinnen, haben sie nicht nur bestehende Kontakte genutzt, sondern auch Kanzleien angeschrieben, erzählt Paasch. 20 Studierende sind bereits an Bord, die dauerhaft ehrenamtlich arbeiten wollen. „Viele erzählen, dass sie Kraft tanken, wenn sie Menschen helfen“, sagt Soliman. „Denn das Studium ist nicht ohne. Hier sieht man endlich Gesichter.“ Häufig entwickeln sie Mitgefühl und wollen unbedingt weiterhelfen, selbst wenn es nicht mehr gehe. Wie bei dem Mandanten, der seit Langem unter einem Behandlungsfehler litt und dem die Studierenden sagen mussten, dass er damit leider 20 Jahre zu spät in die Rechtsberatung kam. „In abstrakten Fällen geben sie nur ein Gutachten ab, doch hier müssen sie auf Gefühlslagen eingehen“, erklärt Paasch. Außerdem lernen die Studierenden, einen Sachverhalt zu ermitteln und diesen den Mandantinnen und Mandanten zu erklären. „Schließlich haben sie es mit normalen Menschen zu tun. Die Mehrzahl der Juristinnen und Juristen wird auf die Menschheit losgelassen und hat es nicht gelernt, sich verständlich auszudrücken“, sagt Professorin Susanne Hähnchen. „Ich möchte mehr Flexibilität in die Köpfe kriegen und die Studierenden dazu bringen, nicht nur Regel und Anwendung zu lernen, sondern über das eigene Tun nachzudenken. Darüber, was das Recht für die Menschen bedeutet.“

Soliman und Paasch stellen für jeden Fall eine elektronische Akte zusammen. „Wir wollen alles digital begleiten können“, sagt Paasch. Das sei in der juristischen Praxis noch längst keine Selbstverständlichkeit. Die Digitalisierung ist dem Team überhaupt ein großes Anliegen. „Wir Juristinnen und Juristen sind nicht technikaffin und auch sonst sehr konservativ“, sagt Hähnchen und lacht. Schon 2007 hatte sie ein Buch zur Digitalisierung des Rechts veröffentlicht, das damals noch auf geringes Interesse stieß. „Die Digitalisierung ist für mich gelebte Rechtsgeschichte: Wir werden sie nicht verhindern können.“ Immer wieder stellt sie sich die Frage, inwieweit sich die juristische Arbeit digitalisieren lässt. Ein Baustein dafür sei Legal Technology – also rechtliche Dienstleistungen, die online in Anspruch genommen werden können. So hat sich das Team vorgenommen, Fälle aus der Rechtsberatung für eine Legal-Tech-Anwendung aufzubereiten. „Bei Standardfällen, zum Beispiel zur Rückforderung von Beiträgen im Fitnessstudio, könnten Menschen selbst alle Informationen in eine Webseiten-Maske eintragen und über ein automatisiertes Verfahren erste Hilfe erhalten“, erläutert Soliman. Ein Projekt, für das sich Susanne Hähnchen eine dauerhafte Unterstützung wünscht. Schließlich weiß die Expertin für Rechtsgeschichte, wie wichtig es ist, das Recht in die Zukunft zu führen – und es so zu gestalten, dass es den Menschen dient.

Die Forscherin

Prof. Dr. Susanne Hähnchen studierte Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit Oktober 2020 ist sie Professorin für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte an der Universität Potsdam.
E-Mail: ls-haehnchenuni-potsdamde

Die Projekte

www.recht-kinderleicht.de
www.rechtskunde-online.de
www.legal-up.de

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).