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Wie Gewalt eskaliert – Eine Forschungsgruppe hat die Geschehnisse rund um den G20-Gipfel in Hamburg analysiert

Der G20-Gipfel in Hamburg im Sommer 2017 war geprägt von Konflikten und Gewalt zwischen Demonstrierenden und Polizei. Eine Forschungsgruppe hat analysiert, wie es zu diesem Ausmaß an Gewalt kommen konnte. Foto: pixabay_Tama66.
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Der G20-Gipfel in Hamburg im Sommer 2017 war geprägt von Konflikten und Gewalt zwischen Demonstrierenden und Polizei. Eine Forschungsgruppe hat analysiert, wie es zu diesem Ausmaß an Gewalt kommen konnte. Foto: pixabay_Tama66.

Es ist der 6. Juli 2017. Am nächsten Tag soll der G20-Gipfel in Hamburg beginnen. Doch er steht unter keinem guten Stern. Es gibt bereits zu diesem Zeitpunkt starke Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden, zunächst insbesondere wegen der Camps für die Übernachtung der angereisten Gipfelgegner, die aufgebaut und trotz anfänglicher Genehmigung von der Polizei wieder geräumt werden. Aber jetzt scheint eine neue Stufe der Konfrontation erreicht. Die Polizei hat die Demonstration „Welcome to Hell“ mit hohem Einsatz aufgelöst. Später am Abend liefern sich Ordnungshüter und Protestierende noch teils massive Auseinandersetzungen im Schanzenviertel. Es ist die entscheidende Zäsur in einer langen, schwierigen Woche, die Hamburg erlebt. Denn die nächsten Tage werden nicht friedlicher. In einem Forschungsprojekt haben über 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Einrichtungen, darunter der Universität Potsdam, analysiert, wie es zu diesem Ausmaß an Gewalt kommen konnte. Die Koordination lag beim Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), dem Zentrum Technik und Gesellschaft sowie dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung der TU Berlin.

