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Humboldts Reise in die digitale Welt – Vom handgeschriebenen Tagebuch zur digitalen Edition und zurück auf bedrucktes Papier

Prof. Dr. Ottmar Ette (links) und Dr. Tobias Kraft. Foto: Karla Fritze.
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Prof. Dr. Ottmar Ette (links) und Dr. Tobias Kraft. Foto: Karla Fritze.

2019 jährt sich der Geburtstag Alexander von Humboldts zum 250. Mal. Anlass, auf das große Akademievorhaben der Edition seiner Reisetagebücher zu blicken. Der Potsdamer Romanist Ottmar Ette, wissenschaftlicher Leiter des Projekts, und Tobias Kraft, der die Arbeit koordiniert, sprechen über die neuen Perspektiven, die die Digitalisierung der Schriften in der Humboldt-Forschung eröffnen. Und sie erklären, warum am gedruckten Buch dennoch kein Weg vorbeiführt.

„Caribe. Drei Arten dieses fürchterlichen Geschlechts. Große Mittlere u. ganz kleine, etwa 4 Zoll lang. Diese Mittelgattung u. der kleine am grausamsten“, notierte Alexander von Humboldt im Jahr 1800 in sein Tagebuch. Mit Tinte ergänzte er ein Abbild des „Caribe Fisch“ genannten Piranha, nahm den Bleistift zu Hilfe, um dem Tier die spitzen Zähne einzusetzen. Ein bei Prestel erschienener Prachtband versammelt jetzt erstmals alle Zeichnungen und Skizzen, die der Forschungsreisende auf seiner großen Amerikaexpedition anfertigte. Die Romanisten Ottmar Ette und Julia Meier haben die im Originalformat abgebildeten Illustrationen nach Sachgebieten geordnet und kommentiert. Ein zeichnerischer Schatz, gedruckt auf edlem Papier, sorgfältig verstaut im schmückenden Schuber.

Warum aber ein Buch? Sämtliche Blätter der 2014 erworbenen Reisetagebücher Humboldts sind inzwischen digital erfasst und im weltweiten Netz frei zugänglich. Ottmar Ette erklärt die Motivation: „Es ist eine bibliophile Ausgabe für klassische Leser, die die Haptik des bedruckten Papiers lieben, die sich in die Seiten vertiefen und einer linearen Erzählweise folgen wollen.“ In der von Ette geleiteten Berliner edition humboldt erscheinen alle Schriften und Tagebücher der Reisen nach Südamerika und Sibirien nicht nur online, sondern auch gedruckt. Was das konzentrierte, ausdauernde Lesen betreffe, so sei das Buch der digitalen Rezeption überlegen, meint der Literaturwissenschaftler. Die digitale Version erfülle andere Bedürfnisse. Als frei zugängliche Forschungsplattform diene sie vor allem der Recherche und dem akademischen Austausch über Fächer- und Ländergrenzen hinweg.

Aufbruch in unkartiertes Gelände

2015 startete das auf 18 Jahre angelegte Vorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Als Pilotprojekt konnte das kubanische Tagebuch „Isle de Cube. Antilles en general“ veröffentlicht werden, auch dank der Biblioteka Jagiellońska in Krakau, wo sich ein Teil von Humboldts Nachlass befindet. Es ist ein erstes Beispiel digitaler Tagebuchedition, das erahnen lässt, welche Möglichkeiten in dieser Art der Publikation stecken. Wandert die Computermaus über unbekannte Pflanzennamen, Orte oder Maßeinheiten, erscheint neben dem Text eine Erklärung. Auch Humboldts Randvermerke, Berechnungen und aufgeklebte Notizzettel können angeklickt werden. Und für die wissenschaftliche Einordnung sorgt ein Forschungsdossier mit kommentierenden Beiträgen von Spezialisten. Für diese Pionierleistung gab es 2017 den Berliner Digital-Humanities-Preis. „Wir prämieren den Willen, die Vorbereitung und den Beginn einer Reise in die digitale Welt“, hieß es in der Laudatio des Berliner Philosophen Gerd Graßhoff. „Diese Reise führt aus den heimatlichen Gefilden der klassischen Edition zur hybriden digitalen Edition. Sie führt – um im Bild zu bleiben – über gefährliche Furten in teilweise unkartiertes Neuland.“

Wissenschaft für das digitale Zeitalter

Einer, der die Unwägbarkeiten der Terra incognita nicht scheut, ist Tobias Kraft. In Potsdam promovierte er am Lehrstuhl von Ottmar Ette über „Figuren des Wissens bei Alexander von Humboldt“. Heute leitet er die Arbeitsstelle der edition humboldt digital, die er selbst als „work in progress-Publikation“ bezeichnet. Im Halbjahresrhythmus werden neue Texte und Briefe veröffentlicht und Funktionen entwickelt, die die Bücher, die keine sind, lesbarer machen. „Wir arbeiten akkumulativ, so wird die Edition mit der Zeit immer größer, breiter und tiefer.“ Kraft und sein Team sehen sich damit in der Tradition Humboldts, dessen Journale keiner strengen Chronologie folgen, sondern ein Konvolut von Naturbeobachtungen, Skizzen, Messreihen von Experimenten, Berechnungen, wissenschaftlichen Essays und literarischen Betrachtungen bilden, die später neu sortiert und mit Randnotizen versehen wurden. „Die Schreibweise Humboldts ist relativ kurz“, sagt Tobias Kraft. Die „Textinseln“, die er miteinander verbunden hat, entsprächen der heutigen Datenstruktur und ließen sich genau so übernehmen. „Eine Wissenschaft für das digitale Zeitalter“, bestätigt Ottmar Ette. Die Komplexität und Vielschichtigkeit der Schriften ließen sich in der Online-Publikation gut abbilden. So könnten die Leser, je nach Bedürfnis, immer tiefer vordringen und neue Querverbindungen herstellen, was der Humboldtforschung völlig neue Perspektiven eröffne. Das vor allem repräsentiere das dynamische und vernetzte Denken Humboldts, der alles miteinander in Beziehung setzte. Ottmar Ette sieht, wie junge Forschende weltweit diesen Netzwerkgedanken aufgreifen und sich dem Wissenschaftler etwa aus dem Blickwinkel der Kunst, der Mathematik oder auch des Klimawandels zuwenden. Mit der Digitalisierung der Tagebücher habe die Humboldt-Forschung noch einmal einen Schub erhalten, sagt Ette und freut sich, dass nachkommende Generationen Humboldt nicht als „Wissenschaftler von gestern“, sondern in seiner globalen Sichtweise als einen Zeitgenossen wahrnehmen. Dazu trage sicher auch seine Vielsprachigkeit bei.

Die wiederum ist für die digitale Edition eine Herausforderung. Neben Deutsch, Französisch und Latein finden sich in Humboldts Manuskripten spanische, portugiesische, italienische, griechische und englische Eintragungen. Auch gibt es Notizen auf Chinesisch, Persisch und in verschiedenen amerikanischen Sprachen. „Ein komplexes System von Textsegmenten. Das wird lange dauern“, sagt Tobias Kraft, der hier ein Betätigungsfeld für Künstliche Intelligenz sieht. Jede Übersetzung falle qualitativ ab und könne sich immer nur dem Original annähern. Eine radikale Mehrsprachigkeit aber würde ein anderes Textverständnis produzieren. „Künstliche Intelligenz ist ein Versprechen. Damit öffnen wir weitere Türen.“

Open Science in Humboldtscher Tradition

Das Bild vom Haus, in das viele Türen hineinführen, nutzt Tobias Kraft immer dann, wenn es darum geht, Wissensbestände öffentlich und frei zugänglich zu machen. Der Open Science-Gedanke sei bei Humboldt schon stark ausgeprägt gewesen, sagt Kraft und erinnert an dessen überfüllte Vorlesungen in der Berliner Singakademie. Wissen sollte nicht in Archiven verschlossen, sondern für jeden verfügbar sein. „In dieser Humboldtschen Tradition fühlen wir uns sehr wohl“, erklären Ette und Kraft unisono. Weil sie mit der digitalen Edition nicht nur ein Fachpublikum erreichen wollen, ermöglichen sie Zugänge auf unterschiedlichem Niveau. Am einfachsten sei es, der Chronologie der Reisen zu folgen. „Wir können heute für fast jeden Tag rekonstruieren, wo Humboldt gewesen ist.“ In einem Seminar zu digitaler Informationsverarbeitung habe Jürgen Hermes, ein Kollege an der Universität zu Köln, mit Studierenden einen Twitter-Roboter (@AvHChrono) entwickelt, der täglich meldete, wo sich Humboldt vor über 200 Jahren aufhielt, was er erlebt und geschrieben hat, erzählt Tobias Kraft. So weit hergeholt scheint das nicht. Ginge Humboldt heute auf Expedition, würde er sicher ein Online-Tagebuch führen.

Die Chronologie der Reisen, die in den erst später gebundenen Tagebüchern immer wieder durch Vor- und Rückgriffe, eingefügte Essays und seitenlange Exkurse durchbrochen ist, versucht die gedruckte Version der edition humboldt jetzt zu rekonstruieren. Auch wegen der besseren Lesbarkeit. Was dabei inhaltlich verloren geht, wird markiert und kann im Internet nachgelesen werden. So greifen Print- und Online-Ausgabe sinnvoll ineinander.

Die Aura der Artefakte

Was aber weder Druck- noch Digitalversion verströmen könnten, sei die Aura, die die Artefakte umgeben. „Die originalen Handschriften und Zeichnungen zu sehen, ist faszinierend. Als die Kiste aufgeschraubt wurde und die in Leder gebundenen Tagebücher zum Vorschein kamen – das war schon sehr besonders“, erinnert sich Ottmar Ette. Der Romanist, der das Denken und Schreiben Humboldts als „Wissenschaft aus der Bewegung heraus“ begreift, wünscht sich, dass die Amerikanischen Reisetagebücher selbst einmal auf Reisen gehen, zurück an den Ursprung ihrer Entstehung, zum Beispiel nach Mexiko. Derzeit liegen sie hochsicher verschlossen in der Berliner Staatsbibliothek und ein kleinerer, nicht gebundener Teil in Krakau. Aber vielleicht finden sie ja schon bald eine Heimstatt im neuen Humboldt Forum in Berlins Mitte, zu dessen „kommunikativem Zentrum“ sie der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, bereits erklärte. Glücklicherweise seien sie inzwischen vollständig digitalisiert, was den Druck vom Original nehme, so Ette. Als digitale Faksimiles stehen sie der weltweiten Forschergemeinde auf den Seiten der Staatsbibliothek zur freien Verfügung.

Seit fast 20 Jahren „Humboldt im Netz“

Wie kaum ein anderer nutzte der Potsdamer Romanist schon lange zuvor die uneingeschränkten Möglichkeiten des akademischen Diskurses im Internet. 2000 begründete Ottmar Ette die digitale Fachzeitschrift „HiN – Alexander von Humboldt im Netz“ und bewies damit viel Mut zum Risiko. Als Low-Budget-Projekt gestartet, erschien sie zunächst in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, später mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Viersprachig – in Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch – publiziert sie zweimal jährlich neueste Erkenntnisse aus der Humboldt-Forschung. „Ein Vorteil insbesondere für unsere Kollegen in Lateinamerika, die auf diese Weise jederzeit kostenlos auf aktuelles Material zugreifen können“, erklärt Ette. Bislang zählt die Redaktion mehr als 20.000 bis 30.000 Downloads pro Nummer. Stück für Stück modernisiert, wurde die Zeitschrift immer aufwendiger und professioneller. „Sie spiegelt nicht nur die Entwicklung der Humboldt-Forschung wider, sondern auch die Geschichte der Digitalisierung“, sagt Tobias Kraft, der mit der Arbeit an der Zeitschrift in das Thema „hineingewachsen“ ist und über die Jahre etliche Neuerungen durchgesetzt hat. Das genutzte Open Journal Systems ermöglicht nicht nur die gewünschte Mehrsprachigkeit und die Einspeisung von Metadaten, sondern auch ein webbasiertes Redaktionssystem. Jeder Artikel durchläuft einen dreistufigen Reviewprozess, erklärt Tobias Kraft. Und auch das Layout habe sich verändert, sei lesefreundlicher und übersichtlicher geworden.

Digitale Zeitschrift geht in den Druck

Wenn Ottmar Ette sich im Spiegel der Publikation betrachtet, versetzt ihn das noch immer in Staunen: Wie es ihnen gelang, Beiträge aus aller Welt zu versammeln und ein internationales Autorenteam aufzubauen mit einer „unendlich kleinen“ Redaktion, die bisweilen nur aus zwei Personen bestand. Aktuell erscheint die 37. Ausgabe. Diesmal aber nicht nur digital, sondern auch als gedrucktes Heft. 100 Seiten zum Anfassen, Blättern, Studieren, Betrachten. Fast 20 Jahre nach ihrer Gründung geht die Online-Zeitschrift jetzt den umgekehrten Weg: aus dem Netz in den Druck. Ein Geschenk zum Humboldtjahr 2019. Dank einer Förderung des Präsidenten der Universität konnten die digitalen Daten in Print-Versionen übersetzt werden – eine Sammlung von 35 Bänden, herausgegeben vom Potsdamer Universitätsverlag. „Die Leute sind überrascht und freuen sich, das aus dem Internet Bekannte plötzlich in den Händen zu halten“, beschreibt Ottmar Ette die Reaktionen und präsentiert stolz den umfänglichen Schuber. So sehr er die Vorzüge des digitalen Periodikums auch schätze, die konzentrierte Lektüre eines Buches, die Versenkung in den gedruckten Text sei durch nichts zu ersetzen.

HiN – INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR HUMBOLDT-STUDIEN

HiN ist eine internationale Open-Access-Zeitschrift und veröffentlicht seit 2000 kontinuierlich aktuelle Forschung zu Alexander von Humboldt in Deutsch, Englisch, Spanisch und Französisch. Das halbjährlich erscheinende, digitale Periodikum ist eine Publikation der Universität Potsdam und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2018 erscheint die Zeitschrift sowohl online als auch gedruckt (ISSN online 1617-5239, print 2568-3543).

„ALEXANDER VON HUMBOLDT AUF REISEN – WISSENSCHAFT AUS DER BEWEGUNG“

Das Projekt der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften umfasst die vollständige Edition der Manuskripte Alexander von Humboldts zum Themenkomplex Reisen. Im Zentrum stehen die Manuskripte der Amerikanischen und der Russisch-Sibirischen Reisetagebücher. Ihre Edition wird elf Bände umfassen, die im Sinne eines Hybrid-Projektes sowohl als Printausgaben als auch als digitale Edition veröffentlicht werden. Darüber hinaus werden umfangreiche Materialien aus dem Humboldt-Nachlass an der Staatsbibliothek zu Berlin – PK und der Biblioteka Jagiellońska in Krakau inhaltlich erschlossen und nach Themenschwerpunkten ediert. Das Forschungs- und Editionsvorhaben erfüllt seine Aufgaben in Kooperation mit der Universität Potsdam, der Staatsbibliothek zu Berlin – PK, der Technischen Universität Berlin und anderen Forschungseinrichtungen in der Region Berlin-Brandenburg.
Beginn: Januar 2015 (geplante Laufzeit: 18 Jahre)

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Ottmar Ette leitet das Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. An der Universität Potsdam ist er Professor für französisch- und spanischsprachige Literaturen.
etteuni-potsdamde

Dr. Tobias Kraft studierte Romanistik, Germanistik und Medienwissenschaft an den Universitäten Bonn und Potsdam, wo er auch promovierte. Seit 2015 ist er Arbeitsstellenleiter im Akademienvorhaben „Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
kraftbbawde

Text: Antje Horn-Conrad
Online gestellt: Marieke Bäumer
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde