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„Es wird oft vergessen, dass auch ständig neue Sprachen entstehen!“ – Warum das Verschwinden von Sprachen ein Verlust ist und dennoch kein Grund für Trübsal besteht

Prof. Dr. Harald Clahsen
Photo : Sandra Scholz
Prof. Dr. Harald Clahsen

Wer auf Reisen geht, ist froh, fast überall auf der Welt auf Englisch kommunizieren zu können. Eine gemeinsame Sprache baut Barrieren ab, macht Verständigung möglich. Ist es also gut, wenn immer mehr Menschen immer weniger Sprachen sprechen? Sind wir auf dem Weg zu einer globalen Lingua franca? Oder brauchen wir mehr als eine? Matthias Zimmermann hat den Linguisten Prof. Harald Clahsen gefragt – und mehr als eine Antwort bekommen.

Gibt es ein Artensterben unter den Sprachen?

Auf jeden Fall. Schätzungen gehen davon aus, dass in den vergangenen 500 Jahren die Hälfte der Sprachen der Welt verschwunden ist. Aktuell gibt es noch ungefähr 6.800. Von diesen wiederum ist die Hälfte in Gefahr, bis Ende des Jahrhunderts „auszusterben“. Eine – zugegeben radikale – Prognose sagt, dass auf lange Sicht nur 600 Sprachen bleiben.

Sterben bestimmte Sprachen eher als andere, etwa besonders komplizierte?

Nein. Eine Sprache lebt mit den Kindern, die sie erlernen und als Muttersprache sprechen. Und für Kinder gibt es keine einfachen oder komplizierten Sprachen. Erwachsenen mag es besonders schwerfallen, etwa Chinesisch zu lernen. Kinder haben damit keine Probleme. Entscheidend für das Überleben einer Sprache ist, dass Kinder da sind, die sie lernen können. Und für ihr Ausbleiben kann es viele Gründe geben, die nichts mit der Sprache selbst zu tun haben. Bei Kindern, die bilingual aufwachsen, kommt es häufig vor, dass die kulturell dominante Sprache die andere im Laufe der Zeit verdrängt. So gab es früher in Schottland Gälisch und Englisch nebeneinander, aber durch die Dominanz des Englischen stirbt das Gälische einen allmählichen Tod. Außerdem gibt es natürlich auch politische Gründe für den Niedergang einer Sprache. Das sieht man derzeit in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine, wo es verpönt oder gar verboten ist, Ukrainisch zu sprechen.

Welche Folgen hat das für die anderen Sprachen?

Wenn einzelne Sprachen dominant sind, entfallen natürlich die Einflüsse der anderen. Kontaktsituationen gibt es nur, wenn Sprachen sich auf „Augenhöhe“ begegnen.

Ist das ein natürlicher Prozess, den Sie schlicht zur Kenntnis nehmen und wissenschaftlich begleiten, oder bedauern Sie einen Verlust sprachlicher Vielfalt?

Ja, es handelt sich um eine Art natürlichen Prozess. Aber aus linguistischer Sicht bedeutet das Verschwinden von Sprachen fraglos einen Verlust von Vielfalt. Etliche von ihnen haben nicht nur eigene Wörter, sondern auch eine individuelle Grammatik, die oft für immer verloren geht. Es gibt gute Gründe Sprachen zu schützen, denn mit ihnen verschwindet häufig eine einzigartige Kultur. Bei manchen Sprachen kann man sogar den genauen Zeitpunkt ihres Verschwindens benennen. So gibt es in Cornwall an einem Wohnhaus eine Tafel, auf der steht: Hier wohnte der letzte Sprecher des Cornish.

Umgekehrt ist die Geburt einer Sprache schwerer zu benennen. Denn es wird oft vergessen, dass auch ständig neue Sprachen entstehen! Beispielsweise sind aus dem Vulgärlatein, das in den römisch besetzten Gebieten gesprochen wurde, die verschiedenen romanischen Sprachen entstanden. Das lässt sich freilich oft erst retrospektiv feststellen. So hat man die Variante des Lateinischen, die in der Nähe des heutigen Lissabon gesprochen wurde, irgendwann Portugiesisch genannt. Ähnlich verlief es mit den Kreolsprachen, die in der Kolonialzeit an vielen Orten auf der Welt entstanden sind. Das gibt es auch heute noch, denn jeder Sprachkontakt lässt neue Varianten entstehen. In Deutschland etwa in Form des Kiezdeutsch, das sich in Berlin entwickelt hat, denn die Unterschiede zwischen Dialekt und individueller Sprache sind fließend … Die Frage, ob mehr Sprachen sterben oder entstehen, kann ich nicht beantworten.

Wie geht die Forschung mit dem Aussterben von Sprachen um?

Die Wissenschaft versucht, diese Sprachen zu dokumentieren, ihre Eigenheiten zu erfassen, solange es noch geht. Ein Beispiel: In Papua-Neuguinea entstand in einer damaligen deutschen Kolonie Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Form des Deutschen. Dort gab es auf einer Insel in einer abgelegenen Gegend eine Missionsschule, die sich um Waisenkinder kümmerte und nur wenig Kontakt zur Außenwelt hatte. Da die Kinder unterschiedliche Muttersprachen hatten, wurde das Deutsche zu ihrem gemeinsamen Verständigungsmittel. Unter ihnen entwickelte sich eine Variante des Deutschen – mit eigener Lexik und Grammatik, das sogenannte Unserdeutsch. Diese Gruppe, die inzwischen Kinder hatte, die mit dieser Kreolsprache aufgewachsen war, siedelte nach dem Ende der Kolonialzeit nach Nordostaustralien über. Dort haben Forschende der Uni Augsburg nun die letzten Sprechenden ausfindig gemacht und ihre Sprache dokumentiert, ehe sie wieder verschwindet.

Warum?

Um das Wissen zu erhalten, das sie repräsentiert, ihre Besonderheiten. Die Arbeit ist nicht unähnlich der von Biologen, die aussterbende Tier- und Pflanzenarten dokumentieren.

Ein Ausblick: Bleibt am Ende nur eine Weltsprache?

Das wäre ein großer Verlust an Vielfalt. Sprache hat immer auch mit Kultur und Identität zu tun. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass Sprachen nicht nur aussterben, sondern auch neu entstehen. Da wir Kultur über Sprache transportieren, wird es meines Erachtens immer mehr als eine geben. Denn Menschen wollen sich von anderen unterscheiden.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2022 „Artensterben“ (PDF).