„Das Projekt haben wir vor allem deshalb durchgeführt, weil wir eine sehr undifferenzierte Aufarbeitung des Geschehens beobachteten“, erklärt Felix Lang, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Allgemeine Soziologie der Uni Potsdam. Die bundesweite Arbeitsgruppe rekonstruierte die Ereignisse jener Woche bis ins Detail, zuzüglich der Tage davor und danach. Dabei konzentrierte sie sich auf drei wichtige Ebenen: die Ausgangslage, Schlüsselsituationen, die als Weichensteller dienten, und die mediale Begleitung des Geschehens. Lang und zwei weitere Potsdamer brachten sich speziell bei der Analyse des Mediendiskurses ein und widmeten sich intensiv dem Kurznachrichtendienst Twitter. Er war in den Tagen des Gipfels stark genutzt worden. Das Uni-Team wertete insgesamt über 700.000 Tweets – von der Polizei, den Medien, den Protestierenden – aus der Zeit vom 28. Juni bis zum 13. Juli aus. Im Ergebnis stand fest: Die Eskalation der Gewalt ging mit einer diskursiven Eskalation einher. Identifiziert wurden zwei voneinander abweichende Feindbilder und eine thematische Zuspitzung auf Gewalt.
„Es gab Kommunikationswege mit sehr unterschiedlichen Deutungen von Gewalt“, so Lang im Rückblick. „Der besonderen Form der Social Media ist es geschuldet, dass sich die diskursive Aufarbeitung der konkreten Aktionen zeitlich und räumlich von den tatsächlichen Vorgängen auf der Straße kaum noch trennen lässt. Die Tweets wurden vor Ort ins Netz gegeben, dort ausgehandelt und flossen an die Akteure zurück.“ Allerdings sei das, was im digitalen Raum passiere, auch in diesem Fall deutlich verzerrt. „Es ging um Deutungshoheit. Die Akteure beteiligten sich am medialen Kampf entsprechend ihrer Auslegung der Situation.“ Ein fruchtbarer Boden, um Legitimationsressourcen zu erzeugen und zu vermitteln, die Gewalt als soziales Handeln ermöglicht, wie die Wissenschaftler herausfanden.
Die Daten für die Analyse der Twitter-Kommunikation wurden mit einer Twitter-Streaming API erhoben. Dabei handelt es sich um ein von dem Internet-Unternehmen zur Verfügung gestelltes Tool, das die Speicherung von Nachrichten in Echtzeit nach eigenen Parametern erlaubt. Das Filtern erfolgte im konkreten Fall nach zwei Kriterien: dem Schlagwort G20 und Deutsch als verwendeter Sprache. Die Texte wurden danach fünf Episoden – Zeiträumen – zugeordnet. Für jeden dieser Abschnitte führten die Forschenden eine Netzwerkanalyse durch. Dabei nutzten sie spezielle Programme, „R“ und „Gephi“. Außerdem erfolgte eine quantitative Textanalyse.
Die Potsdamer Soziologen erstellten die Netzwerke auf der Grundlage von Re-Tweets. So konnten sie die Wege identifizieren, die die Beschreibungen und Bewertungen der Ereignisse genommen hatten. Auch die Twitter-Accounts, die als Knotenpunkte der Netzwerke fungierten, stellte man auf diese Weise fest. Zudem wurden Netzwerke auf der Basis von Mentions, also der Bezugnahme auf andere Twitter-Konten, nachvollzogen. Ziel war es, Akteure im Diskurs zu erkennen, auf die sich andere in ihren Beschreibungen bezogen und die eine besonders große Deutungsmacht erlangten.
Ein Vorgehen, das sich als äußerst erfolgreich erwies. Beim Vergleich des Beginns und des Endes des Twitter-Diskurses beobachtete die Gruppe eine Verschiebung in dessen Gesamtverlauf. Während anfangs Wörter, die auf politische Inhalte deuten – etwa „Klimaschutz“, „Protestcamp“ oder „Versammlungsrecht“ – häufig vorkamen, waren es am Schluss eher Begriffe wie „Gewalt“, „Krawall“ oder „Block“. Aus dem „Gegner“ G20 waren die „Gegner“ Polizei beziehungsweise „Protestierende“ geworden. Es gab zwei voneinander getrennte Feinbildkonstruktionen. Das machen auch die beiden Cluster, die die Wissenschaftler zur Episode „Eskalation“ bildeten, deutlich. Im die Polizei unterstützenden Netzwerk geht es um „linksextrem(e)“ „Gewalt“, „Kollegen“, „Chaoten“, „Terror“, im sich mit den Demonstrierenden solidarisierenden Netzwerk statt um „Chaoten“ eher um „Demonstranten“, aber auch um den „Entz(ug) von „Akkreditier(ungen)“ und mehr. „Es zeigen sich klare Unterschiede in der Semantik und Wortwahl, die auf unterschiedliche Deutungen der Geschehnisse hinweisen“, fasst Lang zusammen.
Die Netzwerkanalyse habe gezeigt, dass die zunächst homogene Diskursarena Twitter nach und nach in zwei voneinander getrennte Netzwerke zerfiel. „Man bezog sich immer weniger aufeinander.“ Die Twitternutzer hatten sich in sogenannten digitalen Echokammern eingerichtet, mit jeweils eigenem Blick auf die Ereignisse. Die inhaltliche Auswertung der Tweets brachte außerdem zutage: Die Polizei hat erheblich zur diskursiven Eskalation der Gewalt beigetragen. „So war sie schon während der Ausschreitungen selbst darum bemüht, aktuelle Verletztenzahlen unter ihren Kollegen zu melden, was zu Solidarisierungseffekten in Form von noch mehr Gewalt führte.“
Die Untersuchungen auf allen drei Ebenen des Projekts machen deutlich, dass die wachsende Gewalt auf Hamburgs Straßen während des G20-Gipfels nicht in erster Linie auf vorhandene Motive und lang gehegte strategische Pläne der Beteiligten zurückzuführen ist. Im Gegenteil: „Sie ging“, so Lang, „aus dynamischen Prozessen der Eskalation und der Verflechtung von Handlungen verschiedener Akteure, auch auf der diskursiven Ebene, hervor.“
Die Gewalt von Hamburg war für die deutsche Gegenwart ungewöhnlich, aber für einen transnationalen Gipfel nicht herausragend, betont das 21-köpfige Team in seinem Bericht. Auch die Vorgehensweisen der Akteure seien nicht neu gewesen. Dennoch habe es schwere Fehler gegeben. So seien die einst vom Bundesverfassungsgericht festgelegten Leitlinien für Situationen wie die in der Hansestadt ungenügend beachtet worden. Sie besagen, dass die Polizei zur Zusammenarbeit mit den Protestorganisatoren verpflichtet ist und Demonstrierende differenziert behandelt werden müssen. „Diese Gebote dürfen nicht hintergangen werden“, betont Lang. „In Hamburg ist das zum Teil passiert.“  

Text: Petra Görlich
Online gestellt: Marieke Bäumer
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde