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Warum auch Weltpolitik Regeln braucht – Thomas Dörfler untersucht, wie internationale Institutionen funktionieren

Auf der Suche nach den ungeschriebenen Regeln der Weltpolitik: der Politikwissenschaftler Dr. Thomas Dörfler. Foto: Karla Fritze.
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Auf der Suche nach den ungeschriebenen Regeln der Weltpolitik: der Politikwissenschaftler Dr. Thomas Dörfler. Foto: Karla Fritze.

München, Leiden, New York, Tokio – Thomas Dörfler ist dort, wo sein Forschungsgegenstand ist: die Politik auf weltweitem Parkett. Als Politikwissenschaftler interessiert er sich für internationale Organisationen, wie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Frage, wie sie funktionieren. Wie gelingt das Ringen zwischen Welt- und anderen Mächten? Welche Strukturen entwickeln Organisationen, die zwischen Nationalstaaten vermitteln sollen? Besonders interessiert ihn, wie es kommt, dass Staaten, die im Rampenlicht auf der großen Bühne vehement auf ihrer Souveränität beharren und eigene Interessen vertreten, auf Arbeitsebene jedoch durchaus Kompromissen eingehen und bereit sind, sich an Regeln zu halten. Ein Beispiel, das Dörfler detailliert untersucht hat, sind die Sanktionsausschüsse des Sicherheitsrats. Ihren Mechanismen auf die Spur zu kommen, gleiche der Arbeit eines Detektives, sagt er. Und gerade das fasziniere ihn.

Aufgewachsen ist Thomas Dörfler in München, wo seit 1963 die Sicherheitskonferenz Jahr für Jahr ihre Pforten für die Weltpolitik öffnet. „Gewissermaßen hat mich die Sicherheitskonferenz von 2003 als Wissenschaftler politisch sozialisiert“, sagt er. „Der Irakkrieg zog herauf, Tausende gingen dagegen auf die Straße – und ich habe mich gewundert, dass ein so mächtiges Gremium wie der Sicherheitsrat es nicht schafft, ein Land wie die USA davon abzubringen, in den Irak einzumarschieren.“

Wenig später begann Dörfler sein Studium an der Universität Bamberg, deren Politikwissenschaft mit ihrem empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschungsansatz nicht nur seinen Interessen entsprach, sondern auch einen exzellenten Ruf genießt. „Schon nach zwei Wochen hielt ich mein erstes Referat über Verträge im internationalen Raum. Damit hatte ich mein Thema gefunden, das sich bis heute durchgezogen hat.“

Dass der Politikwissenschaftler seiner Leidenschaft folgte, zahlte sich aus. Er absolvierte das Bachelor- und das anschließende Master-Studium im niederländischen Leiden mit Bestnoten und Auszeichnung. „Ich wollte unbedingt im Ausland studieren, eine andere Perspektive kennenlernen. Die Zeit in Leiden war unglaublich intensiv und ich habe sehr viel gelernt.“ Mit in die Ferne nahm Thomas Dörfler sein Faible für die UN-Politik: In seiner Masterarbeit widmete er sich dem Design internationaler Institutionen, genauer der Landminenkonvention und dem UN-Programm zur Regulierung von Kleinwaffen. Welche Strukturen haben sie? Wie funktionieren sie? Und wie verändern sie sich im Laufe der Zeit?

Den eingeschlagenen Weg ging er konsequent weiter. „Mir war früh klar, dass ich promovieren wollte“, sagt Dörfler. Für seine Doktorarbeit wandte er sich einem tatsächlich großen Brocken zu: den Sanktionsausschüssen des Sicherheitsrats. Diese werden vom Rat immer dann eingesetzt, wenn sich seine Mitglieder grundsätzlich auf Sanktionen einigen können. Irak, Sudan, Kongo oder Iran – sie alle waren schon Ziel. Aufgabe der Ausschüsse ist es dann, konkrete Maßnahmen gegenüber Staaten und Personen auf den Weg zu bringen. Es werden einzelne Güter mit Handelsembargos verhängt, Einreiseverbote für Personen ausgesprochen, Konten eingefroren.
Thomas Dörflers Untersuchung begann mit einer Beobachtung: Während im Sicherheitsrat meist unversöhnliche Machtpolitik betrieben wird, funktioniert die Arbeit der Sanktionsausschüsse nach geschriebenen und ungeschriebenen Regeln. Der Forscher wollte wissen, warum – und wie diese Mechanismen funktionieren.

„Sicherheitsrat und Sanktionsausschüsse funktionieren sehr verschieden. Im Sicherheitsrat, der grundsätzlich von den fünf Vetomächten dominiert wird, folgen und vertreten die Mitglieder ihren nationalen Interessen.“ Blockaden und verwässerte Kompromisse seien hier an der Tagesordnung. Das führe beispielsweise dazu, dass bestimmte Themen schlicht ausgespart werden, weil über sie ohnehin keine Einigung möglich ist. Daher wird etwa über Konflikte wie zwischen Israel und Palästina oder Indien und Pakistan, aber auch den Krieg in Syrien, wo einige Vetomächte eigene Ziele verfolgen, zumeist gar nicht erst gesprochen. Wird doch darüber verhandelt, werden Beschlüsse immer wieder blockiert – wie es im Fall von Syrien in den vergangenen Jahren immer wieder zu beobachten war. Ganz anders die Ausschüsse: „Wenn ein Sanktionsausschuss eingesetzt ist, findet plötzlich ein Wechsel von Großmacht- zu regelgeleiteter Politik statt“, sagt Thomas Dörfler. „Werden Sanktionen einmal grundsätzlich beschlossen, also mit den Individualinteressen der Staaten vereinbar, dann sind die meisten der Mitglieder auch bereit, Regeln und Entscheidungskriterien aufzustellen und sich an diese zu halten. Nur so lässt sich schließlich konkret etwas umsetzen“, so seine These.

Um ihr auf den Grund zu gehen, schaute sich der Forscher die Arbeit von mehreren Sanktionsausschüssen genauer an. Dazu zählten die zum Irak, dem Sudan, Kongo und dem Iran. Doch dies war leichter gesagt, als getan. Schließlich tagen die Ausschüsse nicht öffentlich. Schon allein, damit jene, die von Sanktionen bedroht sind, nicht vorab davon erfahren. An dieser Stelle wurde der Politikwissenschaftler zum Detektiv, wie er selbst zufrieden sagt: „Ich habe mich auf die aufwendige Suche nach Originalquellen gemacht, die es durchaus gibt. So konnte ich 6.000 Seiten Sitzungsprotokolle des Irak-Sanktionsausschusses einsehen.“ Auch bei den berüchtigten Wiki-Leaks wurde Dörfler fündig. Auf der Plattform sind Hunderttausende Dokumente verfügbar, unter diesen auch solche, die Hinweise auf die Arbeit der Ausschüsse geben und diese teilweise rekonstruierbar machen. Zudem führte der Forscher über 30 Interviews  mit Ausschussmitgliedern, -beschäftigten und Diplomaten. „Natürlich waren nicht alle bereit, Auskunft zu geben“, so Dörfler. „Andere Diplomaten sind durchaus an einem Austausch mit der Wissenschaft interessiert und erkennen auch an, dass public diplomacy Teil ihrer Aufgabe ist.“ Einen ganz persönlichen Eindruck von der Arbeit in den Sanktionsausschüssen machte er sich schließlich bei einem Praktikum vor Ort: bei den Vereinten Nationen in New York in der Hauptabteilung Politische Angelegenheiten. „Eine wichtige Erfahrung. Ich konnte nicht nur mit Sekretärinnen und Sekretären direkt sprechen und sie auch zu ihrer Arbeit befragen, sondern mir sogar eine Sitzung des Sicherheitsrats persönlich anschauen.“

Viele der gefundenen Hinweise und gesammelten Informationen konnte Thomas Dörfler dann mithilfe von frei zugänglichen Pressearchiven wie Agence France Press, Associated Press oder der New York Times bestätigen oder präzisieren. „Das Ganze war eine gewaltige Puzzlearbeit: Immer wieder mussten Teile aus verschiedenen Quellen zusammengebracht, abgeglichen und trianguliert werden. Damit sich ein stimmiges Bild ergibt.“ Doch genau diese detektivische Detailarbeit hat es Thomas Dörfler angetan: „Die Recherche, so aufwendig sie ist, hat mir sehr viel Spaß gemacht. Im Archiv der Universität von Iowa habe ich mich drei Tage am Stück durch die 6.000 Seiten Sitzungsprotokolle gearbeitet. Es hätten auch vier Wochen sein dürfen.“

Dass für eine aussagekräftige Analyse der Sanktionsregimes nicht nur Ausdauer, Fleiß und Akribie, sondern auch Weitblick und Fokus nötig sind, hat Dörfler bewiesen. In seiner 2019 erschienenen Buchfassung der Dissertation braucht er keine 300 Seiten, um seine Argumente und Belege zu entfalten. „Tatsächlich konnte ich starke Indizien dafür zusammentragen, dass meine These stimmt“, sagt der Forscher. „Zugleich konnte ich auch zwei Ausnahmen identifizieren – und zeigen, welche Folgen diese haben.“ Als beispielsweise in der Anfangsphase des „Kriegs gegen den Terror“ von Al Quaida um die Jahrtausendwende die Mitglieder des Ausschusses nahezu alle vorgeschlagenen Sanktionen quasi durchwinkten, weigerten sich etliche Staaten, diese umzusetzen. „Die Ausschussmitglieder hatten die Mechanismen der gegenseitigen Kontrolle außer Kraft gesetzt und so die Legitimität des Gremiums untergraben.“ Ein zweites Beispiel war der Sanktionsausschuss gegen den Sudan, dessen Arbeit von China weitgehend blockiert wurde. Dörfler vermutet, dass die Vetomacht, die aufgrund eigener Interessen eigentlich keine Sanktionen gegen den Sudan befürwortet, der Einrichtung eines Sanktionsausschusses grundsätzlich zugestimmt hat, um das Thema aus dem Rampenlicht des Sicherheitsrats zu holen. Dort habe man die Sanktionsmaßnahmen dann weniger öffentlich verhindern können. „Die beiden Beispiele zusammen zeigen, dass es einen Interessenkonflikt zwischen den Ausschussmitgliedern braucht, damit sie sich gegenseitig kontrollieren und wirksame Regeln aushandeln“, so Dörfler. „Ist der Konflikt aber zu groß, greift wieder die Großmachtpolitik, die eine Zusammenarbeit verhindert.“

Den Vereinten Nationen blieb Thomas Dörfler auch nach seiner Promotion „treu“: Er ging 2016 mit einem Stipendium der Japan Society for the Promotion of Science an die United Nations University in Tokio. Dort arbeitete er unter anderem als wissenschaftlicher UN-Berater an einer Studie darüber, inwiefern sich Sanktionen zur Konfliktprävention eignen. Und abermals schätzte der Forscher den Blickwechsel, den die Reise auf die andere Seite der Welt mit sich brachte: „Es war interessant, die Weltpolitik aus einer japanischen Perspektive zu sehen. Einerseits spielt dort die Regionalpolitik eine viel größere Rolle, allen voran die Konflikte mit Nordkorea und China. Andererseits verfolgt man auch Europa ganz genau. 2016, als ich dort war, schaute ein ganzer Hörsaal voller Studierender gebannt auf ein Video über den europäischen Umgang mit der Flüchtlingskrise.“

Seit April 2019 ist Thomas Dörfler Stipendiat des PostDoc-Programms der Universität Potsdam und Mitarbeiter von Andrea Liese, Professorin für Internationale Organisationen und Politikfelder. „Ein Glücksfall für mich – mit dem Fokus auf internationale Politik und empirische Sozialforschung in der Fakultät ist Potsdam ideal für mich. Und das Postdoc-Programm bietet mir viele Freiheiten“, so der Forscher. „Durch die gute Vernetzung mit der Potsdam Graduate School und dem Netzwerk Studienqualität Brandenburg (sqb) kann ich mich außerdem darauf vorbereiten, die nächsten Karriereschritte zu machen.“ Wie schnell dieser Schritt kommen würde, konnte Dörfler, als er nach Potsdam kam, indes nicht ahnen. Denn seit Oktober vertritt er die Professur von Andrea Liese, die derzeit im Forschungssemester arbeitet. Er gibt vier Lehrveranstaltungen und betreut Abschlussarbeiten. „Eine echte Herausforderung, der ich mich aber gern stelle.“

Sein neues Forschungsprojekt soll trotzdem nicht zu kurz kommen, auch wenn es durch die Vertretungsprofessur ein wenig langsamer anläuft. Wohin die Reise geht, weiß Thomas Dörfler schon: Er wird sich treu bleiben und zugleich eine andere Perspektive wählen. Es soll wieder um internationale Institutionen und ihre Funktionsweise gehen. Konkret möchte er untersuchen, wie deren Entscheidungen beeinflusst werden durch ihre Strukturen zur Entscheidungsfindung. „Es zeigt sich, dass bestimmte Gremien mithilfe von Entscheidungsketten durch Analogien arbeiten.“ Sie schauen also bei jedem neuen Fall auf frühere Entscheidungen und wägen ab, wie sich diese zueinander verhalten. Eine Entscheidung, die von früheren abweicht, schafft damit eine neue, informelle Regel. Und wieder gilt Dörflers besonderes Interesse dem Umstand, dass Staaten, die sich auf großer internationaler Bühne gern souverän und ungebunden geben, in bestimmten Arbeitskreisen pragmatisch agieren. „Mich fasziniert, wie diese Regeln entstehen, und dass Staaten, die sich so ungern binden, kooperieren – weil es immer besser ist, Probleme gemeinsam zu lösen, als zu blockieren.“


Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Matthias Zimmermann
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde