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Sprachlich unsichtbar – Über Geschlechtervielfalt in der Sprache des Rechts

Das Foto zeigt sechs Würfel, auf denen Buchstaben zu sehen sind, die zusammen das Wort Gender ergeben. Das Foto ist von AdobeStock/chrupka.
Das Foto zeigt Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf und Dr. iur. Annelie Bauer. Das Foto ist von Finn Winkler und privat.
Photo : AdobeStock/chrupka
Wie geschlechtersensibel ist die Sprache im Recht?
Photo : Finn Winkler/ privat
Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf (links) und Dr. iur. Annelie Bauer (rechts)

Das Grundgesetz verspricht nicht nur die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, sondern auch, dass der Staat „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ fördert und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“ hinwirkt. Die meisten Gesetze oder Verordnungen verwenden jedoch nur die männliche Form, die Geschlechtervielfalt ist sprachlich nicht abgebildet. Warum das generische Maskulinum im Recht problematisch ist, darüber sprach Dr. Jana Scholz mit Frauke Brosius-Gersdorf, Professorin für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht, und Dr. Annelie Bauer, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur.

Wie sichtbar sind Frauen in der Sprache des Rechts?

Brosius-Gersdorf: Das ist sehr unterschiedlich. In Gesetzen, Verordnungen und anderen Rechtsvorschriften dominiert immer noch das generische Maskulinum. Das gilt auch für das Grundgesetz, das zum Beispiel von dem Bundeskanzler und dem Präsidenten des Bundestags spricht, obwohl Deutschland in den letzten 16 Jahren von einer Bundeskanzlerin regiert wurde und die amtierende Bundestagspräsidentin eine Frau ist. Durch die Verwendung des generischen Maskulinums im Recht sind Frauen weniger „sichtbar“ als Männer. Das Gleiche gilt für Menschen, die sich keiner der beiden Gruppen eindeutig zuordnen können.
In anderen Rechtstexten finden sich aber auch schon Paarformen. Zum Beispiel heißt es in der Präambel der Verfassung Brandenburgs: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg ...“, auch wenn dort ansonsten weiterhin das generische Maskulinum zu finden ist. Als positives Beispiel für die Verwendung geschlechtergerechter Sprache wird oft die Niedersächsische Verfassung genannt, bei der zumindest deutlich das Bemühen erkennbar ist, durchgehend geschlechtergerechte Formulierungen zu verwenden.
Ganz vereinzelt gibt es das generische Femininum im deutschen Recht wie im Gesetz über die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das ist allerdings aus unserer Sicht auch nicht die richtige Lösung.

Warum genau ist das generische Maskulinum problematisch, wenn damit doch auch Frauen und diversgeschlechtliche Personen gemeint sein sollen?

Bauer: Gemeint sind mit dem generischen Maskulinum in der Tat Frauen ebenso wie Männer und wohl auch diversgeschlechtliche Personen. Auch bei der Verwendung des generischen Maskulinums im Recht lassen sich die Personenbezeichnungen regelmäßig so auslegen, dass nicht nur Männer gemeint sind. Genau hier liegt aber das Problem, denn Frauen sind eben nur mitgemeint, obwohl es doch viele Möglichkeiten gibt, ihnen als eigenem Geschlecht auch sprachlich angemessen zu begegnen. Weshalb sollten sich Frauen durch die Bezeichnung „Lehrer“ mitangesprochen fühlen, wenn man auch „Lehrerinnen und Lehrer“ oder „Lehrkräfte“ sagen und schreiben kann? Es gibt zahlreiche psycholinguistische und kognitionspsychologische Studien, die zeigen, dass das generische Maskulinum zu einer gedanklichen Unterrepräsentation von Frauen führt. Es wird also primär an Männer gedacht, was zum Beispiel dazu führen kann, dass sich Frauen auf Stellenanzeigen, in denen ein „Ingenieur“ gesucht wird, nicht bewerben. Oder dass sie bei der Besetzung eines Gremiums nicht benannt werden. Geschlechtergerechte Sprache kann nach einer Vielzahl von Studienergebnissen zu einer höheren mentalen Repräsentation von Frauen führen.

Wie steht das Recht zur Diversität im Sprachgebrauch?

Brosius-Gersdorf: Zum Teil gibt es gesetzliche Vorgaben zur Verwendung geschlechtsneutraler Personenbezeichnungen, die damit auch geschlechtlicher Diversität gerecht werden. Nach dem Landesgleichstellungsgesetz Brandenburgs gilt zum Beispiel, dass in Vordrucken, wenn möglich, geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen zu verwenden sind.
Problematisch ist aber, dass Gesetze zu geschlechtergerechter Sprache oft noch einem binären Geschlechterschema verhaftet sind. Sie wenden sich nicht auch Menschen zu, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Seit einer grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 steht aber fest, dass auch für solche Menschen aus ihrem Persönlichkeitsrecht das Recht folgt, in ihrer geschlechtlichen Identität ernstgenommen und vor Diskriminierung geschützt zu werden. Wie das Recht und die Rechtssprache dem gerecht werden kann, ist aber noch nicht geklärt. Hier besteht noch einiger Forschungsbedarf.

Sternchen und andere Zeichen, die innerhalb von Wörtern auf verschiedene Geschlechtsidentitäten hinweisen – wie eindeutig und sachlich korrekt sind sie? Vor welche Herausforderungen stellen sie die juristische Praxis?

Bauer: Man muss klar sagen, dass die Bedeutung solcher kreativer Zeichen nicht immer eindeutig und für viele auch gewöhnungsbedürftig ist. Zwar dürfte klar sein, dass damit auch Menschen einbezogen und angesprochen werden sollen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Schwierig wird es aber, wenn man diese Zeichen mittels Konjunktionen zu „übersetzen“ versucht, weil sich dann im Einzelfall die Frage stellen kann, ob Frauen und Männer und diversgeschlechtliche Personen gemeint sind oder die richtige Konjunktion hier ein oder wäre. Gerade bei Personenbezeichnungen im Singular muss außerdem der Artikel gegendert werden. Es gibt aber bislang weder einen eigenen Artikel noch ein eigenes Pronomen für diversgeschlechtliche Menschen in der deutschen Sprache, die konsentiert sind.
Juristisch problematisch ist das insbesondere vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gebotes der Normenklarheit und -verständlichkeit, bei dem es auch um die Bestimmtheit von Rechtsnormen geht. Auch hier gibt es noch viel zu erforschen, um das Spannungsverhältnis zwischen gegenläufigen Verfassungsvorgaben, also zwischen der angemessenen Repräsentation von Frauen und diversgeschlechtlichen Personen in der Sprache und der Normenklarheit und -bestimmtheit sachgerecht aufzulösen.

Wie kann gesellschaftliche Vielfalt in der Sprache abgebildet werden, etwa auch im Hinblick auf soziale, ethnische oder körperliche Diversität? Muss sie das überhaupt?

Brosius-Gersdorf: Da die Sprache Kommunikationsmittel nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des Staates ist, ist der Staat auch hier grundrechtsgebunden. Das bedeutet unseres Erachtens, dass der Staat immer dann, wenn er die Wahl zwischen verschiedenen Ausdrucksformen hat, verpflichtet ist, eine Ausdrucksweise zu wählen, die den Grundrechten der Frauen und diversgeschlechtlichen Personen und der Verfassung im Übrigen gerecht wird. Allerdings gibt die Verfassung nicht einen ganz bestimmten Sprachgebrauch vor (z. B. Genderstern oder Ähnliches).

Was meinen Sie, wie sich die deutsche Sprache entwickeln wird – wird es gelingen, alle marginalisierten Gruppen sprachlich zu berücksichtigen?

Bauer: Das ist spekulativ, weil wie gesagt vieles noch ungeklärt und im Fluss ist. Es gibt immer wieder interessante neue Vorschläge und Entwicklungen. Ziel des Staates sollte es aber sein, alle Menschen wertschätzend „anzusprechen“, oft gelingt das auch schon. Gleichzeitig sollte Sprache aber praktikabel und verständlich bleiben und grundsätzlich auch ungezwungen, insbesondere wenn es nicht um die Sprache des Staates, sondern in der Gesellschaft geht.

In der Kritik ist oft von „Sprachpolizei“ die Rede. Wie weit dürfen Forderungen nach diversitätssensibler Sprache gehen?

Brosius-Gersdorf: Diese Kritik ist sicherlich überzogen und wird von manchen auch als Vorwand genutzt, sich dem Thema nicht stellen und weiterentwickeln zu müssen. Richtig ist aber, dass man differenzieren muss, in welchem Bereich und Kontext Vorgaben zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache gemacht werden sollten. Für den Gesetzgeber, die Verwaltung und die Gerichte, aber auch Schulen und Hochschulen sind Vorgaben sicher eher zu rechtfertigen als für den Privatbereich. Es gilt in jedem Bereich, die betroffenen Grundrechte in den Blick zu nehmen und sorgsam abzuwägen.

Inwiefern haben Sie sich als Rechtswissenschaftlerinnen mit der diversitätssensiblen Sprache beschäftigt?

Brosius-Gersdorf: Wir haben von 2017 bis 2020 gemeinsam an dem interdisziplinären Drittmittelprojekt „Geschlechtergerechte Sprache in Theorie und Praxis. Studie zur aktuellen Situation aus linguistischer, phoniatrisch-psycholinguistischer und juristischer Perspektive“ mitgearbeitet. Das Projekt, an dem auch Kolleginnen und Kollegen aus der Linguistik und der Medizin beteiligt waren, wurde vom Land Niedersachsen und der VolkswagenStiftung gefördert. Aus dem Projekt und der intensiven Beschäftigung mit dem Thema ist Frau Dr. Bauers Dissertation „Rechtliche Maßgaben für geschlechtergerechte Sprache. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des Landes Niedersachsen“ hervorgegangen.
Im Sommersemester 2022 veranstalten wir an der Uni Potsdam ein Seminar zum Thema „Frauen im Recht“, in dem es auch um das Thema geschlechtergerechte Sprache gehen wird. Die Studierenden sind an diesem Thema sehr interessiert.
Nicht zuletzt sind wir gerade intensiv mit der Herausgabe eines Kommentares zum Grundgesetz beschäftigt, bei dem die Frage nach dem Ob und Wie geschlechtergerechter Formulierungen virulent ist und auch im Vorfeld bei den Autorinnen und Autoren schon zu Diskussionen geführt hat. Es ist spannend zu beobachten, wie individuell unterschiedlich auch innerhalb der Rechtswissenschaft die Haltung und der Umgang mit geschlechtergerechter Sprache ist. Wichtig ist uns, dass sich jeder Mensch bewusstmacht, dass das Thema bedeutsam ist und man damit sensibel und angemessen umgehen sollte.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2022 „Diversity“ (PDF).